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Sterben wollen dürfen – und können

Das Bundesverfassungsgericht urteilt zur Sterbehilfe. Die Kirchen reagieren entsetzt. Ein Kommentar.

Es sind Anfang und Ende des Lebens, über deren Gestaltbarkeit viel gestritten wird. Nun ging es zur Abwechslung einmal nicht um den Anfang, sondern um das Ende des Lebens. Dessen selbstbestimmte Gestaltung sehen die Leitungen der evangelischen Kirchen in Deutschland äußerst kritisch. Vergangene Woche hat das Bundesverfassungsgericht mit einem Urteil das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§217 StGB vom 3.12.2015) für verfassungswidrig erklärt.

In den Leitsätzen zum Urteil stellt das Gericht ein verfassungsmäßig garantiertes „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ fest, das die Freiheit einschließt, „sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen.“ Dabei entscheidet allein die sterbewillige Person nach ihren eigenen Kriterien selbstbestimmt über ihren Tod.

Die Stellungnahmen von Kirche und Diakonie kamen prompt. Deren Tenor ist wenig überraschend – die Ablehnung war nachgerade vorhersagbar, hat der Fall doch eine Vorgeschichte. Mit Blick auf die Debatte, die zum nun gekippten §217 StGB führt, hat Friedrich Wilhelm Graf 2015 im Merkur einen Artikel zur Sache unter dem Titel „Apodiktische Ethik mit Lügen“ platziert. In seinem Aufsatz rechnet er mit den Kirchen ab, die sich dem Schutz des Lebens verschrieben haben.

Legitimer Lobbyismus der Kirchen

Deren Kampf gegen ein selbstbestimmtes Sterben durch die Inanspruchnahme eines assistierten Suizids sieht Graf – anders als den anderer Akteure – erschwerten Bedingungen ausgesetzt: Die Vertreter*innen der Kirche sehen sich nämlich vor die Aufgabe gestellt, „ihre Argumente als eine genuin christliche Einsicht [zu] entfalten, also irgendwie theologisch [zu] legitimieren“. Graf zufolge gibt es aber kaum biblische Anhaltspunkte, die dazu zwingen, eine solche Position einzunehmen.

Bei aller Zustimmung, die man Graf und seiner durchaus polemisierenden Art entgegenbringen möchte, ist aber Folgendes zu bedenken: Graf unterstellt mit Blick auf eine (wenn auch von katholischer Seite) proklamierte kirchliche „Kompromisslosigkeit“ eine „Demokratieunfähigkeit“ und hält der kirchlichen Ablehnung selbstbestimmten Sterbens Zustimmungswerte in der Bevölkerung von 75% entgegen. Kirchliche Lobbyarbeit folgt aber nicht der Logik demokratischer Willensbildung, sondern ist ein wenig komplexer strukturiert.

Man kann den Kirchen nicht vorwerfen, sich in der Meinung nicht der Mehrheit zu fügen, noch kann man ihren Vertreter*innen vorwerfen, unnachgiebig als Lobbyist*innen für eine Sache zu werben – wohl aber kann der Vorwurf laut werden, dass hinsichtlich der Frage nach dem Sterben eine Blickverengung vorliegt, die dem Anschein nach durch einen doktrinären Lebensschutz bewirkt wird.

Schwache Argumente für ein Verbot der Suizidassistenz

Führen wir uns nochmals vor Augen, wie der Sachstand aussieht: Die Entscheidung vom 26. Februar 2020 hat nicht die Suizidassistenz als solche erst legalisiert, sondern das Verbot aufgehoben, dieser geschäftsmäßig nachzugehen – auch vor der Entscheidung des Gerichts war die Suizidassistenz theoretisch möglich. Nur konnte man damit rechnen, dass es sich um Ausnahmefälle handeln wird, in denen sie zur Anwendung kommt.

In ökumenischer Eintracht haben EKD und Bischofskonferenz verlautbaren lassen: „Wir befürchten, dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen kann, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen.“ Dieses Argument und jenes, nachdem sich „an der Weise des Umgangs mit Krankheit und Tod […] grundlegende Fragen unseres Menschseins und des ethischen Fundaments unserer Gesellschaft [entscheiden]“, führen die EKD und die DBK an, um ihrer Ablehnung einer geschäftsmäßig organisierten Suizidassistenz in Deutschland Ausdruck zu verleihen.

