Warum ich geblieben bin

Viele junge Menschen treten aus den Kirchen aus. Clemens Steinberg ist gegangen und doch geblieben. Von seiner Geschichte können die Kirchen lernen.

Ende Juli 2020: Die Zahl der Kirchenaustritte in Deutschland ist so hoch wie noch nie zuvor, rasant verlieren die evangelischen Kirchen und die römisch-katholische Kirche an Mitgliedern, die allgemeine Stimmung ist auf einem neuen Tiefstand. Die bischöflichen Aufrufe zum Durchhalten und Weitermachen klingen vielen Mitgliedern noch in den Ohren. Da aber auch die Oberhirten der meisten Bistümer gemerkt haben, dass es da absolut nichts mehr schönzureden gibt, bemühen sich viele gar nicht erst darum.

Eigentlich möchte man solche Statistiken direkt zur Seite legen, um nicht komplett den Mut zu verlieren. Trotzdem lohnt sich ein genauerer Blick, etwa, was das Austrittsverhalten verschiedener Altersgruppen angeht. Mein ehemaliges Heimatbistum, das Erzbistum Hamburg, hat genau das getan.

Dabei sticht vor allem eine Altersgruppe besonders hervor: Zwischen 21 und 35 treten mit Abstand die meisten Menschen aus der Kirche aus, davon etwas mehr Frauen als Männer. Die Statistik stellt die These auf, dass diese Altersgruppe vor allem deshalb aus der Kirche austritt, weil sie jahrelang keinen Kontakt mehr zur Kirche hatte und deshalb nicht mehr einsieht, beim Einstieg ins Berufsleben Kirchensteuern zu zahlen.

Klar, so einfach kann man es sich machen, aber das greift meiner Ansicht nach deutlich zu kurz. Es bietet sich an, diese Altersgruppe näher zu betrachten: Der Soziologe und Sozialarbeitswissenschaftler Lothar Böhnisch beschreibt die Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jahren als „junge Erwachsene“, die sich im Zwiespalt zwischen Jugendlichkeit und Erwachsensein befinden. Man könnte auch sagen: Sie sind auf der Suche.

Großzügig gedacht lassen sich diese Eigenschaften mit Sicherheit auch auf die 26 bis 35-jährigen übertragen. In Zeiten, wo nach dem Bachelor noch der Master folgt, ein Studium nach einer Ausbildung begonnen wird und am Ende eines Studiums oftmals eine Reihe (unbezahlter) Praktika stehen, ist das wohl legitim. Wir haben es also mit Menschen in Phasen der Verunsicherung und der Suche zu tun. In diese Gruppe falle auch ich hinein.

Mit 23 und einem fast abgeschlossenen Erststudium liege ich gewissermaßen voll im Trend. In die Austrittsstatistik der römisch-katholischen Kirche 2020 werde ich ebenfalls mit einfließen. Ja, ich bin ausgetreten. Aber das war’s noch nicht für mich, im Gegenteil! Ich bin übergetreten. Ich habe das Gefühl, dass es für mich erst richtig losgeht. Die Gründe, weshalb ich meine Entscheidung so getroffen habe, würden den Rahmen sprengen, aber auf einen Aspekt möchte ich zu sprechen kommen. Auch, weil er für die großen Kirchen generell von Bedeutung sein sollte.

Warum bin ich nicht komplett gegangen? Der einfachste Grund lautet: Ich glaube immer noch an Gott, ich bekenne mich weiterhin zur Kirche und zu dem Guten, was aus der Gemeinschaft mit anderen Christ*innen hervorgeht. Und da wären wir beim Thema: Gemeinschaft. Dieses Wort klingt sehr ähnlich wie das Wort „Gemeinde“. Aber meint es dasselbe?

„Gemeinde“ bezeichnet zunächst mal eine Verwaltungseinheit. Die meisten Gemeinden der römisch-katholischen Kirche fahren derzeit in unruhigem Fahrwasser. Pfarreifusionen und neue Instruktionen aus dem Vatikan sorgen für mächtig Wirbel. Aber das sind im wesentlichen Strukturfragen, Verwaltungsangelegenheiten. Menschliche Bedürfnisse kamen bislang noch gar nicht zur Sprache.

Was möchte ich von und für meine(r) Gemeinde?

Für mich ist die Gemeinde ein Ort, an dem ich (im Idealfall) Gemeinschaft erfahre. Ein Ort, an dem ich angenommen bin, an dem ich mit gleichgesinnten Menschen ins Gespräch komme, wo sich Beziehungen aufbauen, Bekanntschaften entwickeln. Vor allem aber habe ich das Bedürfnis, meinen Glauben auch außerhalb des Gottesdienstes zu leben, in Gemeinschaft mit anderen.

