Verstaubte Theolog*innen melden sich zu Wort

Die Kirche sucht an den Kippunkten nach Orientierung und Relevanz. Einer Kirche, die gegen die ökologische Katastrophe aufsteht, können vermeintlich verstaubte Theolog*innen eine Hilfe sein.

Unsere Gesellschaft befindet sich in Kipppunkten in Bezug auf unsere Umwelt, im Umgang mit den knapper werdenden Ressourcen und in unserer Art zu wirtschaften. Und mittendrin in den „Tipping Points“ agiert die Kirche.

Sie erweckt dabei den Eindruck, dass sie sich vor allem um ihre Mitgliederzahlen und die damit einhergehenden finanziellen Machtmöglichkeiten sorgt. Rastlos wird nach neuen Kommunikationsformen gesucht. Es geht um das Relevant-Werden von Christentum und Kirche für das Leben im Hier und Jetzt – und dies in einem Kontext, in dem die Kirchen im Begriff sind, für die Mehrheit der Menschen in Deutschland völlig belanglos zu werden. Was ist gutes kirchliches Handeln in dieser Lage? Was macht Kirche in der Diasporasituation?

Noch spitzer formuliert: Versteht sich die Kirche tatsächlich noch als Versammlung von Menschen, die dem Reich Gottes nachfolgt, radikale Fragen an unseren neoliberal geprägten Gesellschaftskonstellationen stellt und sich jenseits von einseitigen Anpassungsprozeduren selbstlos für Befreiung von Welt und Mensch einsetzt – unabhängig von Konfessions- und Religionszugehörigkeit? „Nicht um Anpassung an die Verhältnisse, um auf ihre ‚Höhe‘ zu kommen, sondern um deren Kritik muss es der Kirche gehen.“ (Herbert Böttcher)

Kirche und Christentum ringen um Orientierung. Es gab eine Phase in der Bundesrepublik Deutschland, in der Kapitalismuskritik, politisch-engagierte Theologie und Kampf für Gerechtigkeit weiteraus stärker im Raum von Kirche und Theologie auf der Agenda standen als heute. Die Institution der Christen, die heute von ihren evangelikalen Verächtern als „links-versiffte“ Kirche bezeichnet wird, war damals in bestimmten Kreisen sehr viel mehr linkspolitisch ausgerichtet und radikaler eingestellt als der heutige theologische Mainstream.

Mit und nach den 68ern wurden Gruppierungen wie etwa Christen für den Sozialismus gegründet oder Netzwerke – etwa der Bund der religiösen SozialistInnen und Sozialisten – wiederbelebt. Persönlichkeiten wie Kurt Scharf, Heinrich Albertz, Marie Veit, Dorothee Sölle und Helmut Gollwitzer verstanden ihr politisches Engagement theologisch und ihre Theologie politisch.

Gewiss waren die damaligen Zeiten andere als heute, aber es lohnt sich theologische Grundüberlegungen von damals wachzurufen, auch wenn sie heute in der theologisch-akademischen Welt größtenteils vergessen und verstaubt sind. Ihnen wohnt einen Schatz inne, Orientierung für die heutige Praxis der Kirche in der Diaspora und in der gesellschaftlich-ökonomischen Transformation bieten zu können.

Helmut Gollwitzer: Freund der Revolution(äre)

Helmut Gollwitzer war Mitglied der Bekennenden Kirche und lange Zeit Professor der Freien Universität in Berlin. Hier begleitete er die 68er-Bewegung, hatte ein offenes Haus für die Student*innen und lernte Rudi Dutschke kennen. Eine tiefe Freundschaft, die beide bis zum Lebensende von Dutschke verband. Gollwitzer betont, wie er von den Studenten gelernt hat, dass christliche Nachfolge durch Ausklammerung des sozio-ökonomischen Kontextes hohl, stumpf und letztlich missbraucht wird.

Gollwitzer beschäftigte sich immer intensiver mit der Frage, wie das Zentrum des christlichen Glaubens näher zu verstehen ist. Evangelium und Reich Gottes sind für ihn eine umfassende Umwälzungsbewegung auf allen Ebenen menschlichen Lebens. Das Reich Gottes ist ein „Angriff auf das Schlechte“ (Befreiung zur Solidarität, 152). Auch die Gesellschaft ist davon betroffen. Für Gollwitzer steht fest: Gott wirkt. Er will den Menschen zur Mitarbeit seines Reiches aktivieren. Gott selbst wird sein Reich vollenden und der Mensch ist beauftragt antizipatorisch das neue Sozialleben umzusetzen. Gollwitzer hat diese Spannung wie folgt ausgedrückt:

„Darum folgt aus der absoluten Utopie der neuen Gesellschaft im Reiche Gottes eine irdische, relative Utopie als Leitbild für die Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse mit dem Maßstab größtmöglichen Abbaus aller Ungerechtigkeit, Unfreiheit und Vergewaltigung.“ (Ausgewählte Werke 6, 119).

