Newsletter Re:mind (2)

Wer verteidigt heute die Willkommenskultur?

War der „Flüchtlingssommer“ von 2015 ein „Kontrollverlust“ oder ist die Willkommenskultur ein historischer Höhepunkt von Zivilcourage und Bürger:innensinn? Wer verteidigt heute, was in den zehn Jahren seither geschafft wurde?


Liebe Eule-Leser:innen,

vor zehn Jahren, in der Nacht auf den 5. September 2015, entschied die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen zu lassen, die zuvor an den offenen Grenzen, auf die Europa zu Recht stolz ist, zurückgehalten wurden. Rechtlich gesehen markiert das eine Aussetzung des Dublin-Abkommens für eine große Menge von Menschen. Eine Möglichkeit, die vollständig rechtskonform war.

Schon damals legte die Bundesregierung jedoch großen Wert darauf, dass die europäischen Partner diese Ausnahme nicht als Abkehr vom Dublin-System insgesamt verstehen. Wenige Monate später schwenkte die Regierung – und so ist es trotz mehrerer Regierungswechsel seither geblieben – wieder auf einen politisch und rhetorisch scharfen Kurs in der Migrationspolitik ein.

Um die „Willkommenskultur“, den „Flüchtlingssommer“, die „Flüchtlingskrise“, die „Grenzöffnungen“ oder gar den „Kontrollverlust“ tobt zum 10. Jahrestag erneut ein großer politischer Streit. Eine „Chronologie des Flüchtlingsjahres“ hat der Mediendienst Integration zusammengestellt. Bereits vor fünf Jahren analysierte der stellvertretende Chefredakteur der WELT und umtriebige Hauptstadtjournalist Robin Alexander in der APuZ, dass der politische Streit vor allem als ein „semantischer Stellungskrieg“ geführt wird. Der Deutungskampf um 2015 ebbte in der vergangenen Dekade durchaus auch mal ab. Ein Befund, der zu wichtigen (diskurs-)politischen Überlegungen führen sollte (s.u.).

Das „Wir“ in „Wir schaffen das“

Im Sommer 2025 wird in den Medien jedenfalls wieder einmal diskutiert, ob das „Flüchtlingsjahr“ 2015 ein Erfolg oder ein Fanal gewesen sei, ob es Deutschland – in Anspielung an einen, wie Alexander in seinem Artikel zeigt, aufgeladenen Satz von Angela Merkel – „geschafft hat“. Wer ist eigentlich das „Wir“ in diesem Merkel-Satz?

Liest man ihn einmal historisch-kritisch, zielte er auf die Leistungsfähigkeit Deutschlands, des Staates und der Zivilgesellschaft, bei der Bewältigung einer als Ausnahmesituation erlebten Zuwanderung von Menschen aus akuten Notlagen binnen kurzer Zeit. Mit „Wir schaffen das“ war also weder die Integration von Geflüchteten in die deutsche Mehrheitsgesellschaft noch ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt gemeint. Akut ging es darum, geflüchteten Menschen ein menschenwürdiges Willkommen zu ermöglichen, ihre Unterbringung und Versorgung sicherzustellen und (temporäre) Gemeinschaft zu stiften. „Willkommenskultur“ in diesem Sinne lässt sich leicht als Gastfreundschaft übersetzen – und die ist nicht zuletzt Christenpflicht.

Wenn mit dem „Wir“ die vielen tausend Helfer:innen gemeint sind, die seit dem Spätsommer 2015 ehrenamtlich und mit viel Kraft und Zeitaufwand Geflüchteten halfen und damit den Druck, der auf staatlichen Akteuren lastete, erheblich minderten, dann muss man den „Flüchtlingsommer“ von 2015 als eines der historisch bedeutsamen positiven Beispiele für Zivilcourage und Bürger:innensinn in der Geschichte des Landes feiern. Vergleichbar vielleicht noch mit der geleisteten Nothilfe bei (regionalen) Umweltkatastrophen und während des Zusammenbruchs der DDR.

Der historische Vergleich zeigt ganz ungeschminkt, dass es neben den bereitwilligen Helfer:innen immer auch solche Menschen gibt, die in der Krise vor allem eine Bedrohung ihrer eigenen Privilegien sehen, weshalb die Regierungen stets darauf achten, Ausnahmesituationen auch Ausnahmesitationen bleiben zu lassen oder sie zumindest als solche zu verkaufen.

