Evangelischer Streit um Abtreibung: Offene Fragen

Der Rat der EKD und führende EthikerInnen haben Vorschläge für eine gesetzliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vorgelegt und theologisch begründet. Wie sind sie zu verstehen – und welche Fragen bleiben offen?

In der Diskussion um die geplante Abschaffung des §218 StGB hat sich die EKD mit einer Stellungnahme zu Wort gemeldet. Erste Empfängerin der Stellungnahme ist eine Kommission der Bundesregierung, die bis zum nächsten Frühjahr untersuchen soll, ob und wie der Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch herausgelöst werden kann (s. Themenschwerpunkt hier in der Eule).

Das EKD-Statement hat seit seiner Veröffentlichung (PDF) durchaus Resonanz erfahren, zumeist aber negative Reaktionen ausgelöst: Der Text enthalte zu wenig theologische Argumentation, außerdem sei es bedenklich, dass die Einigkeit in diesen Fragen mit der römisch-katholischen Kirche aufgekündigt würde. Um den Hintergrund der EKD-Stellungnahme zu erklären und die theologischen Argumente etwas präziser zu fassen, haben vier ausgewiesene ExpertInnen in theologisch-ethischen Fragen einen gemeinsamen Artikel verfasst und in den zeitzeichen veröffentlicht. Im Folgenden sollen die wesentlichen Punkte des durchaus dichten Textes von Reiner Anselm, Petra Bahr, Peter Dabrock und Stefan Schaede kurz skizziert werden.

Die Menschen als Beziehungswesen

Die Fluchtlinie, die den ganzen Text strukturiert, ist die Einsicht, dass menschliches Leben, oder präziser gefasst, das Leben eines Menschen, immer in Beziehungen verfasst ist. Niemand verdankt sein Leben sich selbst und niemand lebt für sich allein. Diese eher trivial wirkende Einsicht ist alles andere als folgenlos: Viele unserer Vorstellungen von Individualität und Selbst greifen zu kurz, wenn wir nicht in Betracht ziehen, dass sie in einem sozialen Netz eingebunden und verfasst sind.

Anselm et al. setzen dementsprechend beim Begriff des Lebens ein. Sie führen aus:

„Eine Diskussion, die den Schutz des Lebens verkürzend über die Pönalisierung der Schwangeren erreichen möchte und nicht im Sinne einer sozialethischen Herangehensweise die Frage der gesellschaftlichen Solidarität und damit die gesellschaftliche Verantwortung in den Mittelpunkt stellt, unterläuft eindeutig diesen anspruchsvollen, die biblische Botschaft maßgeblich prägenden Anspruch an den Schutz des Lebens.“

Die maßgebliche Vorstellung des Lebens in biblischer Perspektive ist eine, die den Menschen als Beziehungswesen denkt. Diese Beziehung ist sowohl als Beziehung zu Gott zu denken, als auch zwischen den Menschen untereinander. Daraus folgt in sozialethischer Perspektive für das Problem des Schwangerschaftsabbruchs, dass die Verantwortung für den Schutz des Lebens nicht einfach und abschließend allein auf die werdende Mutter übertragen werden kann.

Staat und Gesellschaft sind vielmehr aufgerufen, dem Schutz des Lebens gerecht zu werden. Dazu sollten sie sich nicht – quasi negativ – per Strafrecht in die Entscheidung über den Abbruch einer Schwangerschaft einschalten, sondern sind dafür verantwortlich, dass die werdende Mutter Verantwortung für ihr Kind übernehmen kann. Dies erscheint sowohl den Verfasser*innen des Textes als auch dem Rat der EKD noch nicht in ausreichendem Maße gegeben zu sein.

