Foto: Samuel Zeller (Unsplash)
Kolumne Post-Evangelikal

Wie schaut es bei euch mit der Vielfalt aus?

Die post-evangelikale Szene rühmt sich ihrer Vielfalt, doch kommen auch dort nicht einfach alle zu Wort. „Einheit in Vielfalt“ ist eine Herausforderung, wenn sich Glaubensvorstellungen stark diversifizieren.

Lieber Christoph,

ihr Post-Evangelikalen legt sehr viel Wert auf einen persönlich verantworteten Glauben. Das hat einige aus ihren Gemeinden herausgeführt bzw. sie von ihren Ursprungsgemeinden entfremdet. Wie schaut es bei euch aus mit dem Nebeneinander von unterschiedlichen Überzeugungen, wie es in den Landeskirchen gang und gäbe ist? Wie tariert ihr die Diversität eures Glaubens mit der nötigen Einheit einer Gemeinde aus? Oder seid ihr wirklich ein Haufen bekenntnisloser Individualisten?

Fröhliche Grüße!


Hallo liebe Eule,

sprechen wir in gemeindlichen Zusammenhängen von Diversität, dann kann dies zum Einen eine „individuelle“ Vielfalt meinen, indem wir beispielsweise auf Diskurse um Geschlechter-Identitäten, Neurodiversität, unterschiedliche Lebensentwürfe und Beziehungsmodelle oder sexuelle Vielfalt rekurrieren. Zum Anderen können wir mit dem Begriff aber auch auf unterschiedliche soziokulturelle Hintergründe verweisen, die wir im Christentum heute vorfinden. Also von unterschiedlichen Wertegemeinschaften, theologischen Ansätzen, Glaubensbekenntnissen und Frömmigkeitsstilen sprechen.

Die Gleichzeitigkeit von Diversität und Homogenisierung

Gerade im freikirchlichen Raum finden wir heute eine große Diversität vor. Natürlich gibt es auch weiterhin die klassische „FeG“-Gemeinde, die als Wertegemeinschaft vor Ort zusammen lebt und sich untereinander unterstützen will. Daneben gibt es mittlerweile aber auch viele junge, freie Stadtgemeinden, die theologisch oft deutlich offener unterwegs sind und demografisch vor allem junge Familien ansprechen, die ihre Kinder dort gut versorgt wissen.

Dann gibt es natürlich die hippen, urbanen Churches der Performer-Generation, die ihre Gottesdienste in Kinosälen feiern und so vor allem christlich sozialisierte Jugendliche und Twentysomethings anziehen, die sich hier in ihren Peer-Groups versammeln. Nicht zu vergessen die Vielzahl an eher alternativen Gruppen, wie beispielsweise den Jesus Freaks, die ein politisch eher links orientiertes Milieu ansprechen, nachmittags, oder abends ihre Gottesdienste feiern und wo es auch heute oft noch üblich ist nach dem Gottesdienst zusammen ein Bier, statt des üblichen Kaffees, zu trinken.

Unsere Gemeindelandschaft geht also in die Breite, sie wird diverser. Gleichzeitig wird sie aber auch spezialisierter, spricht immer gezielter nur bestimmte gesellschaftliche Gruppen an. Wir erleben Diversität also vor allem in Form einer Vielfalt der Angebote, während die Gruppen in sich allerdings zunehmend homogener werden. Einen solchen Prozess nennt man in den Sozialwissenschaften oft Diversifizierung.

Die Idee von der Einheit der Christen

Diese Diversifizierung unserer Gruppen findet nicht nur bezüglich Lebensphase und Altersgruppe statt, sondern auch hinsichtlich der formulierten Glaubenssätze und unterschiedlichen Frömmigkeitsstile. Faktisch werden die Ansichten zu Glauben und Religion in unserer Gesellschaft immer diverser. In den einzelnen Gruppen der freikirchlichen Szene ist oftmals jedoch das genaue Gegenteil zu beobachten. Hier findet eher ein Verdichtung statt.

Und das zeigt sich durchaus auch im Rahmen übergemeindlicher Projekte und Veranstaltungen. So trifft man auf den Gebetsabenden der Evangelischen Allianz beispielsweise nur selten auf Menschen jenseits der etablierten Freikirchen. Auf einer eigentlich überkonfessionell gedachten „Churchnight“ wiederum, einer Veranstaltung, die Gemeinden in Köln zusammenbringen will, finden sich vor allem Menschen ein, die in besonderer Weise mit dem Thema „Lobpreis“ und dem entsprechenden charismatisch geprägten Frömmigkeitsstil etwas anfangen können.

