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Ukraine & Israel: Takeaways von der ÖRK-Vollversammlung 2022

Was wurde bei der Vollversammlung des Weltkirchenrates in Karlsruhe vor einer Woche besprochen und beschlossen? Die wichtigen Erkenntnisse für die Zukunft der Ökumene:

Vom 31. August bis zum 8. September 2022 fand in Karlsruhe die 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) statt. Zum ersten Mal in seiner Geschichte traf sich der Weltkirchenrat in Deutschland. Für alle, die keine Zeit gefunden haben, das Geschehen zu verfolgen, hier die wichtigsten Ergebnisse der ökumenischen Versammlung zum Ukraine-Krieg und zur kontroversen Befassung mit dem Nahost-Konflikt:

1. Ukraine-Krieg

Im Vorfeld der Vollversammlung standen besonders zwei Streitthemen im Zentrum der Aufmerksamkeit: Der Umgang der Kirchen mit dem Ukraine-Krieg und eine Israel-Resolution (s. u.). Der Zentralausschuss des ÖRK, der zwischen den Vollversammlungen, die aller acht Jahre an verschiedenen Orten der Erde stattfinden, die Arbeit des ÖRK beaufsichtigt und leitet, hatte beschlossen, trotz des russischen Angriffskrieges in der Ukraine die Vertreter des Moskauer Patriarchats nicht von der Vollversammlung in Karlsruhe auszuladen.

Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) ist die größte Mitgliedskirche des Weltkirchenrates. Ihm gehören evangelische, anglikanische und orthodoxe Kirchen an, die römisch-katholische Kirche hat Gaststatus. Zur ROK unter Leitung des Moskauer Patriarchen Kyrill gehören Kirchen in Russland, Belarus, dem Baltikum und in weiteren Ländern Europas und Asiens. Auch in Deutschland gibt es orthodoxe Gemeinden, die dem Moskauer Patriarchat unterstellt sind. Aufgrund dieser Vielfalt innerhalb der ROK wollte man in Karlsruhe den ökumenischen Dialog fortsetzen, obwohl die Moskauer Führung um Kyrill den Angriffskrieg Russlands religiös legitimiert und propagandistisch unterstützt (wir berichteten hier, hier & hier in der Eule).

Um dem Patriarchat bei diesem wichtigen Thema nicht die Bühne zu überlassen, wurden Vertreter:innen der orthodoxen Kirchen in der Ukraine eingeladen. Dort gibt es zwei größere orthodoxe Kirchen, die sich allerdings häufig uneins sind (wir berichteten). Außerdem haben diese Kirchen kein Stimmrecht, weil sie (noch) nicht Mitglied im ÖRK sind. Während der Beratungen berichteten die Botschafter:innen von den Zuständen in der kriegsgebeutelten Ukraine und übten scharfe Kritik am Moskauer Patriarchen (mehr hier & hier).

Erzbischof Yevstratiy von Chernihiv und Nizhiyn (Ukraine) bei seiner Rede während des Themenforums Europa am 2. September (Foto: Albin Hillert / WCC)

Eine Erklärung mit Defiziten

Am Ende der Vollversammlung beschlossen die Delegierten ein Statement („Krieg in der Ukraine, Frieden und Gerechtigkeit in der Region Europa“, auf Englisch, auf Deutsch) in dem der russische Angriffskrieg verurteilt wird: Die Toten und Vertriebenen werden beklagt und auch die Existenz von Gräueltaten erwähnt, „die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen könnten, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt sowie der stark gestiegenen Gefahr, Opfer von Menschenhandel zu werden“. Die Gefahr eines Reaktorunfalls im AKW Zaporizhzhia wird erwähnt, Kriegsfolgen wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Migration in den europäischen Anrainerstatten werden betrachtet.

Die Vollversammlung bekräftigte („strongly affirms“) den Beschluss des ÖRK-Zentralausschusses vom Juni 2022, der den Krieg als „illegal und nicht zu rechtfertigen“ verurteilte. Das Statement fährt fort:

„Als Christinnen und Christen aus verschiedenen Teilen der Welt erneuern wir den Ruf nach einem sofortigen Waffenstillstand, um das Sterben und die Zerstörung zu stoppen, und nach Dialog und Verhandlungen, um einen nachhaltigen Frieden zu erreichen.“

Der ÖRK appelliert („appeal“) an „an alle Konfliktbeteiligten, die Grundsätze des internationalen Völkerrechts insbesondere im Hinblick auf den Schutz der Zivilbevölkerung und der zivilen Infrastruktur sowie die humane Behandlung von Kriegsgefangenen zu respektieren“.

