Kein gutes Land für Familien
Unser Land macht es Familien mit Kindern unnötig schwer, weil Kinder und Jugendliche uns einfach nicht wichtig genug sind. Daniela Albert fordert: Kinder gehören auf die Titelseite!
Ich lebe echt gern mit meiner Familie. Ich bin unfassbar gern Mutter. Aber ehrlich gesagt gerade nicht in unserer Gesellschaft, nicht in unserem Land und nicht in den Strukturen, die ich als Mutter für die Begleitung meiner Kinder vorgesetzt bekomme!
Einige mag diese Aussage wahrscheinlich so sehr aufregen, dass sie an dieser Stelle aufhören zu lesen. Die Erfahrungen der letzten Monate sagen mir aber, dass sehr viele junge Eltern weiterlesen werden, weil es ihnen ähnlich geht.
In letzter Zeit habe ich einige sehr erfolgreiche Tweets abgesetzt. Auf meine alten Tage bin ich sogar zur Twitterperle geworden. Einfach nur, weil ich strukturelle Missstände in diesem Land benannt habe, die Eltern und Kindern das Leben unfassbar schwer machen. Die meisten Favs, Kommentare und Retweets brachte mir ein Tweet über den enormen Druck ein, unter dem unsere Kinder als Schüler:innen oft stehen, wenn sie krankheitsbedingt Unterricht versäumen.
An vielen Schulen wird mittlerweile erwartet, dass am ersten Tag nach der Genesung alle Aufgaben bereits nachgearbeitet wurden. Die Kinder müssen Klassenarbeiten nach- oder mitschreiben, als hätten sie nie gefehlt. Sie sind alleine dafür verantwortlich, sich alles Verpasste anzueignen und sich für sie wichtige Informationen zu besorgen.
Viele Eltern und auch Schüler:innen berichteten mir in DruKos (Kommentaren unter einem Tweet) oder Direktnachrichten von ihren Erfahrungen: Kinder, die mit gebrochener Schreibhand Klassenarbeiten schreiben mussten oder nach drei Wochen Corona mit „mildem Verlauf“ (also hohem Fieber, Erbrechen, totaler Abgeschlagenheit und Husten, der sie auch noch Wochen später begleitete) am Tag ihrer Wiederkunft eine 5 in Französisch kassierten, weil sie nicht alle Vokabeln nachgelernt hatten. Eine Gruppe, die für eine Gruppenarbeit eine schlechte Note kassierte, weil der Teil eines erkrankten Gruppenmitgliedes fehlte. Die Lehrkraft störte sich nicht einmal daran, dass der Grund des Fehlens war, dass der Junge mit akuter Leukämie im Krankenhaus lag. Ein Mädchen, das nach einem Sturz auf dem Schulhof, der zu einem Knochenbruch führte, noch vier Stunden unter Schmerzen in der Schule bleiben musste. Die zuständige Lehrkraft dachte, sie wolle nur die Klassenarbeit schwänzen.
Natürlich meldeten sich nicht nur solche Menschen zu Wort, die ihre schlimmen Erfahrungen mit mir teilen wollten, sondern auch die, die meinen Tweet wirklich blöd fanden. Dass recht viele davon nach eigenen Angaben dem Lehrberuf nachgehen, wundert wahrscheinlich wenig. Die Sachlicheren unter ihnen wiesen mich auf die sehr prekäre Lage in den Schulen hin. Darauf, dass sie schlicht kaum andere Möglichkeiten haben, als ein Höchstmaß an Eigeninitiative vorauszusetzen. Die weniger Sachlichen schimpften über die faulen Schüler:innen und ihre weltfremden Helikopter-Eltern. Unter so manchen DruKos entbrannte bitterer Streit zwischen Eltern und Lehrpersonen, der von beiden Seiten äußerst unversöhnlich geführt wurde.