Glauben alleine auf weiter Flur? In einer Gemeinschaft müssen immer Kompromisse geschlossen werden, Foto: Jeremy McKnight (Unsplash)

Die freikirchliche Szene hat Diversifizierung durchaus als gesellschaftliches Phänomen erkannt und möchte dieser begegnen, auch durch übergemeindliches Engagement. Wenn sie von Einheit spricht, gelingt es ihr allerdings nur selten Diversität wirklich einmal grundständig zu denken und so tatsächlich auch entsprechende Angebote zu machen, die eine Vielzahl an Menschen und Glaubensansichten integrieren können.

Eine wirkliche Kommunikationskultur, wie wir sie beispielsweise vom evangelischen Kirchentag her kennen, wo tatsächlich auch sehr unterschiedliche Gruppe zusammen kommen und ins Gespräch finden – mit solchen Ansätzen tun sich freikirchliche Gruppen und Verbände oftmals immer noch schwer.

Auch progressive Gruppen sind Produkte von Diversifizierung

Aber machen wir uns nichts vor, denn auch post-evangelikale und progressive Gruppen verdichten sich auf bestimmte Milieus, sprechen nur bestimmte Gruppen an und sind so auf der Landkarte einer sich diversifizierende freikirchlichen Szene letztlich auch lediglich weitere Marker, die sich genauso von bestimmten religiösen Postulaten, Wertemodelle und Frömmigkeitsstilen abgrenzen.

Würde sich eine Jesus Freaks-Gruppe oder ein junge, progressive Gemeinde wie die Mosaik Düsseldorf denn ohne Bauchschmerzen für eine „Mehr“-Konferenz oder eine Veranstaltung der Evangelischen Allianz engagieren wollen? Vermutlich nicht.

Man geht dann doch lieber auf den nächsten Evangelischen Kirchentag, oder veranstaltet mit dem Freakstock seine eigenen Happenings zu denen man dann einlädt. Wenn wir von Diversität in unseren Gruppen reden, heißt dies eben nicht nur, dass wir Grenzen einreißen, sondern immer auch, dass wir an andere Stelle auch Grenzen ziehen.

Wer beispielsweise die Website meiner Gemeinde, der Mosaik Düsseldorf, besucht, wird ziemlich schnell über Sätze stolpern wie „Wir sind eine Community von Menschen verschiedener Herkunft und verschiedener Weltanschauung.“ Darüber, dass wir uns als „offene Community“ verstehen, in der Menschen unabhängig von „Ethnie, sexueller Orientierung, Gender, Berufstätigkeit oder Lebensphase“ ihren Platz finden. Wir hissen also auch unsere Flagge, die auf viele durchaus regenbogenfarbend wirken kann und zu der man sich auch erst einmal bekennen muss.

Ein Zuhause für Künstler

Gestartet ist die Mosaik Düsseldorf als eine Gemeinde, die in besonderer Weise Kunst und Musik auf dem Schirm hatte. Schnell gab es tourende Musiker und Künstler, die sich der Gemeinschaft zugehörig fühlten, die aber ein völlig anderes Lebenskonzept führten, als der typische Gemeindebesucher mit fester Stelle vor Ort, Kleinfamilie und geregeltem Alltagsleben. Menschen, die eben sehr viel unterwegs sind, viel am Wochenende arbeiten und vielleicht nur drei-, viermal im Jahr tatsächlich vor Ort sind und an Gemeinschaft teilhaben können.

Die Frage, wie man auch für Künstler als Gemeinde ein Zuhause sein kann, hat vermutlich bereits die Strukturen gelegt, die eine Mosaik Düsseldorf auch generell geöffnet hat für Themen um Diversität. Schnell war klar, man kann Mitgliedschaft nicht an die Idee einer regelmäßigen Teilnahme binden. Schnell war klar, dass der typische Sonntagsgottesdienst nicht das tragende Konzept einer solchen Gemeindearbeit sein kann. Dass man andere Veranstaltungsformate, andere Raumkonzepte, eine andere Idee von christlicher Community braucht, um mit den Menschen, mit denen man leben möchte, Gemeinschaft auch gestalten zu können.

Die Frage ist, mit wem ist man im Gespräch?

Insbesondere die Entscheidung, die eigenen Räume für Künstler zu öffnen, hat natürlich auch den Effekt, dass man auch auf gemeindlicher Ebene mit ganz anderen Menschen ins Gespräch kommt. Menschen nämlich, die gerne zu unseren Konzerten kommen, aber den Weg zu unseren Sonntagsgottesdiensten vielleicht nie gefunden hätten.

Kirchenferne, Agnostiker, spirituelle- aber explizit nicht religiöse Menschen, christlich geprägte Humanisten u.s.w. – Menschen also, die sich durchaus interessieren für Glaubensfragen, sich damit auseinandersetzen, aber eher wenig mit unser freikirchlichen Gemeindekultur und unser Frömmigkeit anfangen können.

