Ökumenischer Kirchentag: „Macht ohne Verantwortung ist herzlos“
(Fast) ohne Betroffene diskutieren die Kirchen auf dem ÖKT den sexuellen Missbrauch: Wir dokumentieren hier die Statements von Johanna Beck und Katharina Kracht, die sich in den Betroffenenbeiräten ihrer Kirchen engagieren:
Unter den Überschriften „Eine Stunde zu Kirche und Macht“ und „Macht ist nicht gleich Autorität!“ hat sich der 3. Ökumenische Kirchentag (ÖKT) heute Vormittag mit einem Potpourri kirchlicher Brennpunkte beschäftigt: Auf der Tagesordnung zum Beispiel der Umgang mit Geld, die Machtfragen auf dem „Synodalen Weg“ und vor allem der sexuelle Missbrauch.
Es wurde deutlich, dass es so nicht geht. Eine solche Themenbreite in einer Stunde abzuhandeln bedeutet, wie die ModeratorInnen richtig feststellten, dass jedes Thema nur angerissen werden kann. Schade! Und unnötig. Ja, es ist ärgerlich, dass „wir nicht zusammen in Frankfurt (Main) sein können“, wie den Zuschauer:innen im Kirchentags-TV immer wieder gesagt wird, aber Zeit haben wir doch auch am heimischen Bildschirm.
Teil der Stunde zu Kirche und Macht waren Statements von zwei Betroffenenbeirätinnen: Johanna Beck, Mitglied im Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), und Katharina Kracht, die dem Anfang der Woche ausgesetzten EKD-Betroffenenbeirat (wir berichteten) angehört. Beiden wurden wenige Minuten für ihre Stellungnahmen zugesagt.
Aufgrund eines Missverständnisses wurde das Statement von Katharina Kracht kurzerhand zu einem ungelenken, weil unangekündigten Interview, an dessen Ende klar war: Hier ist gerade etwas schiefgelaufen. Die ModeratorInnen bemühten sich Katharina Kracht wieder auf den Sender zu bringen, wo sie wenig später – nach einer Tanzeinlage und einem Impuls zum Thema Geld, so geht es hier durcheinander – ihr Statement einbringen konnte. Und sie kritisierte live on air den ÖKT dafür, dass im Rahmen der Beschäftigung mit dem Thema Macht Betroffenen nur so wenig Raum gegeben wurde.
Dabei zeigt Katharina Krachts Missbrauchsgeschichte eindrücklich, dass Kirchentage keine neutralen Vermittler zwischen Kirchen und Gesellschaft sind, sondern Orte, an denen Missbrauch geschehen kann. Und, dass sie deshalb und aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit den Kirchen selbst einen Aufarbeitungsprozess benötigen. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass man Betroffene heute durch die häufige Einblendung von Triggerwarnungen schützen will.
Wir dokumentieren hier mit ihrem freundlichen Einverständnis die Statements von Katharina Kracht und Johanna Beck:
„Macht ohne Verantwortung ist herzlos“
Von Katharina Kracht
Der Betroffenenbeirat sollte die Evangelische Kirche bei der Aufarbeitung sexueller Gewalt unterstützen. Diese Woche wurden wir von der Kirche aufgelöst. Das ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man Macht nicht ausüben darf.
Betroffene von Missbrauch haben erlebt, wie Täter immense Kontrolle über uns ausübten. Das hat Auswirkungen, noch Jahre und Jahrzehnte später. Ich hatte mir geschworen, nie wieder etwas mit einem Kirchentag zu tun zu haben. Ich bin in den 1980er- und 1990er-ahren von einem Pastor der Landeskirche Hannovers missbraucht worden. Der Missbrauch hat sich über fast 10 Jahre erstreckt und hat unter anderem auf zwei Kirchentagen stattgefunden.
Dieser Missbrauch war nur möglich, weil der Pastor qua seines Amtes über Macht und Respekt verfügte – und weil andere schwiegen. In der Vorgängergemeinde hat dieser Pastor etliche Mädchen belästigt und missbraucht. Mindestens drei davon haben sich an eine Kirchenvorsteherin gewandt. Sie hat abgewiegelt, den Pastor und die Gemeinde „geschützt“. Als Erwachsene wäre sie in der Lage gewesen, die Macht des Täters zu brechen. Aber im Gegenteil: die Mädchen dort wurden nicht geschützt, sondern der Täter. Und so wurde auch ich nicht geschützt.
Macht ohne Verantwortung ist herzlos.
Ich muss Ähnliches erleben, seitdem ich mich in der evangelischen Kirche gegen Missbrauch engagiere:
Die Entscheidung, den Beirat aufzulösen, hat die Kirche im Alleingang getroffen. Wir hatten lediglich einen 90-minütigen Austausch dazu.
