Ich war mit meinen Kolleg*innen auf Kursfahrt in Schottland. Falls sich jetzt jemand fragt: Was ist eine Kursfahrt? Es ist eine Kombination aus Bildungsreise und Urlaub. Und manchmal fühlt es sich auch ein bisschen wie eine Klassenfahrt an.
Unsere Fahrt führte uns nach Schottland. Da wir alle angehende Pastor*innen sind, haben wir uns natürlich besonders die kirchliche Landschaft angeschaut. Der Kirche in Schottland geht es nicht gut. Ein bisschen schaut es dort so aus, wie es die Szenarien beschreiben, die unter #Apokalypse2060 und #Kirche2030 für die Kirchen in Deutschland diskutiert werden. Nur sind sie in Schottland schon Realität geworden.
Zwei Reaktionen der Kirche auf diese Situation haben mich nachhaltig inspiriert und beeindruckt:
Vielfältige Gottesdienste
Der Sonntag ist unser Markenkern. Ein Tag, der gesellschaftlich schon auf Kirche gebrandet ist. Darum gilt es diesen zu nutzen. Oder anders gesagt: Es ist verantwortungslos, diesen kirchlich geprägten Tag mit nur einem Gottesdienst verklingen zu lassen.
Auf den Punkt brachte das Pastor Dave Richards, der sagte: „You cannot have just one service for everyone. If you try that, no one will be happy.“ („Ihr könnt nicht einfach einen Gottesdienst für alle machen. Wenn ihr das versucht, wird damit niemand glücklich.“) Stattdessen feiert selbst die kleinste Gemeinde in Schottland mindestens zwei verschiedene Gottesdienste pro Sonntag. Die meisten sogar drei.
Ich höre hier schon die Vikar*innen und Pfarrer*innen maulen: Wie sollen wir das denn schaffen? Wir haben doch schon so genug zu tun! Ja, aber der Gottesdienst ist nun einmal unser Kerngeschäft. Und nebenbei auch das, wofür wir die meiste Zeit ausgebildet werden, das wir am meisten trainieren. Und das gilt es zu nutzen!
Aber eben nicht so, dass immer nur der Standard-Gottesdienst gefeiert wird. Denn sind wir doch mal ehrlich: dieser erreicht auch nur eine bestimmte Zielgruppe innerhalb der Gemeinde und ist somit auch ein Zielgruppengottesdienst. Warum sprechen wir die meiste Zeit des Kirchenjahres nur eine Zielgruppe an und lassen alle anderen außer Acht?
Die Erfahrung zeigt: Variierende und thematisch gestaltete Zielgruppengottesdienste ziehen deutlich mehr Menschen an. Bei mir in der Gemeinde im Schnitt das Doppelte bis Dreifache an Teilnehmer*innen. Sei es nun der maritime, der Rocker- oder der Chorgottesdienst. Also lasst uns die Gottesdienst-Vielfalt, die wir jetzt schon haben – auch hier in Deutschland -, nicht nur als Sondergottesdienste ein- bis zweimal pro Jahr feiern, sondern regelmäßig. Am besten feiern wir mehrere Gottesdienste pro Sonntag!
Und wem das jetzt zu viel ist: Wöchentliche Wechsel wären doch ein guter Anfang. Dann gibt es einmal den „Standard“-Sonntags-Gottesdienst, die Woche darauf einen Familien-Gottesdienst mit viel Interaktion, einen hoch liturgischen Gottesdienst und dann noch einen Jugend-Gottesdienst mit viel Musik und Worship. Vier verschiedene Gottesdienst-Formen pro Monat – und den nächsten Monat wieder von vorne: Nur nicht mehr jeden Sonntag den gleichen Gottesdienst, der irgendwie allen gefallen soll!
Mehr diakonische Projekte in den Gemeinden
Diakonische Arbeit sorgt für Relevanz. Alle gut laufenden Gemeinden, die wir besucht haben, organisierten mindestens ein diakonisches Projekt. Ja, wir haben hier in Deutschland das Diakonische Werk. Die Diakonie macht gute und wichtige Arbeit, aber wir dürfen uns darauf nicht ausruhen. Die diakonischen Projekte, die wir in Schottland erleben durften, fallen eher unter den Begriff „Gemeinwohl-Diakonie“. Hier können wir in unseren Städten und Gemeinden noch viel aufbauen.
Das sind Projekte, die sich aus den Bedürfnissen der Gemeinde vor Ort entwickeln. Gemeint ist erneut nicht nur die Kerngemeinde, die wir so oft im Blick haben, sondern der gesamte Stadtteil oder das ganze Dorf. Dabei werden konfessionelle Grenzen mit Absicht übersprungen.

Unverkennbar: Die Reisegruppe in Schottland, Foto: Max Bode
Erneut höre ich Pfarrer*innen jammern: Wie sollen wir das denn schaffen? Wir haben doch schon so genug zu tun! Tatsächlich haben wir genau diese Frage Pastor Enid Watkins gestellt. Seine Antwort: „Not that much, my job is basically to have the nice words.“ („Eigentlich nicht so viel, meine Aufgabe ist vor allem die netten Worte dazu zu sagen.“) Das ist natürlich eine leichte Untertreibung, denn immer, wenn er ein neues Projekt anstößt, muss er deutlich mehr einsetzen als nur nette Worte.