Die Vollversammlung schloss sich außerdem der Erklärung des Zentralausschusses an, dass „Krieg nicht mit Gottes Natur und seinem Willen für die Menschheit („God’s very nature and will for humanity“) vereinbar ist und gegen unsere grundlegenden christlichen und ökumenischen Prinzipien verstößt“. Man lehne daher („reject“) „jeden Missbrauch religiöser Sprache und religiöser Autorität zur Rechtfertigung bewaffneter Angriffe und von Hass ab“.

Man wolle außerdem für die betroffenen Menschen beten und rufe die Kirchen auf, sich um die Opfer des Krieges zu kümmern. Auch halte man an der Notwendigkeit des Dialogs zwischen den Kirchen der Region fest: „Wir unterstreichen die Berufung und die Verpflichtung der ÖRK-Mitgliedskirchen, nach Einheit zu streben und der Welt gemeinsam zu dienen.“

Appell „an beide Seiten“

Insgesamt handelt es sich bei der Erklärung um eine starke Verurteilung des Ukraine-Krieges. Trotzdem hält der ÖRK – wie auch Papst Franziskus – Äquidistanz zu den Kirchen in Russland und der Ukraine und damit mittelbar auch zu den Kriegsparteien. Zwar richtet sich der Appell, auf religiöse Legitimation des Angriffskrieges zu verzichten, eindeutig an das Moskauer Patriarchat. Dies wird aber nicht explizit deutlich gemacht. Vielmehr richtet die Vollversammlung sowohl an „die Kirchenleitung in Russland wie auch in der Ukraine“ den Appell, „ihre Stimmen zu erheben, um gegen die anhaltenden Tötungen, die anhaltende Zerstörung, Vertreibung und Enteignung der Menschen in der Ukraine Stellung zu beziehen“.

Hätte die Vollversammlung die Unterstützung des Krieges durch das Moskauer Patriarchat deutlicher benannt, hätten dessen Delegierte der Erklärung womöglich nicht zugestimmt. Als Kompromisspapier kann das Statement der Vollversammlung, trotz aller Defizite bei der klaren Bennennung von Verantwortlichen für sich in Anspruch nehmen, dass alle Mitgliedskirchen ihm zugestimmt haben.

Die Vollversammlung wünscht sich darüber hinaus eine aktive Rolle der Ökumene beim Dialog zwischen Russland und der Ukraine. Zumindest in Karlsruhe ist dieser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen. Die (zum Teil untereinander zerstrittenen) ukrainischen Gäste und die ROK-Delegation traten in keinen Dialog miteinander. Sowieso entzogen sich die Vertreter des Moskauer Patriarchats nach Darstellung mehrerer Beobachter:innen einer kritischen Auseinandersetzung so weit wie möglich (wir berichteten).

2. „Apartheid“-Antrag zum Nahost-Konflikt

Im Vorfeld der Vollversammlung wurden Befürchtungen geäußert, der ÖRK könnte „eine zweite Documenta 15“ produzieren: Ein „Fanal des Antisemitimus“ ausgerechnet in Deutschland. Hintergrund war ein Antrag der anglikanischen Kirche aus Südafrika, der eine Verurteilung Israels als „Apartheid-Staat“ forderte. Besonders in Deutschland wurde dieses Ansinnen heiß diskutiert und abgelehnt (wir berichteten).

Tatsächlich wurde ein Israel-Antrag eingebracht und fand auch die Unterstützung weiterer Delegationen von Kirchen aus dem globalen Süden. Besonders Kirchen in Afrika sehen die Palästinenser in einer ähnlichen Situation, wie sie selbst sie unter der Vorherrschaft der Weißen erlebt haben. Die „Apartheid“-Debatte um Israel ist Teil des (Post-)Kolonialismus-Diskurses. Außerdem wünschen sich die Kirchen in Palästina und in arabischen Ländern die Solidarität ihrer christlichen Geschwister. Ihnen geht es um die eigene Sicherheit und Religionsfreiheit im von Gewalt geprägten Nahen Osten.

Die gastgebenden Kirchen in Deutschland standen also vor der Herausforderung, zugleich die post-kolonialistischen Perspektiven der Kirchen des globalen Südens sowie die Interessen der arabischen Christ:innen wahrzunehmen und auf die Gefahr von israelbezogenen Antisemitismus hinzuweisen. Ein anstrengendes Geschäft, weil einige Vertreter:innen der südafrikanischen Kirchen es rundweg ablehnen, in ihrer Israelkritik auch antisemitische Motive wiederzuerkennen. Es überlagern sich hier also politische und theologische Diskussionen:

Da wäre die immer noch verbreitete Ansicht, dass Gott sich mit der Kirche ein „neues Israel“ erwählt habe: Ein neues „heiliges Volk“, das die Juden in dieser Funktion abgelöst habe. Daher sei nicht nur die Mission unter Juden nötig, aus der Ersterwählung Israels dürften auch keine politischen Privilegien abgeleitet werden. Die Kirchen in Deutschland sind nach dem Holocaust endgültig zu einer Wertschätzung der bleibenden Erwählung Israels als Volk Gottes durchgedrungen. Das hat auch Implikationen für den Umgang mit dem Staat Israel als Heimat des jüdischen Volkes. Diese theologischen Erkenntnisse sollten von den deutschen Kirchen in den weltweiten ökumenischen Dialog stärker eingebracht werden.

