Foto: "Dear Lord" von Amanjeev (Flickr), CC BY 2.0
Kolumne Die Internationale

Wenn aus #MeToo #ChurchToo wird

Die #MeToo-Bewegung ist ein Geschenk für die Kirche, meint Pastorin Ruth Everhart. Es ist Zeit, dass die Kirche sich ihren Versäumnissen stellt.

Es sieht nicht so aus, als ob die #MeToo-Bewegung an Zugkraft verlöre. Mächtige Männer werden für sexuelle Belästigungen und Missbrauch zu Verantwortung gezogen, auch wenn die Taten schon länger zurückliegen. Das ist nichts Geringeres als ein Kulturwandel – der vor allem die Unterhaltungsindustrie, Medienwelt und Politik umfasst. Doch was ist mit der Kirche?

Als Gläubige und als Pastorin wünsche ich mir, dass die Kirche sich an forderster Front für diese Bewegung der Moral einsetzt. Stattdessen zeigen Hollywood und Washington der Kirche, wie nach Gerechtigkeit gestrebt wird. Dass bisher eher wenige Kirchenführer beschuldigt werden, liegt nicht am Mangel an Opfern. Sondern viel eher daran, dass die Kirche immer noch dazu neigt, die eigenen Leichen im Keller zu belassen. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.

Die heilende Kraft des Zeugnisses

Wie viele Frauen habe auch ich eine eigene #MeToo-Geschichte. Ich habe meine erzählt, kurz bevor die #MeToo-Bewegung begann: In meiner bei Tyndale 2016 erschienenen Biographie Ruined. Darin erzähle ich, wie ich als Collegesenior mit vorgehaltener Pistole vergewaltigt wurde. Ein Erlebnis, das für mich große Tragweite hatte und mich dazu zwang, mein Leben und meinen Glauben neu zu definieren. Ich habe ein Jahrzehnt gebraucht, um mit einem Gott klar zu kommen, der eine Welt erschaffen hat, in der solche Dinge geschehen können.

Seit mein Buch veröffentlicht wurde, haben sich zahllose weitere Überlebende von Vergewaltigungen und Missbrauch bei mir gemeldet. Ich ermutige diese Frauen, ihre Geschichte unter allen Umständen zu erzählen. Ich bezeuge die heilende Kraft des Zeugnisses. Wir müssen unsere Geschichten erzählen. Vielleicht setzt mich deshalb die #MeToo-Bewegung so unter Strom – auch wenn ich anerkenne, wie aufreibend und schmerzvoll und triggernd dieser Prozess sein kann. Doch ich glaube, dass der Gott, der jeder von uns eine Geschichte gab, von uns nicht erwartet, diese Geschichte zu verschweigen.

Die heilende Kraft des Zeugnisses ist Grund dafür gewesen, dass ich vor Kurzem eine weitere meiner #MeToo-Geschichten erzählt habe. Eine Geschichte, die besser mit dem Hashtag #ChurchToo gekennzeichnet werden müsste.

In vielerlei Hinsicht war es schwerer, diese Geschichte zu erzählen als die erste. Ich wurde nicht Opfer eines maskierten Fremden, sondern einer Person, die damit beauftragt war, mir in den frühen Jahren meines Dienstes als Mentor zur Seite zu stehen. Diese Geschichte ist für mich doppelt schwierig, weil sie mit meiner Berufung verwoben ist – eine besondere Verwundbarkeit. Wenn man – wie ich – in einer konservativen Glaubenstradition aufgewachsen ist, versteht man vielleicht, dass ich als Frau mit meinem Einzug ins geistliche Amt traditionelle moralische Vorgaben überschritt. Das hat mich gegenüber übergriffigen Personen besonders verletzbar gemacht.

Wenn aus #MeToo #ChurchToo wird

Ruined endet kurz nach meinem Abschluss vom Priesterseminar. Kurz nach dieser letzten Szene, in der ich meine neugeborene Tochter im Chorraum stille, wurde ich zu meiner Begeisterung auf eine Stelle in meiner ersten Kirche gerufen. Ich sollte als beigeordnete Pfarrerin in einer florierenden Vorortgemeinde dienen.

Mein Chef, der leitende Pfarrer – der Mann, der mir bei meiner Ordination die Hand auflegte – legte schon wenige Monate nach meiner Ankunft die Hand auf meinen Kopf, um mich zu einem Kuss zu zwingen. Diese Aktion war der Höhepunkt wiederholter Grenzverletzungen.

Als ich den Personalausschuss der Kirche darüber in Kenntnis setzte, wurde der Missbrauch von ihnen bestritten, ignoriert und was geschehen war klein geredet. Sie versäumten es zu handeln. Das Problem war allein meins. Ich musste es allein ertragen. Zwei lange und schmerzvolle Jahre mussten vergehen, bevor ich eine andere Anstellung fand und die Gemeinde verließ. Jahrzehnte später fand ich meine Stimme und brachte eine Anklage gegen meinen ehemaligen Chef vor ein Kirchengericht. Er bekannte sich schuldig.

Zum Glück hat mich dieser üble Start nicht davon abgehalten, meine Berufung für das geistliche Amt weiterzuverfolgen. Ich hatte mehr als 25 Jahre im Pfarramt Zeit, darüber zu grübeln, warum die Kirche oftmals unangemessen auf Missbrauch reagiert, stärker als es weltliche Arbeitgeber tun.

