10 Jahre Bullshit

Seit 10 Jahren wird über das Bullshit-Bingo zur Weihnachtspredigt geschmunzelt, gelacht und geschimpft. Philipp Greifenstein erklärt, warum das Bullshit-Bingo bis heute funktioniert.

Es gibt einen Geburtstag zu feiern! Nein, es ist noch nicht Weihnachten, sondern Advent. Die Geburt des Heilands feiern wir erst in ein paar Tagen. Doch der runde Ehrentag unseres Geburtstagskindes steht in engem Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest: Das Bullshit-Bingo zur Weihnachtspredigt wird 10 Jahre alt!

Seit 2012 begeistert das Bullshit-Bingo zur Weihnachtspredigt große und kleine Menschen, jung und alt, kirchennahe und -ferne Leute und bietet immer wieder Anlass zum Schmunzeln und diskutieren. An einem feierlichen Dezemberabend vor zehn Jahren entstand die erste Fassung des Bullshit-Bingos mit zunächst neun Feldern, im Jahr darauf wurde eine erweiterte Fassung (Version 2.0) mit schon 16 Feldern veröffentlicht. Und im Seuchenjahr 2020 fand die Version 3.0 des Bingos mit nun 25 Feldern regen Zuspruch. Vielleicht auch, weil es eh schon zu wenig zu lachen gab.

Mit dem Bullshit-Bingo startete ich vor zehn Jahren meinen Blog. Weil es binnen weniger Tage tausendfach angeschaut, heruntergeladen und in den Sozialen Netzwerken geteilt wurde, fand ich schnell Spaß am Schreiben im Netz. Seitdem krame ich das Bingo jedes Jahr kurz vor dem Christfest wieder heraus. Jedes Jahr finden neue Menschen es zum ersten Mal, lachen oder schütteln verärgert den Kopf. Jedes Jahr bietet das Bullshit-Bingo wieder Anlass, über die Predigt und Kirchensprache im Allgemeinen zu diskutieren.

Das Bingo hat längst seinen Weg in Fachpublikationen zur Predigtlehre gefunden, z.B. 2014 in die „Lebendige Seelsorge“. Hier in der Eule erschien kurz nach dem Start des Magazins ein Artikel, der das Bingo als Werkzeug der Predigtvorbereitung beleuchtet. Und das Bullshit-Bingo zur Weihnachtspredigt hat Geschwister bekommen: Über die Jahre hinweg entstanden Bingos zum Sonntagsgottesdienst und zu Kirchentagen. Doch keines davon erfreut sich so lang anhaltender Popularität wie das inzwischen in drei Versionen vorliegende Original.

Ein Hausmittel für Weihnachtsversehrte

Das liegt mit Sicherheit nicht daran, dass das Weihnachts-Bullshit-Bingo um Längen witziger ist, sondern an der Bedeutung des Weihnachtsfestes selbst. Auch an der Bedeutung der Predigt in Christvespern und Weihnachtsgottesdiensten. Denn das Bullshit-Bingo ist definitiv ein Hausmittelchen für Weihnachtsversehrte: Menschen, die bei der Predigt am heimeligsten Festtag der Christenheit vielleicht sogar zu gut zuhören. Menschen, die an der Kirchensprache leiden, Floskeln nicht ausstehen können, als Hörer:innen und Mitdenkende der Verkündigung ernst genommen werden wollen – und sich darum nicht anders zu helfen wissen, als zu lachen.

Obwohl das Bullshit-Bingo in hunderten, wenn nicht tausenden Christvespern gespielt wurde, ist mir kein einziger Fall zu Ohren gekommen, da tatsächlich jemand während der Predigt aufgestanden wäre und laut „Bullshit!“ gerufen hätte, wenn er/sie eine Reihe des Bingos ausgekreuzt hatte. Es geht beim Weihnachts-Bingo nicht darum, sich über die Gute Nachricht von der Geburt Jesu Christi lustig zu machen, oder jene Menschen zu verspotten, die sich mit vertrauten Sätzen am Festtag wohlfühlen. Es geht nicht um Störung, sondern darum, die Worte und Wörter der Heiligen Nacht ernst zu nehmen.