Die Argumentation der AutorInnen mittels des Beziehungsbegriffs bleibt bei der Klärung, was unter „Leben“ zu verstehen ist, nicht stehen: Auch der Begriff der Selbstbestimmung wird so konturiert, dass sich das autonome Selbst immer in Beziehung zu anderen verstehen muss. So verstanden ist die Selbstbestimmung der Schwangeren immer auch von Rahmenbedingungen abhängig für die diese schlechterdings überhaupt nichts kann. Diese Rahmenbedingungen umfassen sowohl die Nahbeziehungen in eventueller Partnerschaft und Familie als auch die gesellschaftlichen Möglichkeiten, die eine wie auch immer geartete Entscheidung über die Fortsetzung der Schwangerschaft bedingen.

Die Schwangere: Eine Lebensform eigener Art

Aber auch die Situation der Schwangeren selbst wird über den Beziehungsbegriff näher bestimmt: Es ist offensichtlich, dass sich die Schwangere und der Fötus in einer Beziehung befinden, die sich nicht einfach an andere Personen übertragen lässt. Die AutorInnen wählen dafür den Begriff Lebensform sui generis, eine Lebensform eigener Art. Weder lässt sich also der Embryo einfach als Körperteil der Schwangeren beschreiben noch als davon unabhängiges Subjekt. Richtigerweise wird diese Zweiheit in Beziehung gesetzt zum für die Schwangerschaft mitverantwortlichen Partner: Eine alleinige Schuldübernahme im Falle des Abbruchs durch die Mutter „widerstrebt“ wenigstens deshalb schon der Gerechtigkeit.

Der Text schließt sich damit den Empfehlungen des Rates der EKD an und stellt die Frage nach der Verantwortung um, die eine Schwangerschaft mit sich bringt. Das Strafrecht dürfe nicht das Mittel sein, die Konflikte zu lösen, die eine Schwangerschaft mit sich bringen kann. Es sei vielmehr maßgeblich, die komplexen Beziehungsformen wahrzunehmen und in Rechnung zu stellen, die eine Schwangerschaft begleiten, bedingen und eventuell auch gefährden. Erst mit der extrauterinen Lebensfähigkeit des Fötus (der Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs) sei es sinnvoll, einen strafrechtlichen Schutz, der nicht rein über die Mutter vermittelt ist, zu etablieren.

Verantwortung, die etwas kostet

Auch wenn es Anselm, Bahr, Dabrock und Schaede in ihrem Artikel gelungen ist, die fast ausschließlich juristisch argumentierende EKD-Stellungnahme im Hinblick auf den theologischen Leitbegriff des Schutz des Lebens zu unterfüttern, bleiben Fragen an die Vorschläge in der EKD-Stellungnahme zu einer Neuregelung der Schwangerschaftsabbruchs und ihre theologische Deutung im besprochenen Artikel offen.

Die zentrale Botschaft beider Beiträge ist sicherlich, dass die vorgeschlagenen Reformen der Gesetzgebung über den Schwangerschaftsabbruch eher mehr als weniger Lebensschutz als heute realisiert intendieren, eben „tatsächlichen Lebensschutz“, indem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen adressiert werden und eingefordert wird, die sozialen und wirtschaftlichen Umstände so zu verändern, dass auch zum Beispiel ungewollt schwangere Personen sich für die Fortsetzung einer Schwangerschaft entscheiden können. Daran schließt sich unmittelbar die Frage an, wie das gelingen kann, gerade vor dem Hintergrund immer geringerer Mittel für sozialpolitische Maßnahmen. Die von Anselm et al. und Rat der EKD favorisierte gesetzliche Lösung muss zwingend mit umfassenden sozialpolitischen Maßnahmen flankiert werden. Solche Maßnahmen werden – machen wir uns da nichts vor – viel Geld kosten. Denn von einer Pflichtberatung allein wird weder das Kind satt noch schafft sie Perspektiven für Frauen, bei denen die Schwangerschaft einen Eingriff in die finanzielle Autonomie darstellt.