Die Probleme der Kirche

Sexuelle Belästigungen und Missbrauch gründen immer im Glauben, dass Frauen weniger wert seien als Männer. In der Kirche kann dieser Glaube durch eine entsprechende Interpretation der Schrift untermauert werden: Die Frau wurde nach dem Mann geschaffen, und Eva aß den Apfel. Auch vom Apostel Paulus gibt es einige beunruhigende Weisungen. Weniger ausdrücklich als solche Argumente wird eine „Schöpfungsordnung“ ins Spiel gebracht: Weil Frauen Kinder bekommen, sind sie per se dafür zuständig Fortpflanzung und Familie am Laufen zu halten. Deshalb erfüllen sie die unverzichtbaren, aber verborgenen und unsichtbaren Aufgaben des Lebens. Es sei nicht vorgesehen, dass Frauen sicht- und hörbare Anführerinnen sind. Ihre Geschichten sind nicht wichtig.

Dass Probleme mit Belästigungen häufiger werden, umso mehr Frauen ordiniert werden, ist wenig überraschend. Frauen, die sichtbar sind und sich äußern, werden zu Zielen. Zugegeben, die evangelische Christenheit ist eine vielfältige Welt. Doch in ihr gibt es zahllose Gegenden, die offen mit ihrem Glauben umgehen, dass Frauen weniger Wert seien als Männer. Das ist das Grundrezept für Unterdrückung und Missbrauch. Doch selbst die Kirchen, die formal die volle Gleichberechtigung von Männern und Frauen fordern, scheitern häufig daran, ihren Forderungen Taten folgen zu lassen.

Unterdessen rückt die Kirche aus dem Zentrum der amerikanischen Gesellschaft. Kirchen schrumpfen und der Status der Geistlichkeit nimmt ab, Frauen strömen in kirchliche Leitungsämter, häufig als Pastoren von kleinen (oder mehreren kleinen) Gemeinden. In dieser neuen Kirchenwelt sind Frauen mit Belästigungen durch die Menschen in den Kirchenbänken, ihre Gemeinderäte, aus den Kirchenstrukturen und Partner in der Ökumene konfrontiert. Frauen in Leitungspositionen müssen gegen die Last der Tradition, unterschiedliche Schriftverständnisse und die allgemeine Frustration über den Bedeutungsverlust der Kirche gleichzeitig antreten.

Meine eigene Kirche, die Presbyterian Church (U.S.A.), ordiniert seit sechzig Jahren Frauen und betrachtet sexuelle Belästigung und Missbrauch trotzdem nicht als die ernsten Probleme, die sie darstellen. Zu oft scheitert die Kirche daran, für Gerechtigkeit zu sorgen und die Täter zu bestrafen. Stattdessen fordert sie die Opfer auf, „Heilung“ zu finden. Meiner Meinung nach wird Frauen damit erneut eine unverzichtbare, aber unsichtbare Aufgabe im Dienst an der Welt gegeben: Sie sollen ihre Wunden in Stille tragen.

Eine bessere Zukunft

Wenn man das Problem so entfaltet, wie ich es tue, wollen viele gute Christen in Zukunft besser handeln. Doch bevor wir dahin kommen, müssen wir zuerst der zugrundeliegenden Überzeugung entgegentreten, die man am besten in einem einzigen, kontroversen Wort zusammenfassen kann: Patriarchat.

Die Kirchen haben viel zu lernen. Unsere Traditionen bauen auf den „Kirchenvätern“ auf. Unsere Schriftauslegung entspricht einer männlich dominierten Sicht auf die Welt. Und – vielleicht am wichtigsten – die Kirche ist für viele Menschen ein Rückzugsort vor einer sich ständig verändernden Gesellschaft geworden. Für viele ist die #MeToo-Bewegung nur ein weiterer Anlass für erneuten gesellschaftlichen Wandel – und bitte ganz fix! Wenig überraschend, dass die Kirche vor #ChurchToo zurückschreckt.

So schwierig es ist: Ich glaube, diese Bewegung ist ein Geschenk für die Kirche. Wir haben die Gelegenheit, sie mutig anzuführen, anstatt ihr ängstlich nachzulaufen oder trotzig gegen sie zu argumentieren. Wir brauchen die Opfer, die ihre Geschichten erzählen, nicht aus Bosheit oder Bitterkeit, sondern weil die Kirche ein besserer Ort werden muss. Die Kirche muss Gerechtigkeit üben.

Ich glaube, wenn Gemeinden und Kirchen die vor uns liegenden Herausforderungen annehmen, kann eine dringend benötigte Reformation der protestantischen Kirchen Form annehmen. Das kann nur geschehen, wenn Einzelne wie Du und ich unsere Geschichten erzählen. Welche Geschichte hast Du zu erzählen? Welchem Kirchengremium, welcher Zeitschrift, welchem Online-Medium wirst Du sie erzählen?

Wie viele andere bin ich bereit zuzuhören.

Hintergrund: #ChurchToo

Im Anschluss an die #MeToo-Bewegung veröffentlichten Frauen unter dem Hashtag #Churchtoo („auch in der Kirche“) ihre Missbrauchs-Geschichten aus dem Raum der Kirche. In den USA hat #ChurchToo in einigen Kirchen zu einer Diskussion über den zukünftigen Umgang mit Tätern und Betroffenen von sexuellem Missbrauch geführt. Weitere Informationen zum Hashtag #ChurchToo enthält ein Gastbeitrag auf ZEITonline von Mara Feßmann (@marawandelbar), Chefredakteurin von theologiestudierende.de.