Verstehen wir unter „Wir“ die deutsche Mehrheitsgesellschaft, dann müssen wir wohl erhebliche Zweifel daran gelten lassen, dass irgendein koordiniert agierendes Kollektiv in der Dekade zwischen 2015 und heute die „Flüchtlingskrise“ bewältigt hat. An der Beseitigung der Ursachen von Flucht, Vertreibung und Migration von Menschen aus der Nachbarschaft Europas sind „wir“ gescheitert. Deutschland ist gleichwohl großer Nutznießer der anhaltenden Zuwanderung: Ohne die Migrant:innen wären Arbeitsmarkt und Sozialversicherungssysteme vermutlich schon kollabiert. Migration ist der entscheidende mitigierende Faktor gegen den demographischen Wandel. Welches „Wir“ hat seit 2015 also was geschafft?

Ein „Funken des Willens“

Wer diese Frage jenseits der aufgeheizten politischen Debatte beantworten will, muss den Geflüchteten selbst zuhören. Eine Übung, die in der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihren Medien nicht sonderlich weit verbreitet ist. Eine gute Gelegenheit dafür war Ende Juni das 25. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz an der Evangelischen Akademie zu Berlin. Alljährlich treffen sich bei diesem evangelischen Migrationsgipfel Vertreter:innen von Migrant:innenorganisationen mit Akteur:innen aus Wohlfahrtsverbänden, Kirche und Wissenschaft.

Für Pfarrerin Josephine Furian, die als Pfarrerin für Flüchtlingsarbeit im Sprengel Görlitz der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) u.a. für die Seelsorge in der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt zuständig ist, ist das Flüchtlingsschutzsymposium „wie ein Familientreffen“. In der Französischen Friedrichstadtkirche, die selbst migrantische Geschichte hat, trifft sich die Migrationsgesellschaft unter evangelischem Dach – das ist in Deutschland immer noch eine Seltenheit.

Blick in den Kirchenraum beim 25. Flüchtlingsschutzsymposium

Volles Haus in der Französischen Friedrichstadtkirche zum 25. Berliner Symposium für Flüchtlingsschutz der Evangelischen Akademie zu Berlin (Foto: Philipp Greifenstein)

„Über 100.000 Syrer:innen sind bereits eingebürgert. Das zeigt, wir haben es geschafft“, erklärt auf dem Podium Nour AL Zoubi vom Füchtlingsrat Thüringen, die selbst im „Flüchtlingjahr“ 2015 nach Deutschland gekommen ist. Das „Wir“ steht hier also für die Geflüchteten und ihre Unterstützer:innen. Tatsächlich führen das zweite Jahre in Folge Menschen aus Syrien die Statistik der Einbürgerungen in Deutschland an. Trotz vieler Widerstände und der komplizierten deutschen Gesetzgebung haben ca. ein Viertel der Syrer:innen in Deutschland inzwischen die deutsche Staatsbürger:innenschaft angenommen. Etwa 900.000 Syrer:innen haben gültige Aufenthaltstitel. Syrer:innen bilden nach Türk:innen und Ukrainer:innen die drittgrößte Gruppe von Migrant:innen in Deutschland.

Maria Kalin, Fachanwältin für Migrationsrecht, sieht daher durchaus einen „Funken des Willens“, der über die vergangene Dekade am Glimmen gehalten wurde. Um den Integrationswillen der Mehrheitsgesellschaft erneut anzufachen, brauche es aber politische Signale, zum Beispiel von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der die syrische Community bewusst in seinen Ansprachen erwähnen sollte.

Ob der reformierte Christ Steinmeier, der im Frühjahr 2025 in Hannover den Evangelischen Kirchentag der „lieben Schwestern und Brüder“ eröffnete, für diesen Appell ein offenes Ohr hat? Unter dem Dach der Französischen Friedrichstadtkirche, der Heimstatt der reformierten Hugenotten, die einstmals aus Frankreich fliehen mussten, schmeckt Kalins Forderung jedenfalls nach einer gemeinsamen Zukunft und weniger nach dem politischen Abwehrkampf gegen immer weitere Verschärfungen des Ayslrechts, wie er 2024/2025 geführt wird.