Eine weitere wichtige Frage stellt sich bezüglich des so stark gemachten Beziehungsarguments. Anselm et al. heben darauf ab, dass gerade Schwangere und Embryo eine besondere Beziehung haben, die zutiefst asymmetrisch ist. Für den Lebensschutz sei die Mutter mit Unterstützung der Gesellschaft zuständig und nicht der Rechtsstaat mit seinem Strafrecht. Nun kennen wir jedoch noch andere Beziehungen, die von einer tiefen Asymmetrie geprägt sind, bei denen ein:e Beziehungspartner:in auf die Fürsorge und den Schutz des:der anderen angewiesen ist. Als Beispiel seien hier schwer demente Personen genannt oder auch Säuglinge. Dennoch würden wir wohl nicht auf die Idee kommen, dass diesen Personen nur über die fürsorgende Person vermittelt Schutz zukommt. Der strafrechtlich bewehrte Schutz, der abhängigen Personen zukommt, liegt darin begründet, dass sie Menschen sind. Es ist egal, inwiefern sie fähig zur autonomen Selbstbestimmung sind.

Recht, Medizin, Theologie

Anselm, Bahr, Dabrock und Schaede halten der bisherigen gesetzlichen Regelung kritisch entgegen, dass Schwangere „primär kein Objekt strafrechtlicher Betrachtungen [seien], dem von externer Seite aus der sozialen Distanz Vorschriften und Verbote aufzuerlegen sind“. Das klingt im Prinzip sehr einleuchtend. Aber: Primär ist keine Person Objekt strafrechtlicher Betrachtung. Man wird erst und nur unter einer ganz spezifischen Bedingung dazu, eben wenn man gegen Normen verstößt, die dieses Recht setzt. Ob es eine Rechtsnorm gibt oder weiterhin geben soll, die einen Embryo in einer frühen Phase der Schwangerschaft schützt und sei es – wie es derzeit der Fall ist – effektiv nur symbolisch, ist eine andere Frage.

Es ist die Frage danach, ob dem Embryo per se und für sich ein Rechtsstatus zukommt, ein Embryo mithin – auch wenn Anselm et al. das kritisch sehen – eine Würde hat. Das Bundesverfassungsgericht hat 1993 in diesem Sinne geurteilt: Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben zu schützen. Dazu zählt auch das Leben des Ungeborenen. Die Frage, ob man um dieses Urteil „herumkommt“, in dem man wie die EKD-Stellungnahme zwischen zwei Phasen der Schwangerschaft unterscheidet, bleibt auch nach dem zusätzlichen theologischen Durchgang von Anselm et al. offen.

Der gesellschaftliche und innerkirchliche Diskurs über den §218 StGB ist dringend geboten. Im Kern kann es evangelischen Christen dabei nur darum gehen, Bedingungen zu schaffen, die es einer schwangeren Person ermöglichen, das in ihr heranwachsende Kind zu gebären und groß zu ziehen. Dass wir als Gesellschaft auf diesem Feld viel Potential zur Entwicklung haben, dürfte jede:r Diskursteilnehmer:in mittlerweile hinreichend klar sein. Auch Befürworter des Status quo müssen sich also fragen lassen, was sie für einen besseren Lebensschutz zu investieren bereit sind.


Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat am 11. Oktober 2023 eine ausführliche Stellungnahme zur Abtreibungsgesetzgebung veröffentlicht (vollständiger Text als PDF). In einer Reihe von Beiträgen diskutieren verschiedene Autor:innen Aspekte der Debatte in der Eule: Carlotta Israel fragt, ob die EKD-Stellungnahme ein Schritt zu mehr reproduktiver Gerechtigkeit ist. A. Katarina Weilert fragt, für wessen Schutz sich die EKD in ihrer Stellungnahme eigentlich ausspricht. Einen Überblick über die Diskussion bieten die #LaTdH vom 22. Oktober.

Alle Eule-Artikel zum Thema Schwangerschaftsabbruch.


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