Interview OpenDoors-Bericht über Christenverfolgung

„Verfolgt zu werden, ist kein christliches Alleinstellungsmerkmal“

Sind die Christen die „am stärksten unterdrückte Glaubensgemeinschaft“? Ein Gespräch über den schwierigen Begriff „Christenverfolgung“, die Situation bedrängter Christen und Religionsfreiheit.

Eule: Herr Haaks, was ist eigentlich Christenverfolgung?

Haaks: Das ist eine spannende Frage. Im Kontext der evangelischen Kirchen erinnere ich an den Bericht des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Wolfgang Huber vor der EKD-Synode 2008. Damals sagte er, dass wir aufmerksamer hinschauen müssen, wenn Christen aufgrund ihres Glaubens bedrängt oder verfolgt werden. Der Sonntag Reminiszere wurde 2010 als Gedenktag für bedrängte und verfolgte Christen festgelegt, bei den Katholiken hat der Stephanustag, also der 2. Weihnachtsfeiertag, eine große Bedeutung. Wir haben das damals als Gustav-Adolf-Werk aufgenommen und einen Fonds für bedrängte und verfolgte Christen aufgelegt.

Christenverfolgung als Begriff ist sehr komplex. Im Ökumenischen Bericht der EKD wird mit dem Verfolgungsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention gearbeitet. Im Grunde heißt das, man wird verfolgt, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht oder wenn man aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Religion, Ethnie oder sozialen Gruppe vom Staat nicht geschützt wird.

Wann beginnt Verfolgung? Wann sollte man eher von Bedrängung oder Bedrückung sprechen? Ich meine, die Rede von Christenverfolgung sollte letztlich für solche Situationen vorbehalten bleiben, wo wir deutlich mehr sehen als verbale Beleidigungen oder Diskriminierungen, wo Christen tatsächlich um ihr Leben oder ihre Gesundheit fürchten müssen. Wir brauchen hier wirklich die Differenzierung, um den jeweiligen Situationen auch gerecht zu werden.

Eule: Es gibt aber sehr wohl Christenverfolgung, zum Beispiel in Syrien.

Haaks: Ja, da denke ich natürlich an das Einflussgebiet des Islamischen Staats und anderer islamistischer Milizen. In Rakka gab es zum Beispiel eine, wenn auch kleine, christliche Minderheit. Nach dem Islamischen Staat haben dort nur eine Handvoll Christen überlebt.

Zum Lagebild gehört aber auch, dass mir unsere Partner aus den christlichen Kirchen in Syrien sagen, dass sie vor allem durch den Krieg bedroht sind. Das gilt für die gesamte Bevölkerung. Dort wo die Assad-Regierung herrscht, können sich Christen sicher fühlen, solange sie sich nicht politisch äußern. Es gibt in Syrien christliche Schulen und Altenheime und ein Gemeindeleben.

Eule: Es gibt also einen Unterschied zwischen Bedrängung und Verfolgung. Einen qualitativen Unterschied, wenn man so will. Mir scheint noch eine weitere Differenzierung hilfreich, nämlich ob es sich um eine Verfolgung als religiöse Minderheit handelt oder ob man unter Gewalt leidet, weil man in einem Failed state lebt, die Regierung die Kriminalität nicht in den Griff kriegt, etc.

Haaks: Das Christentum ist nach wie vor die größte Religion weltweit, natürlich aufgesplittert in unwahrscheinlich viele Konfessionen und Denominationen, die es überall auf der Welt gibt. Insofern ist es leicht zu sagen, dass die christliche Religion am meisten unter Verfolgung leidet. Aber nicht nur Christen werden wegen ihres Glaubens bedrängt und verfolgt.

In manchen Ländern wie in Myanmar oder China werden Muslime noch stärker als Christen eingeschränkt oder verfolgt. Es gibt verfolgte Buddhisten und Hindus. Hindus verfolgen wiederum Christen. Verfolgt zu werden, ist kein christliches Alleinstellungsmerkmal. Das Thema Christenverfolgung muss im Kontext der Missachtungen und Verletzungen der Religionsfreiheit und anderer Menschenrechte gesehen werden.

Eule: Es muss sich also gar nicht um Verfolgung aufgrund des Glaubens handeln?

Haaks: Nehmen wir einmal den jüngsten Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um Bergkarabach als Beispiel. Durch Vermittlung unserer evangelischen libanesischen und syrischen Partner konnte das Gustav-Adolf-Werk der evangelischen-armenischen Kirche helfen, das im Krieg beschädigte Kirchengebäude in Stepanakert zu sanieren.