Das erste Argument könnte für ein vorzeitiges K.O. genügen, wenn man denn diesem Narrativ folgt, das den § 217 StGB mit begründet hat. Das Bundesverfassungsgericht greift dieses Argument in seinem Urteil auf (Rn. 277) und stellt dazu fest, dass das „Recht auf Selbstbestimmung“ von größerem Gewicht ist als der Wille, das Leben eines Menschen zu schützen, das sozialpolitischen oder medizinischen Widrigkeiten ausgesetzt ist. Das Gericht spricht von einem „unwiderleglichen Generalverdacht“, wenn einem Entschluss zum Suizid „mangelnde[] Freiheit und Reflexion unterstellt“ werden (Rn. 279).

Das zweite Argument ist von ähnlich schwacher Durchschlagskraft, zudem kann es auch von denen in Anspruch genommen werden, die die faktische Möglichkeit des assistierten Suizids befürworten. Respektieren wir die Würde des einzelnen Menschen, indem wir dessen Entschlüsse akzeptieren oder indem wir wissen, was er eigentlich wollen sollte? Das Theologische der Argumentation von EKD und DBK beschränkt sich auf die Bekräftigung der Geschöpflichkeit des Menschen sowie der Verantwortung, die der Mensch mit seinem Leben vor Gott habe.

Beides schließt theologisch aber an keiner Stelle aus, dass es in der Gesellschaft ein geschäftsmäßig organisiertes Angebot der Suizidassistenz geben kann, das als weitere Option neben die palliativmedizinische und hospizliche Versorgung tritt, für die EKD und DBK werben. Es schließt nicht mal aus, dass die Kirchen sich seelsorgerlich-begleitend an solchen Angeboten beteiligen.

Die Doktrin, dass Leben um jeden Preis geschützt werden muss – oder besser: um fast jeden, denn in Ausnahmefällen war ja Suizidassistenz grundsätzlich möglich und über Ausnahmefälle scheint man ja reden zu können –, ist deswegen problematisch, weil Schutz mit Erhalt gleichgesetzt wird. Zum Leben gehört auch, dass man schließlich aus dem Leben scheidet. Das löbliche kirchliche Engagement für Palliativmedizin und Hospizarbeit macht dies deutlich und findet im Motto der diesjährigen „Woche für das Leben“ Ausdruck, das „Leben im Sterben“ lautet.

Die starre Ablehnung des selbstbestimmten Todes im Leben eines Menschen und der Möglichkeit, diesen durch geschäftsmäßig organisierte Hilfe Dritter zu verwirklichen, mutet dagegen mitunter skurril an. Geht es nun darum, dass der Mensch um jeden Preis am Leben bleibt? Nein, der Tod ist erwartet und akzeptiert. Geht es stattdessen darum, dass der Mensch natürlich sterben soll? Auch das muss verneint werden, wenn die palliativmedizinische Versorgung und eine weitreichende Schmerztherapie befürwortet werden.

Aber worum geht es dann, wenn das Sterben durchaus von Dritten mitgestaltet werden darf, was im Idealfall auch einer Selbstbestimmung des Menschen entspricht? EKD, DBK und der Diakonie in Person ihres Präsidenten Ulrich Lilie geht es meines Erachtens um etwas ganz anderes, das auch die – wenn überhaupt nur mittelbare – Theologizität ihrer Argumentationen erklärt.

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Wenn betont wird, dass niemand sich zum Suizid gedrängt fühlen (können) soll, dann handelt es sich zunächst um eine Kritik an den Unzulänglichkeiten familiärer und gesellschaftlicher Beziehungsgefüge sowie an der kapitalismusinduzierten Angst vor ökonomischem Ungemach mit allen erdenklichen negativen Folgen für die wahrgenommene Qualität des eigenen Lebens. Aus ihr aber die Konsequenz zu ziehen, die Selbstbestimmung des Menschen einzuschränken, wie es in den Statements der Kirchen und des Diakonie-Präsidenten geschieht, schafft keine Abhilfe, sondern erhöht im Gegenteil die Zahl der Opfer der totalen Ökonomisierung des Lebens.

