Kolumne Sektion F

Auf Diversitäts-Lücke lernen

Im Theologiestudium und -Examen sind diskriminierende Inhalte noch immer selbstverständlich. Sensibilität für Vielfalt wird als „wildes Nischenthema“ abgekanzelt.

Das erste theologische Examen ist für ausnahmslos alle Theologiestudierenden eine Zeit physischer, psychischer und spiritueller Krisen. Auf einer Examensfeier, die ich vor einer Weile besuchen durften, verglich eine Vertreterin einer Landeskirche das Examen mit den vom Religionswissenschaftler Victor Turner beschriebenen Zustand der Liminalität im Kontext von Übergangsriten.

Sie betonte dabei besonders die damit einhergehende Demütigung von Rangniederen durch Ranghöhere. Diese geschehe mit dem Ziel, in den Rangniederen ein Gefühl der Verantwortung gegenüber denen zu wecken, die wiederum unter ihnen stehen.

Mein erster Ärger bezog sich darauf, dass Victor Turner die von meiner Gesprächspartnerin suggerierte Zwangsläufigkeit dieser Demütigung in seiner Theorie gar nicht beschrieben hat, und dass sie in ihrer Sprache rassistisches und koloniales Vokabular und Framing unhinterfragt übernommen hatte.

Andererseits wurde in der Rede so immerhin das auf kirchlicher Seite vorherrschende Verständnis des theologischen Examens offenbar: Es soll Studierende demütigen, damit sie sich später ihrer Verantwortung bewusst sind, die sie gegenüber Menschen innehaben, die in der Rangordnung unter ihnen stehen.

Eine ähnliche Wertschätzung spüre ich bei der Lektüre einschlägiger Lehrbücher, die als Standardwerke für das Examen empfohlen werden. In ihnen treffe ich regelmäßig auf diskriminierende Aussagen aller Art, seien sie rassistisch, antisemitisch und antijudaistisch, islamfeindlich, ableistisch, misogyn oder queerfeindlich.

Wir als junge Generation von Theolog*innen hören oft, dass von uns die Zukunft der Kirche und der Theologie abhängt. Aber Bezüge zur Pluralität und Komplexität dieser Welt, die wir in Lehrveranstaltungen während des Studiums vielleicht noch kennenlernen, müssen wir spätestens für unsere Examensklausuren vergessen. Denn im Examen reißt man nichts mit „wilden Nischenthemen“, da gehe es schließlich um die theologische Grundbildung. Wir schauen uns mal gemeinsam an, was da so exemplarisch drunter fällt.

Falschinformationen und Ignoranz

In der „Evangelischen Sozialethik“ von Ulrich Körtner, erschienen bei utb (das sind diese roten Bücher, die Studierenden sagen: „Hallo, nimm mich, ich enthalte verständliches und verlässliches Wissen!“), steht unter der bereits heteronormativ anmutenden Überschrift „Sexualität und Paarbeziehungen. Theologisch-ethische Gesichtspunkte von Ehe, nichtehelichen und homosexuellen Lebensgemeinschaften“ folgendes:

„Zu den noch weithin blinden Flecken christlicher Sexualethik gehören die verschiedenen Erscheinungsformen von Intersexualität und Transsexualität. Handelt es sich bei intersexuellen Menschen um solche, deren biologisches Geschlecht genotypisch oder phänotypisch nicht eindeutig festgelegt ist, so bei transsexuellen Menschen um solche, die sich im falschen Körper fühlen, also zum Beispiel biologisch betrachtet (sex) männlich sind, sich aber als Frau empfinden und nicht nur ihr soziales Geschlecht (gender) neu definieren, sondern gegebenenfalls auch durch medizinische Eingriffe auch ihr körperliches Erscheinungsbild ändern möchten.“ (S. 304)

Diese „Einführung“ enthält nicht nur einen Haufen Falschinformationen, sondern auch ordentlich Trans-, Inter- und andere Queerfeindlichkeit, die schon bei den Bezeichnungen „Intersexualität und Transsexualität“ beginnt. Stattdessen richtig wäre: Intergeschlechtlichkeit und Transgeschlechtlichkeit.

Die Formulierung, dass Transpersonen sich „im falschen Körper fühlen“, wird nicht nur von Transpersonen abgelehnt, sondern ist auch schöpfungstheologisch betrachtet äußerst problematisch. Die Unterscheidung von körperlichem Sex und sozialem Gender ist schon seit Judith Butler nicht mehr aktuell. Auch die umliegenden Ausführungen zu „Homosexualität“ sind undifferenziert, veraltet und diskriminierend.

Zur Diskussion, ob für gleichgeschlechtliche Beziehungen eine „Gleichrangigkeit mit der heterosexuellen Einehe“ gelten kann, fügt der Autor ein, „dass es auch bisexuell empfindende Menschen gibt“ (S. 304). Gerade vor dem Hintergrund der bereits in der Einleitung gesetzten Binarität von Geschlechtern und der völligen Ignoranz gegenüber nicht-monogamen Beziehungsformen führt diese Feststellung in eine argumentative Sackgasse. Das Überblickswerk von Körtner ist übrigens im Jahr 2019 in einer „gründlichen Neubearbeitung“ in der 4. Auflage erschienen.