An diesem Konflikt kann man gut sehen: Vordergründig scheint es um einen Religionskonflikt zwischen Muslimen und Christen zu gehen, doch dahinter liegen Machtinteressen, uralte ethnische Konflikte, das Streben nach strategischen Geländegewinnen, alte und neue Koalitionen, Konflikte aus der Sowjetzeit und am Ende die Frage der Vormachtstellung der Türkei oder Russlands in der Region.

Eule: Wenn wir die Freiheit der Religionsausübung zum Maßstab nehmen, dann berühren wir damit ja ein sehr aktuelles Thema auch in Europa, weil viele Kirchen wegen der Corona-Pandemie auf den analogen Gottesdienst verzichten. Mir scheint es zu kurz gegriffen, von einer Einschränkung der Religionsfreiheit zu sprechen, bloß weil in anderen Ländern eben keine Kathedralen stehen oder am Ortseingang mit einem Schild auf Gottesdienste hingewiesen wird.

Haaks: Ein gutes Beispiel dafür ist vielleicht Russland. Natürlich wird dort die Orthodoxe Kirche gegenüber anderen Religionen und christlichen Konfessionen bevorzugt, zuletzt durch eine Verschärfung des Religionsgesetzes. Wer nicht russisch-orthodox ist, gilt nicht als „richtiger“ Russe. Darunter leiden natürlich die anderen Konfessionen und Religionen. Trotzdem unterhält unser lutherischer Erzbischof in Moskau, Dietrich Brauer, Kontakte zur Orthodoxen Kirche und in staatliche Strukturen hinein.

Die Verschärfungen der Religionsgesetzgebung richten sich gegen islamistische Gruppen. Betroffen davon sind aber alle religiösen Minderheiten. Der Zwang zu öffentlichen Treffen betrifft zum Beispiel auch Gemeindekreise der lutherischen Kirchen, die in Privaträumen durchgeführt werden. Letztlich sehen wir Ähnliches aber auch direkt vor unserer Haustür in Dänemark, wo die Regierung vorschreiben will, dass nur noch auf Dänisch gepredigt werden soll. Das betrifft dann eben auch die deutschsprachigen Gemeinden, die eine 450-Jahre lange Tradition haben.

Eule: Diese Gesetze sollen den Islamismus bekämpfen, erwischen aber auch die Mehrheitsmuslime und andere Religionen. Auf der anderen Seite stehen vor allem muslimische Länder, in denen der Staat überhaupt keine Religionsfreiheit garantiert.

Haaks: Wir haben in einigen muslimischen Ländern, wie zum Beispiel auch in der Türkei, vor allem ein Problem mit der Konversionsfreiheit. Der Religionswechsel weg von der jeweils vorgeschriebenen islamischen Glaubensrichtung wird hart sanktioniert. Da spielen auch archaische Strukturen eine Rolle, weil zum Beispiel das Familienoberhaupt über die Religionszugehörigkeit aller Familienmitglieder bestimmt.

Wir sehen das auch bei den Geflüchteten und Migranten, die nach Deutschland kommen. Darunter sind viele Menschen, die hier regelrecht aufatmen können, weil sie ihre Religion frei wählen dürfen. Darunter sind Menschen, die sich in christlichen Kirchen taufen lassen.

Eule: Und in Europa haben sie auch die Möglichkeit, keiner Religion anzugehören.

Haaks: Ja, endlich muss ich nicht glauben müssen!

Eule: Das gehört ja für die Kirchen der Reformation unbedingt dazu. Wenn man sagt, dass der Glaube eine Gnade ist und es auch den Aspekt der freien Entscheidung zur Religion gibt, ohne die es keinen fröhlichen Christenglauben gibt, dann gehört dazu unmittelbar die Freiheit vom Zwang.

Haaks: Genau. Wir lernen immer mehr, dass zur Religionsfreiheit eben auch die Meinungsfreiheit gehört. Beide können auch in Konflikt zueinander geraten. Erzbischof Brauer würde natürlich nicht hingehen und Putin kritisieren. Insofern sind die Kirchen in Russland natürlich nicht so „frei“ wie in Deutschland. Trotzdem wäre es fast schon lächerlich, wenn man behauptet, dass alle Christen in Russland verfolgt würden – allerdings haben sie es deutlich schwerer als die Mehrheitskirche.

Eule: Wir haben es ja im Falle Deutschlands mit einem demokratischen Rechtsstaat zu tun, in dem es ein Neutralitätsgebot gegenüber den Religionsgemeinschaften gibt. Gleichzeitig fordern Christen, dass die Bundesregierung sich für den Schutz von Christen in anderen Ländern einsetzt.

