4 Jahre nix mehr normal
„Gotteskind und Satansbraten“ gibt es nun schon seit vier Jahren: Geprägt waren diese von der Corona-Pandemie. Auch bei der Aufarbeitung der Pandemiejahre haben Kinder und Jugendliche keine Priorität.
Meine Kolumne hat Geburtstag! Morgen zwar, aber sei es drum. Am 16. April 2020 habe ich zum ersten Mal „Gotteskind und Satansbraten“ geschrieben. Tatsächlich erinnere ich mich noch gut daran, wie ich an einem ungewöhnlich warmen Apriltag am Anfang des ersten Lockdowns auf der Terrasse saß, meinen Kindern bei ihren Wasserspielen im Garten zusah, mein Handy in der einen Hand, einen Kaffee in der anderen und mit Philipp über einen geeigneten Namen für dieses neue „Baby“ nachdachte.
Damals glaubte ich, dass alles gut werden würde. Nicht mit dieser Kolumne, da hatte ich ehrlicherweise meine ernsthaften Zweifel. Wer will lesen, was ich Mutti zu Hause über die Kirchenwelt denke und das in einer Zeit, in der Familien Gottesdienste allerhöchstens digital konsumieren konnten? Wie soll ich, als Nicht-Theologin meinen Platz inmitten von theoretischen Diskursen und Kirchen-Inside-Diskussionen finden?
Dass die Kolumne seit vier Jahren läuft, beweist, dass es doch irgendwie ganz okay geworden ist und meine Zweifel unbegründet. Danke an dieser Stelle an alle, die das hier treu Monat für Monat lesen, liken, kommentieren und teilen. Es bedeutet mir viel und ist ein gutes Zeichen dafür, dass die Eule-Leser:innenschaft nicht nur an Kirchen-Insides und theoretischen Diskursen interessiert ist, sondern sich vielfältig abholen lässt. Sogar mal mit Trash-TV.
Aber zurück zum Alles-wird-gut-Gefühl dieses Aprilnachmittages 2020. Das bezog sich natürlich auf den Wahnsinn, in dem wir uns kurz zuvor wiedergefunden hatten: die Pandemie. Damals dachte ich, dass wir das jetzt noch ein paar Wochen durchziehen, vielleicht bis zum Sommer und dann ist die Welt wieder die, die wir vorher kannten. Ich dachte auch, dass alle Verantwortlichen mit großem Bewusstsein und der nötigen Achtsamkeit für mögliche Folgen, die diese einschneidenden Einschränkungen auf alle haben werden, unterwegs sein werden. Ich glaubte naiv, dass wir das Geschehen später aufarbeiten. Ich ging auch tatsächlich davon aus, dass unsere Kinder keinen Schaden nehmen, nur weil mal ein paar Wochen alles stillsteht.
Was verloren gegangen ist
Ich hatte mich gründlich getäuscht. Allein die Tatsache, dass die Corona-Maßnahmen und ihre Folgen sich in diesen vier Jahren wie ein roter, thematischer Faden durch meine Kolumne ziehen, zeigt, dass vieles anders kam. Zunächst einmal waren es eben nicht nur ein paar Wochen, sondern am Ende Jahre, bis alle Maßnahmen wieder abgeschafft waren. Jahre!
Ich weiß noch, dass ich in diesem Frühling 2020 dachte, dass ich dankbar bin, dass meine Kinder noch so klein sind. Kinder, noch nicht in der Pubertät, noch keine Teenager, die das Zusammensein mit ihrer peer group so nötig für ihre Entwicklung brauchen. Nun – sie wurden genau das in diesen Jahren. Sie wurden groß in sich aneinanderreihenden, verschiedenen Lockdowns, unterbrochen von ein paar kleinen Zeitfenstern der sogenannten „neuen Normalität“.
Sie wurden ehemalige Grundschüler:innen, die nie eine Klassenfahrt erlebt hatten. Sie wurden Jugendliche, die nie auf Partys gingen. Sie wurden Siebtklässler:innen, die nie erlebt hatten, wie ein normaler Einstieg in eine weiterführende Schule funktioniert. Sie gingen in eine Musikklasse, in der Instrumentalunterricht verboten war. Ihre Reitstunden durften so lange nicht mehr stattfinden, bis sie das Interesse daran verloren hatten. Sie verlernten die Schritte ihres Tanzkurses und vergaßen die Namen der Kinder, die mit ihnen früher in den Kindergottesdienst gegangen waren.