Der Erfolg des Bullshit-Bingos verdankt sich der Weihnachtsgeschichte selbst, die Menschen auch heute nicht loslässt. Zu Weihnachten zu predigen, ist eine irre Herausforderung. Wie soll man dieser Wahnsinnsgeschichte noch etwas hinzufügen? Soll man es überhaupt? Verlangt sie, braucht sie, verträgt sie Aktualisierungen? Wer wöllte sich auf der Kanzel mit dem großen Geschichtenerzähler Lukas gleichstellen? Es hat schon seinen Grund, dass – trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten – das Krippenspiel zum Heiligen Abend einen festen Platz in unseren Gottesdiensten hat. Nicht der kleinste davon ist sicher die Macht der Geschichte selbst. Den Weg an die Krippe gehen wir gerne in den Zeilen, die uns der Evangelist Lukas hinterlassen hat.

An Heiligabend 2022 ist in der evangelischen Gottesdienstordnung die Weihnachtsgeschichte aus dem Evangelium nach Lukas zugleich der Predigttext. Ich bin ja der Meinung, dass zur Christvesper ohnehin das Kind in der Krippe gepredigt gehört, aber natürlich sind die Bibeltexte der weiteren Lesungen nützliche Interpretamente, um aus dieser komischen Geschichte um ein Paar mit Kind nebst Hirten und Engeln Sinn für Predigt-Hörer:innen rauszuholen. Ein junger Pfarrer bekannte mir gegenüber darum vor ein paar Tagen, er empfände die Herausforderung, über die Lukasgeschichte zu predigen, als besonders groß: „Dieser Klassiker, da wird es hart!“

Fürchtet euch nicht!“ und „Euch ist heute der Heiland geboren!“, das sind große Sätze, mit denen man auf der Kanzel schwer mithalten kann. Darum wird Predigenden und Hörenden immer wieder besonders zu Weihnachten empfohlen, ihnen zu trauen. An Weihnachten zu predigen, bedeutet für nicht wenige Prediger immer noch und wieder, sich selbst zurückzunehmen, Liedern, Gebeten, den alten Geschichten und Weissagungen, der Stimmung Raum zu geben. „Ihr dürft euch nicht bemühen noch sorgen Tag und Nacht, wie ihr ihn wollet ziehen mit eures Armes Macht. Er kommt, er kommt mit Willen …“

„Dieses Jahr ist alles anders“ – Really?

Jedes Jahr schlagen Menschen mir neue Phrasen für das Bullshit-Bingo vor, das mit 25 Feldern ohnehin schon riesig geworden ist. Die Version 2.0 gefällt mir darum eigentlich bis heute am besten. Vorgeschlagen werden Floskeln, wie sie in vielen Predigten vorkommen. Z.B. wenn die Predigt-Hörer:innen in irgendetwas „mit hineingenommen“ werden oder sich zumindest danach fühlen sollen. Und es wird schrecklich aktuell:

Im Zentrum der 2020er-Version steht: „Dieses Jahr ist alles anders“. Ein Satz, der in den Corona-Jahren in unzähligen Gottesdiensten gesagt wurde, zur Begrüßung, in der Predigt, zur Entschuldigung. In das Bullshit-Bingo hat er es nicht allein deshalb geschafft, weil er so häufig gesagt wurde, sondern weil er tatsächlich eine Binse ist. Zu Weihnachten kommen Menschen nach einem Jahr mit seinen Schmerzen und Freuden, mit ihren Verletzungen und Hoffnungen in die Kirche. Jedes Jahr kommen sie als Andere, auch wenn sie den Weg zur Kirche schon Jahrzehnte lang finden. Und hoffentlich gehen sie immer wieder mal auch als Veränderte wieder nach Hause.

Es wäre ein Leichtes, das Bullshit-Bingo jedes Jahr mit neuen Aktualitäten anzureichern, die sich Prediger:innen landauf, landab aus dem Kreuz leiern. Manche halten ihre Ideen schlicht für unbestechlich. Dieses Jahr liegt ein Hinweis auf die Kälte nahe, die ja schon die Hirten auf dem Felde zu erleiden hatten. Darum ist es ja gar nicht schlimm, wenn wir die Heizungen mal runterdrehen und auch hier in der Kirche Energie sparen, oder? „Jesus kommt in kalte Kirchen. Und kalte Herzen. Er will uns von innen wärmen.“ Really? Auch das „Zusammenrücken“ und natürlich der Wunsch nach Frieden wurden dieses Jahr schon als sinnvolle Ergänzungen des Bingos vorgeschlagen. Und: Ist denn nicht die Geburt des Heilands sowieso die alles entscheidende „Zeitenwende“?