Befreit Jesus aus patriarchalen Zwängen?

Zur Vorbereitung der Prüfungen im Fach Neues Testament greifen Studierende gerne auf die umfangreiche, immerhin 739 Seiten lange „Theologie des Neuen Testaments“ von Udo Schnelle zurück. Das Buch wird ebenfalls von utb verlegt, die 3. neu bearbeitete Auflage erschien 2016. Darin heißt es unter anderem:

„Den Frauen wusste sich Jesus besonders verbunden, denn sie wurden vor allem durch das Ritualgesetz benachteiligt: Frauen waren durch Menstruation und Geburt häufig unrein, nicht kultfähig, von der Rezitation des Bekenntnisses befreit, nicht zum Torastudium zugelassen und nicht rechtsfähig. […]

Jesus kannte im Umgang mit Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell zielt die schrankenlose Liebe Gottes auch auf die religiös und sozial Deklassierten. Religionsgesetzliche Ordnungen, die im Namen Gottes diese Ausgrenzungen begründeten, wurden von Jesus übergangen. Seine Mahlgemeinschaften mit Zöllnern, Sündern und Frauen demonstrieren eindrücklich die neue Wirklichkeit des Reiches Gottes.“ (S. 95)

Als Frau fühle ich mich an dieser Stelle für plakativen Antijudaismus und Antisemitismus instrumentalisiert. Was genau „ritualgesetzliche Hemmungen“ sein sollen, erschließt sich mir nicht, aber es klingt nicht nach einem positiven Verständnis des Judentums.

Die Konstruktion eines feministischen Jesus, der Frauen aus den patriarchalen Fängen dieser Gesetzlichkeit befreit, behauptet eine Überlegenheit des Christusglaubens über dem Judentum, die historisch wie hermeneutisch nicht haltbar ist. Und tatsächlichen feministischen Anliegen nützt diese Anspielung auch nicht, vor allem aus der Sicht weiblicher, jüdischer Perspektiven der Gegenwart.

Vom „Genuss“ der Religionsfreiheit

Aber auch Muslim*innen bleiben von verzerrenden Darstellungen ihrer Religion nicht verschont. In Rochus Leonhardts Überblicksdarstellung „Ethik“ (2019), die Teil der kontinuierlichen Reihe „Lehrwerk Evangelische Theologie“ der Evangelischen Verlagsanstalt ist, geht es unter anderem um das Verhältnis des Islam zur Erklärung der allgemeinen Menschenrechte.

Leonhardt stellt beide in einen Gegensatz zueinander und fällt schließlich das Urteil, der Islam sei nicht pluralismusfähig und seine Vorschriften genügten nicht den Ansprüchen der westlichen Menschenrechte. Als Belege führt er die mangelnde religiöse Selbstbestimmung und die Abwertung von Frauen in Ländern der „islamischen Welt“ an. Zum Ende des Kapitels erlaubt er sich folgende Spitze:

„Dass in den Heimatländern von nach Deutschland eingewanderten Muslimen Religionsfreiheit nicht gewährt wird, beschränkt nicht deren Genuss der Religionsfreiheit im Geltungsbereich des Grundgesetzes, auch wenn die spezifische religiöse Prägung vieler Zuwanderer mit praktischen ‚Schwierigkeiten des Einlebens‘ verbunden ist.“ (S. 342)

Darin stecken mehrere Annahmen: 1. Muslim*innen wären nicht in Deutschland beheimatet, sondern „Zuwanderer“, 2. sie würden „auf Nacken“ der deutschen Verfassung jene Religionsfreiheit genießen, die ihre eigene Religion doch ablehne, und 3. ihre religiöse Prägung sei der Grund für mangelnde Anpassung an die deutsche, christliche/säkulare Mehrheitsgesellschaft. Diese perfide Begründung ist nicht nur islam- und muslim*innenfeindlich, sondern auch offen rassistisch.

Perspektivenarmut und Eurozentrismus

Next on: Kirchengeschichte. Für viele Studierende im Examen ist das Fach ein großer Stressfaktor, weil der zu lernende Stoff aus etwa zwei Jahrtausenden sich zu riesigen Bergen auftürmt. Schaut man genauer hin, wird die Menge zwar nicht kleiner, aber wirkt durchaus weniger umfassend.

Beim Lernstoff handelt es sich im Wesentlichen um europäische, weiße, männliche (und so weiter) Kirchengeschichte. Frauen, Person of Color, queere, behinderte, arme, nichtchristliche, ja sogar nicht-landeskirchliche Menschen, tauchen selten als handlungstreibende Subjekte auf, sondern zumeist als Objekte von Machtausübung oder Fürsorge, Opfer von Gewalt, Gegner*innen oder stützende Beziehungspersonen von tatsächlichen Akteuren.