Aber es wurde noch schlimmer. Sie verlernten, dass es normal war, mit anderen im Körperkontakt zu sein, Oma und Opa zu umarmen oder ihre Freund:innen. Sie wussten nicht, dass es mal okay gewesen war, in einem vollen Trampolin zu springen oder zu siebt im gleichen Zimmer zu übernachten. Sie kannten keine vollen Räume, in denen man dicht an dicht stand und hatten nie gesehen, wie ihre Lehrkräfte ohne Maske aussahen. Seltsam fanden sie das, als sie ihnen das erste Mal ins komplette Gesicht blickten. Die sahen ganz anders aus, als sie erwartet hatten.
„Ich habs schon immer gewusst!“
Man hätte von allein draufkommen können, dass diese Erfahrungen, die so oder ähnlich eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen machen mussten, nicht ohne Folgen bleiben können. Aber die Verantwortlichen haben hiervor die Augen verschlossen.
Ich gestehe ihnen zu, dass sie sich – wie wir alle – auf einem sehr schmalen Grat bewegten. Sie mussten schwierige Entscheidungen treffen, bei denen es im schlimmsten Fall um Leben oder Tod ging. Sie mussten vulnerable Gruppen schützen, hatten wenig Informationen und mussten unter Hochdruck reagieren. Ich hätte nicht tauschen wollen! Berücksichtigt man dies, ist auch jegliche Selbstgerechtigkeit, die jetzt diejenigen an den Tag legen, die die Maßnahmen schon immer kritisiert haben, völlig unangebracht. Dieses moralisierende „Ich habe es doch immer gesagt“ ist unerträglich unsympathisch und vor allen Dingen: das Gegenteil von hilfreich.
Ach ja – und es ist noch was, das sei hier auch gesagt: Es ist schlicht falsch! Denn „die“ Maßnahmen in ihrer Gänze und Vielfalt waren nicht komplett nutzlos und es gab auch, anders als sogar seriöse Medien ungeprüft irgendwo abschrieben, keine durch die RKI-Files geleakte politische Verschwörung, lediglich ein paar aus dem Zusammenhang gerissene und multiplizierte Sätze, die Querdenker:innen Wasser auf die Mühlen gaben.
Natürlich wissen wir heute mehr und manches auch besser. Ja, wir haben heute Informationen und Belege für Corona-Folgen, die man längst hätte erahnen können. Eine ganze Generation wurde in ihrer Entwicklung so sehr gehemmt, dass man das heute, wenige Jahre später, feststellen kann. Wir sehen es. Die, die vor Ort an der Basis arbeiten, schon länger, nach und nach sieht es aber auch eine breitere Öffentlichkeit, weil es erste, relevante Untersuchungen zu Spätfolgen der Maßnahmen im Bezug auf Kinder und Jugendliche gibt.
Hinzu kommt, dass sich mittlerweile zeigt, dass viele unserer europäischen Nachbarn, auf die wir während des Lockdowns mit Entsetzen und Unverständnis gezeigt haben, den richtigen Weg gegangen sind. Alle die nämlich, die die Schulen früh wieder geöffnet haben. Auch führende Politiker:innen und damalige Befürworter:innen von Schulschließungen räumen heute ein, dass diese ein Fehler waren und dass der entstandene Schaden in keinem Verhältnis zum Nutzen steht. Doch auch hier: Wer hätte es besser wissen können? Was wäre gewesen, hätten offene Schulen für eine rasante Virusausbreitung gesorgt und hätte eine Mutation Kinder besonders hart getroffen? Wer hätte sich in der Lage gesehen, eine richtige Entscheidung zu treffen? Zumal eins bis heute zu selten berücksichtigt wird, nämlich die Situation der Familien, für die ein Schulbesuch wie gewohnt tatsächlich aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen riskant war.
Es bringt heute also keinen weiter, Schwarze Peter von A nach B zu schieben oder sich selbstgerecht auf die Brust zu trommeln und an einer Liane schwingend „Ich habs immer gewusst, ihr Opfer!“ zu schreien. Davon bekommt kein Kind, kein:e Jugendliche:r verlorene Lebensjahre wieder.