Wo habe ich in der Kirche bisher Gemeinschaft erfahren? Wo erfährt meine Altersgruppe heute Gemeinschaft im Glauben? Ich habe Gemeinschaft vor allem immer dort erfahren, wo ich mich angesprochen und angenommen gefühlt habe und wo ich übersichtliche Gruppengrößen vorgefunden habe, die persönliche Beziehungen ermöglicht haben.

Das begann mit den stets gut besuchten Kinderbibelwochen, ging über großartige Ferienfreizeiten bis hin zu diversen Musikgruppen wie Chören und Jugendbands, denen ich bis zu meinem Umzug nach dem Abitur angehört habe und mit denen ich zu Weihnachten immer noch Gottesdienste gestalte. Stichwort Umzug: Wenden wir uns wieder „meiner“ Altersgruppe zu:

Die meisten jungen Erwachsenen wechseln nach dem Schulabschluss den Wohnort. Das betrifft zwar im Wesentlichen diejenigen, die studieren wollen, aber auch junge Berufseinsteiger oder Auszubildende verweilen mehrheitlich längst nicht mehr an einem Ort. Während Student*innen dank der zahlreichen Studierenden- und Hochschulgemeinden noch verhältnismäßig gute Möglichkeiten der Einbettung in ein soziales Umfeld erwarten können, sieht die Welt außerhalb des Uni- und FH-Kontextes ganz anders aus.

Ich habe diese Erfahrung selbst gemacht: Fremde Stadt, fremde Gemeinde, fremde Gesichter. Als Neuling ist man in den meisten (römisch-katholischen) Gemeinden zunächst mal ein Fremdkörper. Man kennt niemanden, ist einer der Außenstehenden. Dadurch ist es automatisch schwerer, Fuß zu fassen. Man ist schließlich ein Unbekannter, ein neues Gesicht.

Es ist unbestritten, dass die meisten Pfarreien mittlerweile eine recht gute Internetpräsenz aufgebaut haben, die über aktuelle und zukünftige Veranstaltungen und Gottesdienste informiert. Ebenso ist es unbestritten, dass man natürlich jederzeit Kontakt zu den jeweiligen Verantwortlichen aufnehmen oder einfach mal vorbeischauen kann.

Aber der erste Berührungspunkt, um sich einen Eindruck von den Menschen und der jeweiligen Gemeinde vor Ort zu machen, ging für mich immer über den Gottesdienstbesuch. Doch das beinhaltet nicht nur den reinen Gottesdienst. Mindestens genauso entscheidend, wenn nicht sogar noch wichtiger als eine ansprechende Messe mit einem zugewandten Priester und einer verständlichen Predigt ist in meinen Augen das, was danach passiert – oder eben vielerorts auch nicht passiert.

Die Kirchen und junge Erwachsene (Symbolfoto), Foto: Joshua Eckstein (Unsplash)

Bei den Leuten vor Ort sein

In meiner Heimatgemeinde war es Standard, dass man nach dem Gottesdienst noch zu einer Tasse Kaffee zusammenblieb und mit anderen Gemeindemitgliedern ins Gespräch kam. Die verbindende Wirkung solcher vermeintlicher Nebensächlichkeiten sollte man keinesfalls unterschätzen. Ich stelle einfach mal die These auf, dass meine ehemalige Heimatgemeinde als eine der kleinsten römisch-katholischen Gemeinden Kiels gerade aufgrund ihrer Übersichtlichkeit und der gegenseitigen Verbundenheit untereinander sich so lange tapfer gehalten hat – allen Reformen, Kirchenschließungen und Budgetkürzungen zum Trotz.

Diese Gemeinde war auch im Verhältnis zu anderen Gemeinden schon etwas besonderes, doch auch hier konnte man einige Aspekte entdecken, anhand derer das Phänomen Mitgliederschwund zu einem nicht unerheblichen Teil auch hausgemacht erscheint: Zum Kaffee blieben stets die „üblichen Verdächtigen“, nicht wenige Gottesdienstbesucher kamen erst kurz vor dem Gottesdienst in die Kirche und waren danach genauso schnell wieder weg, ohne irgendjemandem „Hallo“ zu sagen.