Partner:innen auf Zeit
Jetzt könnte man natürlich schulterzuckend sagen: „Twitter halt!“ Aber das griffe hier zu kurz. Denn selbst wenn solche Auseinandersetzungen im wahren Leben nicht ganz so heftig geführt werden (und manchmal werden sie es durchaus), zeigt die Diskussion doch sehr gut, wie kampfbereit sich hier verschiedene Lager gegenüberstehen, die eigentlich an einem Strang ziehen sollten. Immer wieder stoße ich auch in meiner Arbeit mit Familien auf tiefe Risse zwischen Eltern und Lehrkräften und stelle fest, dass es an gegenseitigem Vertrauen und Respekt mangelt. Beide Seiten sind sich viel zu wenig darüber bewusst, dass sie eigentlich Partner:innen auf Zeit sind, die gemeinsam einen heranwachsenden Menschen prägen und ins Leben begleiten sollen.
Am Gegenüber der beiden beteiligten Parteien, Lehrer:innen und Eltern, zeigt sich meinem Eindruck nach ein deutsches Grundproblem, nämlich das zwischen Staat und Familie. Beide benehmen sich nämlich bei der Frage danach, wer wann, wo und in welchem Maße Verantwortung für den Nachwuchs trägt, als ginge es hier um einen militärischen Kampf um Hoheitsgebiete und nicht darum, gemeinsam Strukturen zu schaffen, die zum Besten für unsere Kinder sind.
Bitte miteinander, statt gegeneinander!
In jeder familien- und bildungspolitischen Debatte kann man die Fronten beobachten: Da sind die einen (meist politisch liberal oder konservativ), die finden, dass der Staat sich möglichst weit aus den Familien zurückziehen sollte und das Recht und die Pflicht der Erziehung allein den Eltern obliegen. Mit ihnen war es jahrelang sehr kompliziert, das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Grundgesetz festzuschreiben. Ihnen verdanken wir auch, dass dieser Paragraf bis heute butterweich ist. An ihnen scheitern Kinderrechte in der Verfassung und viele wünschenswerte Modernisierungen des Bildungs- und Erziehungssystems.
Und da sind die anderen, die eher links der Mitte stehen, die die „Lufthoheit über die Kinderbetten“ für den Staat fordern und sich darunter hauptsächlich Verpflichtungen zu einem möglichst frühen Besuch von Betreuungseinrichtungen verstehen, ohne sich jemals differenziert Gedanken über die Bedürfnisse kleiner Menschen gemacht zu haben. Jene, die glauben, gäbe es nur genügend Betreuungsplätze und Ganztagesschulen, sei Familien geholfen. Bei ihnen zeigt sich oft ein erschreckendes Unwissen über individuelle Bedürfnisse, die Voraussetzungen gelingenden Lernens und darüber, was Familien sich heute für sich und ihre Kinder wünschen.
Auch die Anerkennung des gesellschaftlichen Wertes von familiär geleisteter Fürsorgearbeit fehlt auf dieser Seite häufig. Latent schwingt in ihren Reden immer die Annahme mit, der Staat könne es eigentlich besser. Die mancherorts miserablen Zustände in Betreuungseinrichtungen werden von ihnen ignoriert.
Kinder gehören auf die Titelseiten!
Die Frage, wer was besser kann, ist müßig und geht vor allem am Thema vorbei. Denn für ein gutes Aufwachsen in unserer Gesellschaft braucht es beides: einen funktionierenden Staat mit eigenen Bildungs- und Erziehungsangeboten und mit bedarfsgerechten zusätzlichen Unterstützungsleistungen (finanziell und strukturell), die nicht erst dann greifen, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.
Und es braucht funktionierende Familien. Familien, in denen die Erwachsenen über die nötigen Ressourcen verfügen, um ihre Kinder gut zu begleiten. Familien, in denen genügend Zeit, Geld und Kraft vorhanden ist, um gut an der Seite der Heranwachsenden mitzugehen.
Damit ein solches Ineinandergreifen und Zusammenarbeiten von Staat und Familie erfolgreich sein kann, bräuchte es allerdings vor allem eins: Kinder und Jugendliche müssten uns wichtig genug sein. Und das sind sie nicht. Allen Beteuerungen des Gegenteils zum Trotz: Sie sind uns als Gesellschaft nicht wichtig genug. Wären uns Kinder so wichtig wie manch anderes, hätten wir längst andere Strukturen geschaffen.