Nach der einseitigen Entscheidung, den Betroffenenbeirat aufzulösen, gab es eine Pressemitteilung der EKD. Diese war voller Verkürzungen und Halbwahrheiten. Unsere Perspektive wurde ausradiert. Das ist Machtmissbrauch – und sehr typisch für den evangelischen Kontext, in dem gerade Sprache und Rhetorik immer wieder zum Machterhalt eingesetzt werden.
Dieses Vorgehen ist insgesamt charakteristisch dafür, wie Betroffenenbeteiligung in der Evangelischen Kirche läuft. Mit ihrer Macht und gerade auch mit ihrer Diskursmacht geht die Evangelische Kirche ohne großes Verantwortungsbewusstsein um. Ihre Deutungshoheit stellt sie nicht in Frage. Ihre Macht setzt sie mit ihrem Apparat, den vielen hauptamtlichen Strukturen durch – Betroffene bleiben entsprechend machtlos.
Ich kann die Gläubigen, die Menschen, die noch an ihrer Kirche festhalten, nur auffordern, wirklich hinzuschauen: Bei Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, aber auch beim Machtmissbrauch, der uns an so vielen Stellen begegnet, wenn es um Aufklärung und Aufarbeitung geht. Schauen Sie hin – auch wenn es unbequem ist.
„Sexueller Missbrauch ist vor allem auch Missbrauch von Macht“
Von Johanna Beck
„Sexueller Missbrauch ist vor allem auch Missbrauch von Macht“ – So steht es in der MHG-Studie, in der Studie, die die katholische Kirche mit ihren verheerenden Zahlen und Fakten zutiefst erschüttert hat. Die Studie, die von 3 677 Missbrauchsopfern spricht und die doch nur die Spitze eines riesigen, dunklen Eisbergs abbildet.
Was bedeutet dies für die Betroffenen? Es bedeutet, dass ihnen sexualisierte Gewalt in der Person eines übermächtigen Priesters begegnet ist. Es bedeutet, dass sie diesen „extremen Auswuchs“ von Machtmissbrauch am eigenen Leib und an der eigenen Seele erfahren mussten und dass ihr Leben von einer Sekunde auf die andere in ein Über-Leben katapultiert wurde.
Was bedeutet dies für die Kirche? Für eine Kirche, die nachweislich missbrauchsbegünstigende Strukturen besitzt und die – Zitat Bischof Wilmer (Hildesheim) – den Machtmissbrauch „in der DNA trägt“?
Eine mögliche Antwort darauf findet man in der Bibelstelle, die auch das Leitwort des Ökumenischen Kirchentages bildet – im Imperativ: „Geht hin und seht nach“. Genau dies sollte die Kirche angesichts der Missbrauchskrise auch tun: hingehen – das heißt: nicht weglaufen, sich nicht wegducken, sich der Problematik stellen und dahin gehen, wo es vielleicht auch wehtut. Und dann hinsehen – sprich: sich nicht abwenden, das Dunkle und Unerträgliche genau ansehen, sich der Situation stellen, den Abgrund nicht scheuen, sondern ihn auszuleuchten und ausgiebig zu betrachten.
Und dann darf es natürlich nicht beim Hingehen und Hinsehen bleiben – all das muss in ein aktives Handeln münden! Das heißt zum einen, dass die Missbrauchs- und Vertuschungsgeschehen der Vergangenheit schonungslos ans Licht gebracht, aufgearbeitet und Täter und Vertuscher benannt und belangt werden müssen. Das heißt zum anderen, dass Betroffene für all das erlittene Leid angemessen entschädigt werden müssen. Und das heißt, dass die Kirche aus ihren Fehlern lernen und (z.B. durch gute Präventionsarbeit) alles daran setzten muss, dass die Kirche in Zukunft wieder ein besserer und sichererer Ort für die ihr anvertrauten Kinder, Jugendliche und Erwachsene wird.
Dabei darf man aber nicht vergessen, dass Prävention nicht nur Schutzkonzepte und Schulungsmaßnahmen umfasst, sondern dass die Reform missbrauchsbegünstigender (Macht-)Strukturen und Denkmuster in der gesamten Kirche auch eine Form von Prävention darstellt. So ist es – gestützt durch die Ergebnisse und Empfehlungen der MHG-Studie – dringendst geboten, die hierarchisch-autoritären und männerbündischen Machtstrukturen radikal zu reformieren und für mehr Partizipation, Kontrolle und Transparenz zu sorgen. Und da über (Macht-)Missbrauch in der katholischen Kirche nicht gesprochen werden kann, ohne auch die Vermachtung der Geschlechterverhältnisse zu benennen, muss auch die Diskriminierung von Frauen in der katholischen Kirche noch einmal im Lichte der Missbrauchskrise betrachtet – und beendet werden.
Auf dass die Kirche wieder demokratischer, geschlechtergerechter, sicherer, empathischer, zukunftsfähiger – und somit evangeliumsgemäßer werde.
(Das Statement von Johanna Beck wurde vor der Auflösung des EKD-Betroffenenbeirates im Vorfeld des 3. Ökumenischen Kirchentages verfasst und für das Kirchentags-Programm aufgezeichnet.)