Verteidiger seiner Kirche
Papst emeritus Benedikt XVI. ist heute im Alter von 95 Jahren gestorben. Als Theologe, Kirchenmann und Papst prägte Joseph Ratzinger seine Kirche im langen 20. Jahrhundert. Ein Nachruf.
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist tot. Joseph Ratzinger, der als Papst der römisch-katholischen Kirche von 2005 bis 2013 vorstand, verstarb am heutigen Vormittag im Kloster Mater Ecclesiae im Vatikan. Ab dem 2. Januar wird sein Leichnam im Petersdom aufgebahrt, am 5. Januar wird Papst Franziskus das Requiem für seinen Vorgänger auf dem Petersplatz leiten. Weltweit bekunden Staatoberhäupter und Religionsvertreter:innen ihre Anteilnahme.
Geboren wurde Joseph Ratzinger 1927 in eine Welt, die es heute nicht mehr gibt. Seine Herkunft aus dem beschaulichen Katholizismus des ländlichen Bayerns hat ihn als Theologieprofessor, Erzbischof von München und Freising, Präfekten der Glaubenskongregation und Papst nie losgelassen. Auch als Bischof von Rom und Stellvertreter Jesu Christi ist er seiner bayerischen Heimat und der Frömmigkeit seiner Kindheit treu geblieben.
Von der Suche nach dem einfachen Glauben seiner Kindheit war Ratzinger Zeit seines Lebens bewegt, ihn wollte er verteidigen. Als „Verteidiger des Glaubens“ wurde er deshalb zum Verteidiger einer Kirche, in welcher allein er die Wahrheit des Glaubens rein und unverletzt aufbewahrt sah. Von daher erklärt sich sein Wirken als Glaubenswächter, sein Kampf gegen Befreiungstheologen und die „Diktatur des Relativismus“, und auch seine Nähe zu katholischen Gemeinschaften, in denen er den einfachen, autoritativen Glauben seiner Kindheit vermutete. In diesem Streben war der Mensch Joseph Ratzinger oft blind dafür, dass unter dem Deckmantel göttlicher Autorität auch die Kirche selbst zu einem Werkzeug des allzumenschlich Bösen werden kann.
Dass Ratzinger so hoch von der römischen Kirche dachte und sich der Verteidigung ihres alleinigen Wahrheitsanspruches, ihrer Traditionen und ihrer Macht widmete, erklärt sich aus einer Biographie, in der das katholische Elternhaus und die Erinnerung an die Kinderkirche als Stabilitätsanker in einer fragwürdig gewordenen Welt dienten. Dass auch die Autorität der Kirche fragwürdig geworden worden war, zunächst durch die Geistesbewegungen der Moderne und dann durch das moralische Desaster des Missbrauchs, fand in diesem Weltbild selten Raum.
Wer heute die römische Kirche sucht, die Ratzinger imaginierte und in deren Dienst er seinen Intellekt stellte, wird sie nur an den Rändern von Kirche und Gesellschaft finden. Seine liturgischen Vorlieben, die Hochachtung vor dem geistlichen Amt und die Ablehnung von Pluralismus und „Zeitgeist“ finden sich in geistlichen Gemeinschaften, die außerhalb der römischen Kirche stehen oder solchen, die nur Kraft der Duldung durch ihn und seine Anhänger gerade so in den Grenzen der Kirche gehalten werden. Es gehört zur Tragik Ratzingers, die autoritäre Versuchung des Katholizismus nicht erkannt zu haben, ja, ihr selbst mehr als einmal erlegen zu sein.
In den kommenden Tagen werden Anhänger wie Kritiker Ratzingers ein weiteres Kapitel der Befassung mit Leben und Werk dieses wirkmächtigen Theologen und Kirchenmannes schreiben. Darin werden sich alte und bleibende Verletzungen genauso wiederfinden wie manches Wort der persönlichen Dankbarkeit. Vielen Menschen hat Benedikt XVI. als Prediger und theologischer Autor Orientierung geboten. Seine Bücher gehören zu den letzten christlichen Bestsellern des Abendlandes. Auch wem die Hermetik seines Gedankengebäudes nicht zusagt, wird doch Denkfiguren und Gedankenstränge finden, die es lohnt nachzuzeichnen und aufzunehmen.
Die „Ökologie des Menschen“
In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag im September 2011 legte der damalige Papst den versammelten Politiker:innen und Würdenträger:innen eine Bibelgeschichte aus. Ganz im Stile des Theologieprofessors, der er im Herzen noch immer war, und von dem seine Kritiker:innen sagen, er wäre es wohl besser auch realiter geblieben. Zu Beginn seiner Herrschaft als König erbittet Salomo von Gott ein „hörendes Herz“ (1. Könige 3,9). Benedikt entwickelt ausgehend von diesem Bibelwort kluge Gedanken zum Verhältnis von Natur, Vernunft und gerechtem Machtgebrauch. Maßstab des politischen Handelns müsse das „Mühen um Gerechtigkeit sein, um so die Grundvoraussetzung für Frieden zu schaffen“.