Auch was die historisch-politische Dimension des Israel-Palästina-Konflikts angeht, können die Kirchen des Westens / des globalen Nordens, auch aus der eigenen Verstrickung in den Kolonialismus heraus, mit guten Gründen darauf beharren, dass der Staat Israel eben keine westliche Kolonialmacht ist. Auch diese Frage bedarf unter den ÖRK-Mitgliedskirchen einer weiteren Klärung.

Beide Diskussionstränge sind nicht unbedeutend dafür, wie man die israelische Besetzung des Westjordanlandes, Ostjerusalems, des Gazastreifens und der Golanhöhen bewertet. Israel selbst begründet die Besetzung der unterschiedlichen Gebiete historisch, theologisch und mit seinen Sicherheitsinteressen. In diesem Kontext würde eine Verurteilung Israels als „Apartheidsstaat“ durch den ÖRK den Konflikt noch weiter verkomplizieren, denn ein „verbrecherisches Regime“ könnte wohl kaum legitime Sicherheitsinteressen formulieren.

Mit Rücksicht auf die Gastgeber, aber ohne jüdische Perspektive

Die Delegierten aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) – voran die EKD-Auslandsbischöfin Petra Bosse-Huber – drangen in den Beratungen darauf, in der Erklärung der Vollversammlung auf den „Apartheid“-Begriff zu verzichten. Sie begründeten dies u.a. mit der deutschen Geschichte. Dem entgegen steht die langjährige Vorreiterrolle des ÖRK beim Kampf gegen rassistische Unterdrückung, z.B. auch beim Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Eine Lösung im Streit um die unterschiedlichen Geschichtsdeutungen wird ohne eine vertiefte theologische Diskussion nicht möglich sein.

Die von der ÖRK-Vollversammlung schließlich verabschiedete Erklärung „Streben nach Gerechtigkeit und Frieden für alle im Nahen Osten“ (auf Englisch, auf Deutsch) hält den Dissens in der „Apartheid“-Frage fest:

Kürzlich haben zahlreiche internationale, israelische und palästinensische Menschenrechtsorganisationen und juristische Instanzen Studien und Berichte veröffentlicht, in denen steht, die Politik und die Maßnahmen Israels liefen auf eine „Apartheid“ unter dem Völkerrecht hinaus. Innerhalb dieser Vollversammlung unterstützen gewisse Kirchen und Delegierte den Gebrauch dieses Begriffs nachdrücklich und machen geltend, er erkläre die Realität der Menschen in Palästina/Israel sowie die Position unter dem Völkerrecht zutreffend, während andere den Begriff unangemessen, nicht dienlich und schmerzhaft empfinden („inappropriate, unhelpful and painful“).

Wir sind in dieser Hinsicht nicht einer Meinung („We are not of one mind on this matter“). Wir müssen uns nach wie vor mit diesem Problem befassen, während wir auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens weiterhin zusammenarbeiten. Wir beten, dass der ÖRK fortfährt, sichere Orte für Gespräche und Zusammenarbeit für seine Mitgliedskirchen bereitzustellen, im Streben nach Wahrheit und für die Arbeit für einen gerechten Frieden unter allen Menschen in der Region.

Die EKD-Delegation hat sich also mit ihrer Kritik am „Apartheid“-Begriff weitgehend durchgesetzt. Nicht nur stellt die ÖRK-Vollversammlung klar, dass mit ihm nicht die offizielle Position des Weltkirchenrates ausgedrückt ist, die Erklärung benennt auch deutlich, dass der Begriff als „schmerzhaft“ empfunden wird. Beobachter:innen erklärten, die Vollversammlung habe damit Rücksicht auf die deutschen Gastgeber genommen, dies gilt allerdings insbesondere für den interreligiösen Dialog mit dem Judentum. Doch jüdische Perspektiven scheinen innerhalb des Weltkirchenrates nur wenig Beachtung zu finden. Dafür ist diese Erklärung der Vollversammlung, in der Juden noch nicht einmal vorkommen, leider ein echter Beweis.

Es wird spannend bleiben: Der neue ÖRK-Generalsekretät Jerry Pillay aus der Presbyterianischen Unionskirche im südlichen Afrika sprach sich in der Vergangenheit offen für die Verwendung des „Apartheid“-Begriffs aus. Der bisherige Dekan der Fakultät für Theologie und Religion der Universität Pretoria übernimmt sein neues Amt im Januar 2023.


Der Artikel wurde am 7.12.2022 aktualisiert.