"Ein Bewusstsein für Diversität fängt daher immer bei der Erkenntnis an, dass die eigene Kultu eben auch speziell ist.", Foto: David Diaz (<a href="https://unsplash.com/photos/axdWitHdLC0">Unsplash</a>)

„Ein Bewusstsein für Diversität fängt daher immer bei der Erkenntnis an, dass die eigene Kultur eben auch speziell ist.“, Foto: David Diaz (Unsplash)

Im Privaten haben die meisten Christen vermutlich auch Kontakte zu Menschen, die sich als nicht gläubig verstehen. Hier aber auch auf Gemeindeebene ins Gespräch zu kommen verändert natürlich auch eine solche Arbeit massiv, weil es uns aus der eigenen Blase herausholt, aus der Selbstverständlichkeit, die wir als Christen manchmal unserer Frömmigkeit gegenüber entwickeln.

Ein Bewusstsein für Diversität fängt meines Erachtens daher immer bei der Erkenntnis an, dass die eigene Wahrnehmung, dass die eigene Kultur, die man lebt, eben auch immer speziell ist. Dass man nicht erwarten kann, dass andere Menschen – auch solche die schon nach Gott und Glauben fragen – tatsächlich zu den gleichen Ideen und der gleichen Frömmigkeit finden, die für uns als kirchlich- oder freikirchlich sozialisierte Christen so natürlich scheint.

Gerade in der freikirchlichen Welt wird gern der Offenbarungsgedanke bezüglich des Glaubens postuliert. Ein Gedanke, der impliziert, dass am Ende jeder eigentlich zu der gleichen Wahrheit finden müsse. Denn was wir als “wahr” empfinden, muss ja auch universell gelten, sonst wäre es ja nicht wahr.

Wer aber tatsächlich im Gespräch mit Menschen ist, der merkt schnell, dass dieser Gedanke ein Trugbild ist, da jedes ehrliche Gespräch letztlich auch für meine eigene Glaubenstopik immer eine Herausforderung ist, weil es auch meine Narrative und Bilder in Frage stellen kann. Hier fängt ein wirkliches Einlassen auf Diversität eigentlich erst an. In dem Moment nämlich, wo ein solches Gespräch auch mich veränderen darf, indem es den Blick auf meine eigene Sozialisation lenkt, mich als Subjekt diskursiv stellt, und mich so auch um neue Perspektiven bereichern kann.

Diversität geht uns alle an

Wenn sich ein Humanist, eine systematische Theologin, ein Mystiker und eine christliche Atheistin gemeinsam an unseren Mosaik WG Tisch setzen und über Gott und Glaube nachdenken – für viele in meiner Community wird Glaube da erst wirklich sexy. Das ist eine Gesprächsrunde, die wir spannend finden. Das ist ein Austausch, der uns inspiriert und uns auch persönlich weiterbringt in unserem Fragen nach Gott.

Doch bei all der Offenheit und Freiheit, die wir postulieren, muss uns bewusst sein, dass auch an unserem Tisch Plätze leer bleiben. Dass sich auch an unserem Gespräch nicht jeder beteiligen kann oder will. Klar findet sich hier eine sehr diverse Runde zusammen, aber auch unsere Diversität kennt eine Richtung, bildet ein bestimmtes Spektrum ab, wendet sich gewissen Menschen zu und von anderen ab. Ich wage einmal die riskante These, dass wir in unserer Community möglicherweise eher dem überzeugten Atheisten einmal das Mikro in die Hand geben würden, als einem überzeugten Evangelikalen.

Gerade die Frage „Wer darf bei uns sprechen?“ kann uns sehr deutlich zeigen, wo auch wir in unserer Diversität wieder Grenzen setzen. Eine solche Fragestellung betrifft also progressive Gruppen letztlich gleichermaßen wie evangelikale. Wir alle haben Gesprächsräume die wir öffnen und andere, die wir schließen.

Sicherlich, nicht nur die freikirchliche Szene steht unter dem Stern einer Diversifizierung. Auch die evangelischen Kirchen sprechen heute nicht mehr alle Milieus an. Auch hier verlassen Menschen ihre Ortsgemeinden, um sich Gruppen zuzuwenden, die ihnen ein homogeneres Umfeld bieten.

Dennoch zeigen meines Erachtens gerade die evangelischen Kirchen ein Integrationspotential, von der die zersprengte freikirchliche Landschaft oftmals nur träumen kann. Mit ihrem ernsthaften Bemühungen um Ökumene, gerade unter dem Postulat „Einheit in Vielfalt“, geben die evangelischen Kirchen hinsichtlich des Themas Diversität derzeit die wesentlichen Impulse. Impulse, von denen wir Freikirchler, egal ob Progressive oder Evangelikale, letztlich nur lernen können.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!