Zu diesem Befund gelangt auch Johanna Schade bei ihren Recherchen: In einem Aufsatz in der Zeitschrift „Evangelische Theologie“ hat sie drei Lehrwerke in den Blick genommen, darunter vor allem den allseits gefürchteten „Hauschild“:

„Alle drei Werke weisen eine eurozentrische Engführung auf. Sie vermitteln in ihrem Anspruch, die relevanten Ereignisse in der Kirchengeschichte abzubilden, den Eindruck, dass ein Fokus auf europäische und deutsche Entwicklungen diesem genügen könne.“ (S. 219).

Der Blick auf die globale Christentumsgeschichte werde, so Schade, von den Autoren dabei „entweder als unpraktikabel und unnötig“ oder „als wünschenswerte, aber (noch) nicht leistbare Ergänzung […] bewertet“ (S. 219). Das sei aber insofern kein Problem, als dass Studierende trotzdem bestens auf das theologische Examen vorbereitet seien. Wie das sein kann, hat Johanna Schade anhand einer Analyse der kirchengeschichtlichen Klausurthemen dreier Landeskirchen gezeigt: „Kirchengeschichte“ meint eigentlich mehr „deutsche Kirchengeschichte und deren Vorgeschichte“ (S. 215).

Soweit ein kleiner, punktueller Einblick darin, was in einigen der Lehrbüchern steht, mit denen „die Zukunft der Kirche“ für den Dienst in Kirche und Theologie ausgebildet wird. Es gäbe noch so viel zu entdecken! Diese keineswegs randständigen, sondern vielmehr weiterverbreiteten und viel genutzten Bücher enthalten veraltete und falsche Inhalte, diskriminierende und verengte Ansichten und klammern eine ganze Menge Perspektiven aus.

Diversität ist mehr als ein „Randbereich“ der Theologie

Eine solche Perspektivenarmut und die Verbreitung von diskriminierenden Inhalten sind Probleme, die man nicht allein nur bei den Autoren dieser Bücher identifizieren kann. Der „prüfungsrelevante“ Kanon der „theologischen Grundbildung“ ist insgesamt eurozentrisch, androzentrisch und exklusiv.

Es bräuchte Verantwortungsbewusstsein von allen Beteiligten, also bei den Lehrpersonen an Fakultäten und Instituten, bei den Verantwortlichen in Prüfungsämtern an Universitäten und in den Landeskirchen und bei den Mitarbeiter*innen in Verlagen und Autor*innen der Lehrbücher, um daran wirklich etwas zu ändern. Denn das zugrundeliegende Problem ist strukturell und betrifft uns alle in unserem Denken, auch uns Studierende.

Manche Studierende entwickeln ein Problembewusstsein, weil sie im Studium die Möglichkeit hatten, kritische Lehrveranstaltungen zu besuchen, oder sich selbst mit diversitätssensiblen Inhalten auseinandergesetzt haben. Dass die Möglichkeit dazu prinzipiell gegeben ist, führt leider häufig dazu, dass Dozierende, die auf den Wunsch nach mehr Diversität von Studierendenseite treffen, die Verantwortung dafür auf die Studierenden selbst abwälzen.

Auf die Nachfrage, ob es denn möglich wäre, im Seminar auch mal einen Text von einer Frau zu lesen, habe ich oft gehört: „Gute Idee, können Sie mir vielleicht was raussuchen und zuschicken?“ oder „Würden wir ja, aber es gibt einfach keine Frau, die dazu etwas Wertvolles beigetragen hat.“ Das ist frustrierend und führt immer wieder zu einer Dynamik, in der „dieser neumodische Kram“ gegen „die richtige Theologie“ ausgespielt wird. Die kritische Reflektion über diskriminierende und exklusive Theologie sollte eigentlich ein fester Teil der theologischen Ausbildung sein.

Dozierende sollten sich bewusst sein, was eigentlich in den Büchern steht, die sie in der Lehre verwenden, und müssen diese kritisch einordnen. Auch diskriminierende Ereignisse der Theologiegeschichte oder in früherer Zeit gebräuchliche Begriffe (wie das N-Wort) dürfen nicht unkommentiert stehen gelassen werden. Der äußere Schein einer seriösen Reihe bei einem einschlägigen Verlag, eine hohe Auflagenzahl oder ein junges Erscheinungsdatum können dabei offenbar nicht als Garanten für guten Inhalt vorausgesetzt werden. Besonders bei beliebten Lehrbüchern, die häufig empfohlen und auch für nicht gerade wenig Geld von Studierenden gekauft werden, braucht es regelmäßige Aktualisierungen und Überarbeitungen.

Auch wenn es nicht (nur) unsere Verantwortung sein sollte, können auch wir Studierenden zu einer neuen Examenskultur beitragen, indem wir gezielt Inhalte aus „Randbereichen“ als Einsprechthemen wählen. Dann können Dozierende sich nicht ewig drücken. So, jetzt muss ich hier leider einen Punkt machen, mein Examen ruft mich wieder an den Schreibtisch.


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