Zudem: Wenn man ernsthaft der Auffassung ist, dass soziale Dysfunktionalitäten auf familiärer oder gesellschaftlicher Ebene durch das Strafgesetzbuch so durchschlagskräftig wegreguliert werden können, dass diese vermutlich wenigen Fälle unfreiwillig freiwilliger Suizide damit verhindert werden und man dafür in Kauf nimmt, dass Menschen die Möglichkeit des selbstbestimmten, assistierten Suizids faktisch genommen wird, dann denkt man groß vom Gesetz, aber klein vom Menschen. Aber so wird unter denen, die die Suizidassistenz ablehnen, kaum jemand denken.

Welche Rolle will die Kirche spielen?

Noch ein ganz anderes Problem wird in der Ablehnung offenbar: Zynisch könnte man unterstellen, dass sich die Kirche, die im Leben der Menschen immer weniger Platz findet, nun auch aus dem Sterben herausgedrängt sieht. Anzuerkennen, dass es legitim ist, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, bedeutet nicht, dass Suizidpräventionsarbeit aufgegeben werden muss.

Es wird viel unterstellt, aber immer nur das, was der eigenen, kirchlichen Argumentation zuträglich ist. Dass auch unter Christen ganz anders gedacht werden könnte, erscheint in diesem Zusammenhang als Denkunmöglichkeit. Um zu erkennen, dass eine Akzeptanz dieses Weges aus dem Leben zu scheiden, Menschen durchaus helfen kann, könnte man das Hauptargument der Kirchen testweise auch umdrehen: Wie viele Menschen haben sich einen selbstbestimmten Tod und die Möglichkeit von Suizidassistenz gewünscht, haben aber aus Scham, weil sie um die Ablehnung und die Nichtnormalität wussten, diesen Wunsch sich nicht zu thematisieren getraut?

Der Theologe Peter Dabrock hat im Interview mit der Süddeutschen Zeitung gefordert, dass „es eine Balance aus der Freiheit, in letzter Konsequenz den Tod wählen zu können, und dem Schutz des Lebens“ braucht, die er in der bisherigen Regelung offenbar verwirklicht sah. Da diese Regelung aber zum Nachteil derer war, die Suizidassistenz in Anspruch nehmen wollten, handelte es sich um eine recht eigenwillige Balance, die den „Schutz des Lebens“ schwerer wiegen ließ.

Dabrocks titelgenerierende Aussage, „[d]er Lebensschutz wiegt nichts“, suggeriert, dass mit Aufgabe des §217 StGB alle Dämme brechen. Dass das Leben nun vollkommen der Selbstbestimmung des Menschen anheimgestellt ist, und dieser Mensch mit dieser Freiheit eventuell nicht so richtig umgehen könnte. Mithin, dass er vor sich selbst nicht mehr geschützt ist. Selbst wenn der assistierte Suizid so verfügbar wird wie ein verschreibungspflichtiges Medikament, werden die Menschen nicht leichtfertig eine ultimative Entscheidung fällen und im Affekt den dann vermutlich immer noch bürokratischen Weg zum assistierten Suizid einschlagen.

Jenseits der Frage nach der Ablehnungsbegründung tritt eine neue Herausforderung auf den Plan: Die bisherige Praxis, die assistierte Suizide weitgehend verunmöglichte, hat die Kirchen umfassend davor geschützt, im großen Stil Stellung beziehen zu müssen, wenn es um das selbstbestimmte Sterben geht.

In einem ZEIT-Interview im Jahre 2014 hatte der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider seiner an Krebs erkrankten Frau Unterstützung zugesichert, für den Fall, dass sie Sterbehilfe in Anspruch nehmen will – trotz seiner Ablehnung. Ausnahmen an den Rändern, im Privaten sind also denkbar und decken sich mit der kirchlichen Akzeptanz des nun gekippten §217.

Die Frage ist:Würde die Kirche eine seelsorgerliche Begleitung eines assistierten Suizids ablehnen, wenn diese von Menschen nachgefragt würde?Und falls ja: Wie wollte sie dies begründen? Wenn das Ergebnis der apodiktischen Ethik (F.W. Graf) theologisch für die kirchliche Praxis auf „richtige“ Füße gestellt werden muss, dürfte der Punkt erreicht sein, an dem es auch theologisch spannend wird.