All diese Gedankengängen münden in die von Gollwitzer eingebrachte Kurzform des Evangeliums: „Wir sind nicht allein.“ Nach dem biologischen Tod sind wir nicht allein und auch im Hier und Jetzt sollen Todesstrukturen überwunden werden und neues Leben soll aufblühen: „Der ganz andere Gott, will eine ganz andere Gesellschaft.“

Mit einer solchen Theologie lässt sich im konfessionslosen Kontext eine theologische Haltung verinnerlichen, die das Gegenüber danach fragt: Was brauchst Du für ein befreites und emanzipatorisches Leben? Wie können wir gemeinsam Unrechtsstrukturen überwinden? Wie können wir neoliberale Eskalationen umwälzen? Darin liegt Potential dafür, dass Kirche sich auf den Weg Macht und nach Netzwerken Ausschau hält, die in die gleiche Richtung und auf gleicher Linie agieren. Die Bedeutsamkeit christlicher Lebenspraxis in säkularen Kontexten kann darin ganz neu aufscheinen. Gollwitzer drückt dies so aus:

„Die Relevanz jedes Satzes unseres Glaubensbekenntnisses werden wir unseren Zeitgenossen nur verdeutlichen können als politische und soziale, als gesellschaftlich revolutionäre Relevanz. […] Nur durch ein verändertes Verhalten im Diesseits, nicht durch bloße Behauptungen über göttliche Wahrheiten, die angeblich ‚an sich‘ beschrieben werden können, können wir heute die Relevanz des Glaubensbekenntnisses bezeugen.“ (AW 4,77f).

Brücken entstehen – und Todesstrukturen werden erkennbar, die zu überwinden sind. Gollwitzer macht diese im Kapitalismus dingfest. Er stellt fest: Für den Kapitalismus müssen alle Schranken fallen. Der Kapitalismus strebt nach einer Vergrößerung der Märkte, nach Steigerung der Kaufwilligkeit und der Bedürfnisse der Bürger; er fokussiert die Globalisierung, die Durchlässigkeit der Grenzen und übt auf Regierungen über Lobbyismus massiv Druck aus. Das gesamte gesellschaftliche Miteinander soll mehr und mehr von einseitigen kapitalistischen Rationalisierungsprinzipien geleitet werden. Deswegen bedeutet für Gollwitzer christliche Nachfolge Umkehr:

„Die Umkehr, zu der die christliche Gemeinde durch Gottes Wort täglich gerufen wird, umfaßt auch die Abkehr von ihrer Einbindung in das herrschende Privilegiensystem und ihren tätigen Einsatz für gerechtere, also nicht mehr durch gesellschaftliche Privilegien bestimmte Gesellschaftsstrukturen.“ (Ausgewählte Werke 7,45)

Helmut Gollwitzers Werk hält einen großen Schatz bereit für kirchliches Leben in gesellschaftlichen Kipppunkten in einem mehrheitlich konfessionslosen Kontext. Dies wird auch im Oktober auf einer Tagung besprochen, bei der ich einen Vortrag halten werde. Herzliche Einladung!

Marie Veit: Wir verschwenden viel

In einer ähnlichen Richtung wie Gollwitzer hat auch Marie Veit christliche Nachfolge und gesellschaftliche Verantwortlichkeit verstanden. Dorothee Sölles politische Theologie, die stets das kapitalistisch-ökonomische Ganze verändern wollte, war von Marie Veit stark beeinflusst. Veit war Sölles Religionslehrerin gewesen, wurde später Professorin in Gießen für Religionspädagogik und engagierte sich mit Sölle für die Bewegung „Christen für den Sozialismus“.

Als Religionspädagogin hat Veit vor allen Dingen die mentalen Abhängigkeiten menschlichen Handelns im Kapitalismus beobachtet. Die Privatisierung und damit einhergehende Ökonomisierung aller Lebensbereiche drängt danach, Welt und Gesellschaft in einem „Kosten-Nutzen-Kalkül“ aufgehen zu lassen und über Leichen zu gehen:

„Wir verschwenden viel in der Wegwerfgesellschaft, die wegwerfen muss, um den Gegenwert ihrer sinnlosen Überproduktion zu realisieren. Aber was wir am meisten verschwenden, so scheint mir, das sind menschliche Seelen. Sie sind nur zum Profitmachen gut, und sie merken nicht, wie sie dafür zugerichtet werden. Denn ihre unmerkliche Umgestaltung erfolgt ja nicht im Wege der Diktatur, sondern der Manipulation.“