Haaks: Das darf sie so einseitig jedenfalls nicht. Deutschland engagiert sich aber sehr wohl gegen die Einschränkung der Religionsfreiheit und gegen Menschenrechtsverletzungen. Denn dort wo die Religionsfreiheit beschnitten wird, da werden auch andere Menschenrechte eingeschränkt, z.B. Bildungsrechte. Ich glaube, die Bundesregierungen haben in den vergangenen Jahren verstanden, dass Religions- und Glaubensfreiheit im Zentrum dieses Engagements stehen müssen.

Eule: Hat die zunehmend religiös „unmusikalische“ Gesellschaft in Europa zu lange weggeschaut?

Haaks: Das kann man so sagen, ja. Wir sind alle erschüttert über den religiösen Fundamentalismus, der aber auch jahrelang ignoriert wurde. Den Fundamentalismus gibt es übrigens nicht allein im Islam, sondern auch im Christentum, im Hinduismus etc.

Eule: Liegt in dieser „religiösen Unmusikalität“ auch begründet, dass man die Gewalt von Islamisten und islamistischen Regimen gegenüber religiösen Minderheiten so vorsichtig thematisiert. Mein Eindruck ist der, dass man das Thema fast vollständig den Evangelikalen überlässt.

Haaks: Wie wir sehen, ist das Thema wahnsinnig komplex und verlangt eine gründliche Differenzierung. Das große Problem der Debatte ist die Vereinfachung. Im Falle des „Weltverfolgungsindex“ von OpenDoors stört mich zum Beispiel die Engführung auf ganze Staaten.

Es stimmt einfach nicht, dass Christen in ganz Syrien verfolgt werden. Sie sind aufgrund der wirtschaftlichen und der fehlenden Lebensperspektiven auch dort bedrängt, wo sie keiner Gewalt durch Islamisten ausgesetzt sind, das stimmt. Aber das Bild ist eben komplex. So ist es auch in Kasachstan, Kirgistan oder in Kolumbien.

Eule: Es stimmt auch nicht in Nigeria, wo wir gleichzeitig zu Verfolgungen und Bedrängungen von Christen eine sehr aktive christliche Rechte haben, die aus den USA unterstützt wird und z.B. gegen Frauenkliniken Front macht.

Haaks: Ja, es gibt in unserer Zeit eine große Sehnsucht nach Vereinfachung und klaren Botschaften. Die bietet natürlich ein solcher „Weltverfolgungsindex“. Die Kirchen der Reformation neigen auch aufgrund ihrer eigenen Geschichte heraus inzwischen zum Differenzieren und Nachfragen und scheuen sich vor Vereinfachungen. Deshalb haben die großen evangelischen Kirchen da selten griffige Überschriften zu bieten.

Der Hang zu Vereinfachung und Vereindeutigung vergiftet das Miteinander der Religionen weltweit – und Christen sind daran bei weitem nicht unschuldig! Wenn wir uns einmal anschauen, wie sich evangelikale Pfingstkirchen in Brasilien, in afrikanischen Ländern, aber eben auch in den USA positionieren, dann sieht man, dass darin natürlich religiöse Konflikte angelegt sind. Religiöser Fundamentalismus lässt den Glauben des anderen nicht gelten. Wir haben in Europa, so meint man, über Jahrhunderte und nach vielen Kriegen gelernt, den Glauben des Anderen gelten zu lassen, auch wenn er mir nicht passt.

Eule: Was kann man gegen den religiösen Fundamentalismus tun, der ganz offensichtlich für den Großteil der gegenseitigen Verfolgungen und Bedrängungen von Gläubigen verantwortlich ist?

Haaks: Wir müssen massiv in die religiöse und weltanschauliche Bildung investieren. Grundlage dafür ist die Erkenntnis, dass Religionsfreiheit als Menschenrecht an die Wahrung anderer Grundrechte wie Bildung und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geknüpft ist.

Es ist kein Zufall, dass sich die evangelischen Diasporakirchen schon seit jeher mit Schulen einen guten Namen gemacht haben. Die evangelischen Christen sind als Missionare in die Welt hinausgegangen, auch in muslimische Länder. Als sie gesehen haben, dass das mit der Mission so einfach nicht ist und auch zu Konflikten mit den ansässigen Religionen und anderen christlichen Konfessionen führt, haben sie sich darauf verlegt, Schulen und Krankenhäuser zu gründen, die allen Menschen zugänglich sind, die dort leben – unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Religion oder Bevölkerungsgruppe.


Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.


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