Was lässt sich „nachholen“ – und was nicht?
Vielmehr müssen wir der schmerzhaften Wahrheit ins Auge sehen, dass wir eine Generation um so vieles gebracht haben, das wichtig gewesen wäre. Den ersten Kuss auf dem Schulfest, den Club-Besuch, die Klassenfahrt, die Schulhofprügelei, das Abhängen im Park, die rauschende Feier nach dem bestandenen Schulabschluss oder das Jahr im Ausland. Erstsemesterpartys und das Feierabendbier mit den neuen Kolleg:innen in der Ausbildung. Sich verlieben und streiten. Schwimmen lernen, verstecken, Lesenächte. Gemeinsam groß werden. Geheimnisse haben und zum ersten Mal mit der besten Freundin in die Stadt ins Kino fahren. Klavier spielen, Reiten gehen, Ferienlager. Kindergottesdienst, Jungschar, Jugendzentrum und so vieles mehr.
All das lässt sich nur bedingt nachholen. Manches gar nicht – und auch das tut weh. Ganz zu schweigen von den Zukunftschancen, um die so manche:r Jugendliche schlicht gebracht wurde, weil zu viel von dem nicht gelernt werden konnte, das für einen weiteren Bildungsweg entscheidend gewesen wäre. Diesen Punkt hätten wir übrigens ändern können. Lehrpläne hätten angepasst, Verpasstes nachgeholt, Manches gestrichen werden können. Prüfungen hätte man entschlacken, Schuljahre flexibler gestalten können.
Und natürlich hätte man zum Beispiel durch Luftfilter und durch eine sensible und transparente Gestaltung von Schutzmaßnahmen viel Druck und Stress aus dem digitalen und analogen Schulbetrieb nehmen können. Eltern schimpften auf Lehrer:innen, Lehrer:innen verwiesen auf die Schulleitung oder das zuständige Ministerium, die Cloud brach zusammen, nicht alle Mitarbeitenden haben sich gerade zu Beginn der Pandemie mit Ruhm bekleckert. Aber was bringt das Fingerzeigen? Wichtig wäre vielmehr, Fehler und Verbesserungsmöglichkeiten sachlich klar zu benennen, damit unser Bildungssystem auf Krisen wie eine Pandemie besser vorbereitet ist. Leider sehen wir eine solche Aufarbeitung sowohl in der Politik als auch vor Ort kaum.
Stattdessen wird von den Schüler:innen einfach erwartet, am Ende der Pandemie nach Plan zu funktionieren. Zurück bleiben diejenigen, die im „Homeschooling“ verloren gegangen waren, denen niemand helfen konnte, und viele Lehrkräfte und Mitarbeitende, die von den an sie gestellten Erwartungen überfordert waren. Auch von ihnen knabbern viele noch an dem, was da eigentlich passiert ist, bis hin zu konkreten gesundheitlichen und seelischen Beeinträchtigungen, die sie an der weiteren Arbeit als Lehrer:innen zweifeln lassen.
Weit entfernt von diesen Menschen gibt es – wieder einmal – eine sog. „Erwachsenenwelt“, in der sich Menschen gegenseitig mit Häme, Vorwürfen, Besserwisserei, Ideologie und Selbstgerechtigkeit überziehen. Kinder, Jugendliche und Familien mit ihren Bedürfnissen haben immer noch keine Priorität. Auch nicht bei der sog. „Aufarbeitung“ der Corona-Pandemie. Ich finde, darauf sollten wir aber Wert legen, egal ob nun eine Enquete-Kommission des Bundestages kommt oder auf anderen Wegen versucht wird, Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Jetzt ist die Zeit, die Perspektiven junger Menschen wirklich mitzudenken! Vier Jahre „Gotteskind und Satansbraten“-Kolumne über Probleme, Herausforderungen und auch schöne Momente, das sind eben auch vier Jahre Pandemie und ihre Folgen. Das hatte ich mir im April 2020 nicht vorstellen können.
Alle Ausgaben der Familienkolumne „Gotteskind und Satansbraten“ von Daniela Albert in der Eule.
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