Der Priester, der die Messe zelebrierte, musste so gut wie immer direkt danach los, die nächstgelegene Kirche wollte schließlich auch „versorgt“ werden. Der persönliche Austausch blieb dabei auf der Strecke. Ich erinnere mich, wie unser damaliger Pfarrer fast ohne den Diakon zur nächsten Kirche gefahren wäre, weil dieser noch im Gespräch mit Gemeindemitgliedern war. Der Diakon sagte einige Zeit später: „Sowas ist doch furchtbar. Wir müssen doch bei den Leuten vor Ort sein, ihnen zuhören können und wissen, was sie bewegt!“

Dass das immer weniger passiert, ist in meinen Augen auch ein Grund dafür, wenn sich Priester und Gemeindemitglieder voneinander entfremden. Dass häufig nur die bereits erwähnten „üblichen Verdächtigen“ zum Kirchenkaffee erscheinen, führt über kurz oder lang zwangsläufig dazu, dass sich „innere Kreise“, also sehr stark zusammenstehende Einzelgruppierungen bilden, zu denen Außenstehende kaum Zugang erhalten.

„Liebe Schwestern und Brüder …“

Sehr gerne bemühen Priester in Predigten die Ansprache „Schwestern und Brüder“ an die Gottesdienstbesucher, auch die Lesungen aus den Paulusbriefen beginnen so. Die gängige Metapher, die das Verhältnis zwischen Laien, also den „einfachen Gläubigen“ und den Priestern beschreibt, ist die des Priesters als Hirte und den Laien als Herde. In vielen Gemeinden kommt mir das nur noch wie ein frommer Wunsch vor. Denn was bedeutet es, wenn man diese Metaphern nicht als bloße Symbolik, sondern als Grundhaltung ansieht?

„Schwestern und Brüder“ sind nicht einfach bloß Menschen, denen man aufgrund einer Begegnung oder Bekanntschaft verbunden ist. So wie Geschwister aufgrund einer Verwandtschaft in besonderer Verbindung miteinander stehen, so tun es auch Schwestern und Brüder im Glauben. Sie können darauf vertrauen, dass sie sich grundsätzlich wohlgesonnen und mit Interesse am Gegenüber begegnen. Und das allein aufgrund des Wissens, dass man dieselbe Hoffnung, denselben Glauben teilt.

Schwestern und Brüder gehen nicht anonym aneinander vorbei, sondern nehmen sich gegenseitig wahr und signalisieren sich: „Schön, dass du da bist!“ Und darin liegt für mich das besondere, das wunderbare der christlichen Gemeinschaft. Die vorbehaltslose Annahme, dass man sich gegenseitig erst einmal wohlgesonnen ist, das Vertrauen, dass man dort, wo man auf andere Christ*innen trifft, angenommen wird.

Ähnliches gilt für das Bild des Hirten: Ein Hirte kennt seine Herde, ein Hirte sieht Einzelne in der Gruppe. Ein Hirte ist da, wenn er gebraucht wird. Wenn eines der Schafe ein Problem hat, kann es zum Hirten kommen, er wird sich der Probleme annehmen. Ein Hirte spricht auch die „Stillen“ oder die „Neuen“ in der Gruppe an und vermittelt ihnen so ein Stück Sicherheit und fungiert als Verbindung zwischen den Schafen.

All das habe ich nach meinem Übertritt finden und erfahren dürfen. Eine Gemeinde, die gleichzeitig Gemeinschaft ist. Eine Gemeinschaft, in der man auch als neue Person nicht außen vor bleibt, sondern freundlich angesprochen und aufgenommen wird. Wo der Hirte bzw. die Hirtin einen wahrnimmt, ein offenes Ohr für Sorgen und Probleme hat und die Herde zusammenhält. In so einer Gemeinschaft ist die gemeinsame Feier des Gottesdienstes ein vielfach intensiveres Erlebnis als das bloße „Konsumieren“ innerhalb einer mehr oder weniger anonymen Gruppe.

Der Theologe Martin Buber sagte einmal sinngemäß: „Erst in der Beziehung zu anderen wird der Mensch zum Menschen“. Und damit hat er in meinen Augen Recht. In einer guten Gemeinschaft fallen viele Dinge leichter. In einer guten Gemeinschaft in der Gemeinde fühlt man sich angenommen und willkommen. Dort kann man Gott erfahren. Ich bin dankbar, dass ich eine solche Gemeinschaft finden durfte. Und das ist ein Grund, weshalb ich geblieben bin.

Zukunft Gemeinde

Die Kirchengemeinde ist in Verruf geraten: Kirchenreformer:innen gilt sie als Auslaufmodell. Im Thesenpapier „Kirche auf gutem Grund“ des „Zukunftsteams“ der EKD-Synode vermuten einige einen Frontalangriff auf die Ortsgemeinde. In einem „Zukunft Gemeinde“-Special beleuchten wir deshalb diesen Sommer, welche Rolle Gemeinden auch in Zukunft spielen werden – und wie sie sich schon heute verändern.