In der Rede entfaltet er seine Vorstellung von einer „Ökologie des Menschen“. Der Mensch sei „nicht nur sich selbst machende Freiheit“, er sei Geist und Wille, aber er sei auch Natur, erklärt Benedikt seinen Zuhörer:innen. Nur wenn sich Geist und Wille seiner Natur gemäß entfalten, verwirkliche der Mensch tatsächlich seine gottgegebene Freiheit. Was als Verteidigung der katholischen Naturrechtslehre verstanden werden kann, als Absage an menschliche Allmachtsvorstellungen, als Kritik an neueren biologischen und medizinischen Entwicklungen oder als Appell für mehr Natur-, Klima- und Artenschutz, enthält – wohl unabsichtlich – auch einen Schlüssel zum Verständnis eines Lebenswerkes wie dem des nun verstorbenen Joseph Ratzinger.
Viel Aufmerksamkeit wird bei dessen Deutung seinen Leistungen und Versäumnissen geschenkt werden. Als erster Papst traf er Missbrauchsbetroffene, entließ in größerem Umfang verbrecherische Priester und auch manche Bischöfe aus ihren Pflichten. Und doch fand er, gefangen in seinen Überzeugungen, keinen Weg, vom Missbrauch in der Kirche anders zu sprechen als von einer von außen in die geliebte Institution hineingetragenen Sünde. Was er als Erzbischof von München und Freising, als Präfekt der Glaubenskongregation und auch als Papst über die Jahrzehnte hinweg bei der Aufklärung, Bestrafung, Entschädigung und Aufarbeitung des sexuellen und geistlichen Missbrauchs versäumt hat, wiegt schwer – auch wenn es ihn gerade nicht von anderen führenden Männern seiner Kirche unterscheidet.
Ebenso widersprüchlich fällt der Befund bezüglich seines Rücktritts 2013 aus, der bis heute nicht allein Kirchenrechtlern Rätsel aufgibt. Natürlich liegt der Geste des Rücktritts ein Moment der Anerkennung der eigenen Hinfälligkeit als Mensch zugrunde. Auch der Stellvertreter Christi, wie einer der offiziellen Papsttitel noch immer heißt, wird alt, krank und ist den Pflichten des Amtes nicht mehr gewachsen. Besser ist’s darum, er legt sie beiseite. Und doch ist rund um seine persönlichen Beweggründe und die rechtliche und alltägliche Ausgestaltung eines Amtes des Emeritierten Papstes so viel ungeklärt, dass man seinen Rücktritt wohl einen Husarenritt, aber keine durchdachte Reform der Papstamtes nennen kann. Mit den kirchenpolitischen Folgen dieses Alleingangs hat sein Nachfolger Franziskus bis heute zu kämpfen.
Keine Hagiographie
Über den Geist und Willen Ratzingers, die Bedeutung seines Denkens und Handelns für die Kirche und die Welt wird man in den kommenden Tagen und wohl auch Jahren genügend nachzudenken haben. Sie bleiben in unwiderruflicher Weise an die Natur, die Geschichte, die Herkunft und die Grenzen seiner Person gebunden. Ob er es besser machen wollte? Ob er sich am Ende seines Lebens gegrämt und geschämt oder – wie es seine letzten Äußerungen nahelegen – missverstanden und zu Unrecht angegriffen gefühlt hat? Auch das wird man im Lichte dessen betrachten müssen, was ein Mann wie er überhaupt zu leisten im Stande gewesen ist.
Dabei entfernt man sich naturgemäß weit von der Erzählung seines Lebens als Hagiographie, wie sie die römische Kirche in den kommenden Stunden und Tagen sicher präsentieren wird, sondern landet in der äußerst profanen Lebenserzählung eines Kriegskindes der Flakhelfergeneration aus einfachen Verhältnissen; in einer Aufsteigerbiographie, die vor dem Hintergrund einer moralisch desorientierten und sehr bald sehr wohlhabenden Tätergesellschaft spielt; und bei den – mit zunehmenden Alter umso schwermütigeren – Rückzugsgefechten eines Mannes, dessen Selbst- und Weltbild durch die Zeitenläufe in vielerlei Hinsicht infrage gestellt sind.
Wenn anlässlich des Todes von Königin Elisabeth II. vom Ende einer Epoche gesprochen wurde, drängt sich nun, nachdem auch Papst emeritus Benedikt XVI. gestorben ist, nur umso mehr der Eindruck auf: Das lange 20. Jahrhundert ist zu Ende gegangen. Endlich. Die Anerkennung, die man ihr als „Verteidigerin des Glaubens“ zukommen hat lassen, wird man ihm als Verteidiger seiner Kirche nicht verwehren können. Doch ist es eben nicht unerheblich, worauf sich Geist und Wille des Menschen richten.
Am Ende seines langen Nachrufs auf Joseph Ratzinger stellt der katholische Theologe Hermann Häring zu Recht fest: „Ungewollt hat dieser Theologe und Kirchenführer uns zur Klärung unserer eigenen Situation gezwungen.“ Benedikt XVI. zu erinnern, bedeutet zwangsläufig, ins Nachdenken zu geraten. Das hätte dem Theologieprofessor Ratzinger vermutlich doch gefallen. Auch wenn ein „hörendes Herz“ sich heute nicht mehr ausschließlich in den Bahnen bewegen kann, in die Benedikt XVI. seine Kirche gewiesen hat.
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