Pfarrer*innen brauchen den Blick für die Bedürfnisse und Potenziale der Gemeinde, um diese produktiv zueinander ins Verhältnis zu setzen. Sobald das aber erledigt ist und das Projekt läuft, kann man sich zurückziehen: Die Pastor*in als Manager*in der Gemeinde, die Projekte anstößt und anleitet, aber nicht in jedem Altenkreis sitzt.
Nichts Neues unter der Sonne
Die beiden Ansätze, die ich hier vorgestellt habe, sind nicht neu. Als Ideen und Projekte gibt es beides auch schon in Deutschland. Zum Teil seit den 1970er-Jahren! Doch gibt es einen entscheidenden Unterschied, den ich auf unsere Kursfahrt bemerkt habe: In Schottland werden beide Ansätze konsequent und flächendeckend umgesetzt.
Und das ist die wichtigste Erkenntnis dieser Bildungsreise für mich: Wir haben – auch hier in Deutschland – gute und richtige Ideen. Wir müssen nur anfangen diese konsequent umzusetzen! Nicht alle auf einmal, sondern ein Projekt nach dem anderen, dafür aber jedes vernünftig. Und am besten, bevor die Not so groß und der daraus entstehende Druck so hoch werden wie in Schottland. Lasst uns jetzt damit anfangen!
6 Kommentare zum Artikel
Hallo,
als leidenschaftlicher Christ, der nun schon zehnmal in good old Scotland war – zT auch bei missionarischen Einsätzen – frage ich mich, wo ihr konkret überall wart.
Wenn ich in Scotland bin – so wie in wenigen Wochen wieder, schaue ich auch immer, welche Gemeinden es dort gibt und wie sie dort arbeiten. Meine Erfahrung ist, dass es starke Unterschiede zwischen Ost und West (der Westen ist tatsächlich die frommere Gegend) gibt, wie auch in Ballungszentren und den reichlich vorkommenden ländlichen Gegenden.
Gruß
Moin Charly,
Sorry für die späte Antwort. Ich war letzte Woche wieder auf Reisen.
Wir waren hauptsächlich in Edinburgh unterwegs, also nur städtisch.
Die Gemeinden auf die ich mich im Artikel beziehe sind hauptsächlich:
P’s and G’s
Greyfriars
und in Glasgow das CharterRoom Projekt.
Liebe Grüße und viel Spaß in Schottland!
Hallo, Danke für die Reaktion. 🙂
Ich hatte es mir schon fast gedacht, dass ihr nur in Ballungszentren wart. Im ländlichen Bereich funktionieren diese unterschiedlichen Gottesdienstformen eher weniger. Dass sich die Gemeinden dort in den Dörfern diakonisch betätigen, ist dort auch nichts neues. Oft auch der wichtigste Weg um mit der Bevölkerung im Dialog zu sein.
Im ländlichen Bereich schrumpfen die Gemeinden sehr. Der Westen profitiert hier noch von seinem spirituellen Erbe aus der Zeit der Erweckung auf den Inseln.
Es gibt auch eine Reportage von Bibel.tv, die in England unterwegs war. Auch diese Reportage hat sich nur in Ballungszentren bewegt und hat kaum taugliche Empfehlungen für Gemeinden in kleineren Städten und Dörfern.
Ja, ich werde wieder Spaß in Scotland haben, davon bin ich überzeugt 🙂
Nanu? Ist meine Frage keine Antwort wert?
Fragend, Charly
Ich finde auch, dass es für traditionelle Gemeinden immer schon ein wichtiger und guter Schritt ist, sich ihres Umfeldes bewusst zu werden und damit auch zu überlegen: Wie gestalten wir eigentlich unsere Gottesdienstfeier? Wie können wir als Gemeinden den Menschen um uns herum dienen?
Für mich ist es dennoch nur ein Anfang.
M.E. ist es hilfreich, wenn wir über multiplikative Nachfolge und entsprechende Teams nachdenken. Dort geht schwerpunktmäßig um die persönliche Gottesbeziehung, die persönliche Berufung und ein Team, das mich stützt und herausfordert. Darin sehe ich die größte Perspektive für die Gemeinde in Europa.
Ich bin nun wieder aus Schottland zurück. An dem Sonntag dort habe ich eine Gemeinde in Oban besucht. Immerhin, Oban ist die zweitgrößte Stadt an der Westküste, mit dem Hafen, von dem fast alle Inselfähren abfahren, Zuganbindung, etc. Also sehr belebt.
Was fand ich vor? In dem Gottesdienst waren incl. 3 Touristen, acht Anwesende. Ja genau: acht. Beim Tee nach dem GD erfuhr ich, dass ein paar Mitglieder selbst in Urlaub waren. Also geschätzte 20 Gemeindemitglieder einer alteingesessenen Kirche, deren Gottesdienst jedoch recht neuzeitig wirkte.
Wie ich es bereits sagte: diese Vorzeigekonzepte funktionieren nur in Ballungszentren. Tatsächlich haben auch die Gemeinden in Schottland schwer zu kämpfen.