Wir würden uns dieses verstaubte, unsoziale, nicht auf neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende, oft Kinderrechte mit Füßen tretende Schulsystem nicht länger halten. Wir hätten längt gehandelt, statt die Bildung der nächsten Generation den unterschiedlichen geifernden ideologischen Lagern immer wieder neu zum Fraß vorzuwerfen, nur um am Ende höchstens irgendwo Flicken auf die marodesten Stellen zu kleben, aber nie den großen Wurf zu landen.
Wären Kinder in unserer Gesellschaft wichtig genug, würden wir nicht zusehen, wie Kinderkliniken volllaufen, uns Medikamente für die Kleinsten ausgehen und Familien sich aufgrund des bisher sehr harten Infektwinters längst jenseits der Grenzen des stemmbaren befinden. Wären sie wirklich wichtig, würden die katastrophalen Zustände, die sich gerade bei ihrer Versorgung auftun, täglich auf Seite 1 aller einschlägigen Zeitungen, so wie das bei jedem in die Krise geratenen Großkonzern selbstverständlich der Fall ist.
Wären Kinder in diesem Land wirklich wichtig, würde sich vielleicht irgendjemand noch an die letzte Weihnachtspredigt der EKD-Ratsvorsitzenden Präses Annette Kurschus erinnern, die die vollen Intensivstationen in einem Haupt- und zwei Nebensätzen wenigstens erwähnt hat: Allerdings ohne politische Forderungen zu stellen und auf ihnen gleich im neuen Jahr weiterhin zu beharren und damit das Thema im Orbit zu halten.
Welchen Tipp haben Sie, Frau Albert?
Wären Familien in diesem Land wirklich wichtig, wäre es verpönt, Sitzungen in den späten Nachmittag zu legen und mit seinen Überstunden zu prahlen und angesagt, sich, egal ob als Mann oder als Frau, pünktlich mit dem Hinweis auf die Kinder von der Arbeit zu verabschieden.
Wären Jugendliche in diesem Land wirklich wichtig, wären dämliche Witze über „Pubertiere“ längst genauso out wie die Blondinenwitze des peinlichen AfD-Onkels, weil wir erkennen würden, dass sie nichts als aus Hilflosigkeit entstandene Überheblichkeit sind und dieser sensiblen Entwicklungsphase gar nicht gerecht werden.
Wären Kinder und Jugendliche wirklich wichtig, dann würden Spitzenpolitiker:innen nicht nur für Öl und Gas um die Welt reisen, sondern auch um aus denjenigen Ländern zu importieren, in denen es Heranwachsenden laut zahlreicher Studien deutlich besser geht als bei uns.
Wären Kinder und Jugendliche wirklich wichtig, würden wir weniger Zeit damit verbringen, uns über die – in der Tat manchmal zweifelhaften – Aktionen der „Letzten Generation“ zu streiten und stattdessen anfangen ihre Verzweiflung anzuerkennen und eine lebenswerte Zukunft mit ihnen zu bauen.
Aber sie Kinder und Jugendliche nicht wichtig. Nicht wichtig genug. Und deshalb schließe ich mit einem zugegeben zynischen Tweet, den ich kürzlich abgesetzt habe:
Welchen Tipp für junge Eltern oder solche, die es werden wollen, haben Sie, Frau Albert?
Lernt finnisch, dänisch oder niederländisch!
Und ich lasse euch den Hinweis da, den mir Nathalie Klüver, die Autorin des Buches „Deutschland, ein kinderfeindliches Land“ daraufhin gab: Schwedisch sei auch möglich, denn das ist die zweite Amtssprache in Finnland.
Neues Buch von Daniela Albert: „Kleine Kinder, starke Wurzeln“
Heute erscheint im Neukirchener Verlagshaus das zweite Buch von Eule-Familienkolumnistin Daniela Albert. In „Kleine Kinder, starke Wurzeln“ beschreibt sie, wie Familien „bedürfnisorientiert durch die ersten Jahre“ kommen. Junge Eltern von 0- bis 6-jährigen Kindern finden hier einen Ratgeber, der auf ihre Bedürfnisse eingeht und dabei pädagogische und christliche Impulse weitergibt.