Gegen eine solche Wegwerfgesellschaft stellt sich Marie Veit. Unter Bezugnahme auf Dietrich Bonhoeffer spricht sie von einem ohnmächtigen Gott, der in seiner Liebe den Menschen nicht zwingen kann, aufzustehen und zu handeln. Allerdings kann er – abseits von Überwältigung – Herzen aufschließen. Gottes Handeln kommt so im menschlichen Handeln zur Vollendung, für eine bessere Welt zu streiten. Gewiss, mentale Abhängigkeiten im Kapitalismus bestimmen Denken und Praxis von Menschen. Dass die Welt eine andere sein kann, wird für die Mehrheit quasi unvorstellbar und für die Minderheit, die daran festhält, ist stets die Gefahr der Resignation im Anmarsch. Hier entdeckt Veit die Verstrickung des Menschen in der Sünde:

„Sünde ist biblisch gesehen, zum größten Teil Mangel an Mut. Nicht Glauben, nicht Vertrauen genug zu besitzen, um die Initiative zu ergreifen und das Notwendige zu tun, gerade das ist Sünde.“

Vertrauen, Hoffnung und Aufbruch sind das Gegenteil der Sünde. Veit votiert für Gegenerzählungen der Hoffnung, die das Utopische des Reiches Gottes (ein Noch-nicht-Ort, der aber im Kommen ist) durchsichtbar macht.

„Es gibt Lösungen, ganz unerwartete manchmal, Resignation muss nicht sein, und sie darf auch nicht sein. Denn was wir mitbringen […], das sind vor allem wir selbst, Menschen, die viel mehr können als sie manchmal denken, und die Erfahrungen derer, die schon an der Arbeit sind.“

Und gerade in einem solchen Aufbruch der christlichen Nachfolge steckt die Kraft der biblischen Botschaft:

„Der Neuaufbruch von unten erscheint ‚gefährlich‘ – gefährlich wie das Leben selbst. Wird konkret, kreativ, gemeinsam geglaubt, gedacht, gehandelt und geredet, dann muss sich vieles ändern. Wird an der Bibel selber aufgezeigt, dass sie immer so angesetzt hat […], dann wird auch die Bibel ‚gefährlich‘. Gefährlich für wen?“

Die prophetisch-kritische Kraft wiederfinden

Das Werk von Veit, Gollwitzer und weitere Christ*innen aus der Zeit nach den 68ern – vermeintlich verstaubte Theolog*innen – ist ein nicht in Anspruch genommenes Erbe. Es geht um ein Erbe, das dem Christentum seine prophetisch-kritische Kraft wiedergeben will. Heute findet man dieses Erbe in seiner dringlichen Radikalität nur noch vereinzelt. Etwa der Bund der religiösen SozialistInnen, der in drei Jahren 100 Jahre alt wird, versucht dieses Erbe zu pflegen. In seiner Zeitschrift wird dieser Zusammenhang christlicher Nachfolge mit gesellschaftlich-kapitalismuskritische Verantwortlichkeit bedacht.

Auf dem Kirchentag in Nürnberg wird der BRSD mit Nikolaus Schneider, dem ehemaligen rheinischen Präses und EKD-Ratsvorsitzenden, eine musikalische Lesung zu Dorothee Sölle durchführen. All das wichtige Impulse, um die Kirche zu fragen: Wie hältst du es mit der Botschaft des Evangeliums, die alle Dimensionen des menschlichen Lebens – eben auch Wirtschaft, Politik und das Zusammenleben – befreien will? Mit den Worten von Urs Eigenmann:

„Vom Reich Gottes her sollte die Kirche ihr Selbstverständnis entwickeln. Am Reich Gottes müsste sie ihre interne organisatorische Struktur und ihre Sozialform im Sinne der gesellschaftlichen Verfassung ausrichten. Das Reich Gottes müsste verbindlicher Maßstab für die Praxis der Kirche sein; denn die Kirche ist nicht um ihrer selbst willen da, und das Ziel der Kirche ist nicht wieder die Kirche selbst.“

Es geht um eine hoffnungsmachende Praxis der Kirche, ein visionäres Handeln, das dem Reich Gottes entsprechen will und den neoliberalen Ausuferungen den Kampf ansagt, die für die Ökologiekataststrophe verantwortlich sind – und dazu können manchmal vermeintlich verstaubte Theolog*innen eine Hilfe sein.

Neue Kolumne „Tipping Point“

In unserer neuen Kolumne „Tipping Point“ schreibt Tobias Foß über die sozial-ökologische Transformation. Welchen Beitrag können Christ:innen und Kirchen leisten? Welche Probleme müssen bewältigt werden? Welche Kipppunkte gilt es in Theologie und Glaubensleben wahrzunehmen?

Mit „Tipping Point“ wollen wir in der Eule an Fragestellungen im Licht der Klimakrise dranbleiben. Dabei stehen nicht allein Klima- und Umweltschutz im Zentrum, sondern auch die Auswirkungen von Klimawandel und Umweltzerstörung auf unser Zusammenleben. Die Klimakrise verändert schon jetzt unsere Gesellschaft(en). In „Tipping Point“ geht Tobias Foß diesen Veränderungen auf den Grund und beschreibt Ressourcen und neue Wege.