Ich will davon niemanden abhalten! Mit dem Bullshit-Bingo kann jede:r nach ihrer Fa­çon glücklich werden. Für mich verbindet sich mit ihm neben dem Spott über Sprachdrechslereien allerdings nach wie vor die Frage, wie man das Schwierig-Einfache der Weihnacht heute sagen kann.

Seit 2012 gab es unzählige Satire-Formate, die christliche und kirchliche Sprache, Verkündigung und Kirchenrealität auf die Schippe nehmen. Viele von ihnen rekurrieren auf besonders heftige Frömmigkeiten, von denen man sich mittels eines Lachers distanziert. So etwas nutzt sich natürlich schnell ab. Überhaupt sind die meisten Memes, Satire-Kanäle und -Formate erstaunlich kurzlebig, zumindest im deutschsprachigen Raum. Daran, dass das Bullshit-Bingo demgegenüber jedes Jahr neu „funktioniert“, ist der Heiland selbst schuld, glaube ich.

Auf einer Tagung zum Thema „Christus predigen“ in der Evangelischen Akademie Loccum, die in Kooperation mit dem Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur Wittenberg veranstaltet wurde, habe ich das im Herbst auf den Satz gebracht: „Für den Menschen von heute ist der Christus bedeutsamer noch als der historische Jesus.“ Sowohl in der Predigt als auch in der Publizistik halten wir uns viel zu häufig mit der „Jesus-Ebene“ auf („Hatte Jesus Geschwister?“, „Bitterkalt war es in Bethlehem.“). Viel spannender finde ich die Fragen: Was heißt Erlösung? Was ist Heil?

„Er ist das Licht, das in der Dunkelheit leuchtet und uns den Weg zeigt“

Eine Rückmeldung auf das Bullshit-Bingo von diesem Jahr gibt mir deshalb besonders zu denken. Der Twitterer @TheT3ngu hat die neue „Künstliche Intelligenz“ ChatGPT damit beauftragt, eine Predigt zu Weihnachten zu schreiben. Hier das Ergebnis:

Mir ist schon klar, dass der Text der Form nach und auch inhaltlich keine Predigt ist. Predigt ist auch Schriftauslegung, das kommt hier deutlich zu kurz. Und obwohl der Text so kurz ist, enthält er sehr viele erklärungsbedürftige Wörter und Ideen. Aber in einem anderen Sinne ist in ihm alles drin. Vielleicht sogar mehr, als sich manche Weihnachtspredigt heute traut. Gott selbst ist in Jesus auf die Welt gekommen, um uns zu retten. Deal with it!

Auf der Loccumer Tagung habe ich Wünsche an Prediger:innen formuliert: Zunächst, dass der Christus nicht als Rollenfigur, Chiffre und Vehikel, sondern als ganzer Mensch verkündigt wird: So verstanden steht Jesus, der Christus, weder als viriler Held, noch als Wellnessgottheit, noch als Projektionsfläche beliebiger Spiritualitäten zur Verfügung. „Christus predigen“ bedeutet, Leid, Sterben, Tod, das Kleinmachen, das Hinfällig- und Schwachwerden zu thematisieren. Traditionell gesprochen: Karfreitag nicht zugunsten von Ostern zu verschweigen.

Dann, dass vom Christus konkret gepredigt wird. Gerne auch mit Nennung seines Namens und Titels. In der Konkretion wünsche ich mir, als glaubender Christ ernst genommen zu werden. Der Gottesdienst als christlicher Kultus, so habe ich es einmal gelernt, bringt den Glauben zur Darstellung. Der Cultus ist kein missionarisches Event in dem Sinne, dass Prediger:innen den Hörer:innen Jesus Christus als Produkt vorzustellen haben, sondern mit deren Mitarbeit rechnen können. Wer in die Kirche geht oder sich online oder im Fernsehen mit Kirche umgibt, der oder die will womöglich wirklich was über Christus gepredigt haben. Auch und besonders zu Weihnachten.

Happy Birthday!