„Schutz ohne Ausnahme“

In zwei Jahren, so erklärt es mir eine Mitarbeiter:in einer Flüchtlingsberatung, als wir aus dem gut gefüllten Kirchenraum in einer Pause heraustreten, wird hier wohl nur noch die Hälfte der Leute dabei sein. Wenn durch die Umschichtungen zugunsten der Sicherheitspolitik im Haushalt der Europäischen Union und weitere Kürzungen bei Bund und Ländern die finanzielle Ausstattung der Flüchtlingshilfe zusammenbricht, dann – so die Befürchtung – verschwände auch, was an Expertise und Erfahrung in den vergangenen Jahren gewachsen ist. Haben die Geflüchteten und ihre Unterstützer:innen eine Lobby?

Zwei Schlussworte beenden das 25. Flüchtlingsschutzsymposium, die 10 Jahre nach dem „Flüchtlingssommer“ eine Mahnung sind, die in den aktuellen (Medien-)Debatten selten zu hören sind: „Wer über Flüchtlingsschutz spricht, kann über strukturellen Rassismus in unserem Land nicht schweigen“, erinnert Said Etris Hashemi von der Initiative 19. Februar Hanau. Sein Bruder wurde bei dem rechtsextremen Terroranschlag in Hanau im Jahr 2020 getötet, er selbst überlebte schwerverletzt. Hashemi spricht vom „gemeinsamen Kampf“ für „Schutz ohne Ausnahme und eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt“. Dafür brauche es Räume, „in denen Flucht- und Rassismuserfahrungen zu Wort kommen“.

Nach Berlin in die Hugenotten-Kirche mitgebracht hat Hashemi einen Bruder von Oury Jalloh, der vor 20 Jahren im Polizeigewahrsam in Dessau verbrannte. Sein Tod ist bis heute weder vollständig aufgeklärt noch wurden Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen. Er mahnt: „Mein Bruder ist als Flüchtling in dieses Land gekommen, aber Deutschland hat ihn nicht beschützt.“


Aktuell im Magazin:

RE: August 2025 – Ist der Rechtskatholizismus auf dem Vormarsch? – Philipp Greifenstein, Thomas Wystrach (Die Eule, 60 Minuten)

Im Monatsrückblick „RE:“ des „Eule-Podcast“ geht es diesmal um die Rolle von katholischer Kirche und „Lebensschützern“ im Streit um die inzwischen gescheiterte Berufung von Frauke Brosius-Gersdorf an das Bundesverfassungsgericht und die Preisverleihung an Bischof Robert Barron, einen Unterstützer von Donald Trump, durch die Josef-Pieper-Stiftung in Münster: Zwei Beispiele für den Aufschwung des Rechtskatholizismus?

Wie bedeutend war die Kampagne von „Lebensschützern“? Was bewegt die CDU? Beobachten wir gerade einen Machtzuwachs für den Rechtskatholizismus oder die letzten Zuckungen der „Lebensschützer“-Szene? Was haben rechtsradikale Katholiken aus der Causa Brosius-Gersdorf womöglich gelernt? Und welche Bedeutung hat eine Auszeichnung für einen Unterstützer von Donald Trump inmitten des katholischen Establishments?

Re:mind (1): Das Schweigen der Kirchen zu Gaza – Philipp Greifenstein

Das Töten geht weiter, die Kirche schweigt? Obwohl sich die Zweifel an der Unterstützung Israels mehren, halten sich die Kirchen in Deutschland mit Kritik zurück – und beschädigen so ihre eigene Glaubwürdigkeit. In der ersten Ausgabe des neuen „Re:mind“-Newsletters der Eule habe ich über Schweigen und Reden der Kirche(n) zum Gaza-Krieg geschrieben.


Den letzten Absatz aus Robin Alexanders oben verlinktem Beitrag in den APuZ von 2020 finde ich aus unserer gegenwärtigen Lage im Jahr 2025 heraus doch sehr lesenswert:

„Fünf Jahre nach Angela Merkels „Wir schaffen das“ ist die Flüchtlingskrise aus dem Zentrum der politischen Auseinandersetzung verschwunden. Dies hat vor allem mit einer neuen Krise zu tun: der Corona-Pandemie. Wie Deutschland aus dieser hervorgeht, ist im Sommer 2020 noch völlig offen. Allerdings kann als ein erster Trend beobachtet werden, dass die Bundesregierung durch entschlossenes Handeln vorher verlorenes Vertrauen zumindest teilweise zurückgewinnen konnte. Die Parteien der Mitte scheinen ihre Anhängerschaft wieder verbreitern zu können, die politischen Ränder verlieren an Vertrauen und radikalisieren sich weiter. Vielleicht bietet sich jetzt auch Journalisten und Historikern die Chance, die Schützengräben der erstarrten Front eines semantischen Stellungskrieges zu verlassen und sich den Ereignissen mit neuer Unvoreingenommenheit zu nähern.“

Einmal abgesehen davon, dass Alexander in der fortschreitenden Radikalisierung der AfD einen Hinderungsgrund für ihre Mobilisierung sieht, was ja erkennbar nicht der Fall ist, und dessen unbenommen, dass er ganz hufeisenförmig von „politischen Rändern“ schreibt, als ob DIE LINKE eine Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat wäre, finde ich die Passage als Zeitdokument bemerkenswert.

Christian Jakob von der taz hat beim Flüchtlingsschutzsymposium erklärt, dass es auch an der Unterstützung der Medien für die „Willkommenskultur“ lag, dass 2015 keine Pogromstimmung wie noch Anfang der 1990er Jahre entstand. Welche Narrative befeuern sie heute? Marcus Engler vom DeZIM-Institut versuchte sich auf dem Podium an einer diskurspolitischen Einordnung:

„Weder wurden 2015 die Grenzen geöffnet noch werden sie 2025 geschlossen. Die Lage ist immer komplexer [als solche einfachen Beschreibungen nahelegen]. Aber beides sind wirksame politische Narrative. Die Union arbeitet sich an 2015 als Trauma ab. Das ist ein Problem für die politische Debatte.“

Tatsächlich ist die AfD seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch das Kabinett Merz nicht geschrumpft, sondern gerade im Allzeithoch. Das liegt auch daran, dass die Union nicht nur die Sprache, sondern auch die flüchtlingsfeindliche Politik der AfD übernimmt. Solange die Migrations- und Asylpolitik in populistischer Weise ins „Zentrum der politischen Auseinandersetzung“ gestellt wird, profitiert davon die AfD. Medien und Politik schaukeln sich dabei wechselseitig hoch.

Dabei haben wir ja schon einmal erlebt, dass es auch anders geht. Wenn statt der „Flüchtlingskrise“ die Bewältigung der Herausforderungen der sozial-ökologischen Transformation und die tatsächlichen Probleme der Daseinsvorsorge im Lande in den Fokus geraten, stehen Rechtsradikale blank da.


Kommende Woche schreibt erstmals unser langjähriger #LaTdH-Autor Thomas Wystrach den „Re:mind“-Newsletter. Wir freuen uns sehr, dass er auch bei diesem neuen Aufschlag mit an Bord ist. Vermutlich wird es also um Catholica gehen …

Ein schönes Wochenende wünscht
Philipp Greifenstein


Ein guter Satz

„Die Frage ist, ob wir in einer Welt leben wollen, in der die Herren und die Starken sich durchsetzen, oder ob wir in einer Welt leben wollen, in der auch auf die Schwachen Rücksicht genommen wird.“

– Christiane Tietz, Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), im Interview zu ihrem neuen Buch über Friedrich Nietzsche im philosphie Magazin


Unterstütze uns!

Die Eule bietet Nachrichten und Meinungen zu Kirche, Politik und Kultur, immer mit einem kritischen Blick aufgeschrieben für eine neue Generation. Der unabhängige Journalismus und die Stimmenvielfalt der Eule werden von unseren Abonnent:innen ermöglicht. Mit einem Eule-Abo unterstützst Du die Arbeit der Redaktion, die faire Entlohnung unserer Autor:innen und die Weiterentwicklung der Eule.

Jetzt informieren und Eule-Abo abschließen!

Mitdiskutieren