Cheers and farewell, Twitter!
Der Abschied vom digitalen Wohnzimmer Twitter/X fällt schwer. Lohnt sich der Umzug in ein anderes digitales Zuhause wirklich? Und wäre nicht eigentlich eine zünftige Abrissparty angesagt? Eine Trauerrede.
Es ist alles fürchterlich tragisch, das muss man so sagen.
Jahrelang hat sich die sog. Theobubble, die Kirchenblase auf Twitter, sehr wohl in ihrer Haut gefühlt. Statt auf Facebook, dem Höllenschlund des Meta-Konzerns, oder auf Instagram abzuhängen, wo stets eitel Sonnenschein herrscht, fanden sich auf Twitter die Diskursarbeiter:innen, die Witzigen, die Schlagfertigen und Intellektuellen ein.
Dort kloppten sie sich mal mit Kampf-Atheisten, mal mit katholischen Tradis. Man kam zusammen, um sich gegenseitig verbal zu vermöbeln, weil einem wahlweise Karl Barth oder Friedrich Schleiermacher am Herzen festgewachsen ist, auf aktuelle Forschungsergebnisse, Tagungen, Predigten, Artikel und andere Früchte der mühsamen Arbeit im Weinberg des HERRn hinzuweisen und sie daselbst im Kreise einer engagierten und weisen Community zur Diskussion zu stellen, politisch zu theologisieren und Theologie und Glauben zu politisieren, die Kirche scharf zu kritisieren und sie im nächsten Moment gegen Angriffe Dritter emphatisch zu verteidigen, sich gegenseitig Trost (Kraft!) zuzusprechen, Abendandacht zu halten, Corona moralisch, theologisch und aktivistisch zu bewältigen, #digitaleKirche-Avantgarde zu sein, Brücken in andere Bubbles zu schlagen, Glauben, Kirche und Theologie irgendwie relevant zu halten oder zu machen, sie ins popkulturelle Gespräch einzuspeisen, herumzualbern, naughty and nice zu sein, Neuankömmlinge herzlich zu umarmen, alte Autoritäten vom Sockel zu holen oder ihnen wenigstens ans Schienbein zu treten. Verliebt, verlobt, verheiratet wurde sich auch. Es passt viel Leben in 280 Zeichen.
Eine ganze Generation von Kindern ist bei Millennial-Eltern dem Kleinkindalter entwachsen, die sich unmäßig viel Zeit für Leute nahmen, die sie nie oder nur selten „im Fleische“, aber ständig in ihrer Twitter-Timeline um sich hatten. Erwachsene Menschen, die beim Blick aufs Smartphone schallend auflachten oder sich wild auf dem Display herumtippend abrupt aus dem analogen Sozialleben zurückzogen, weil es galt, am neuesten Knatsch und Tratsch der holden, der seligen, der ständig vibrierenden Le Theobublé teilzunehmen.
Doch das Sozialleben der Kirchenblase war nicht auf digital natives begrenzt: Silver Surfer und shitpostende Studis, junge Eltern, weise Boomer, mächtige und grünschäbelige Kirchenleute, LGBTQI*, Feminist:innen, People of Color, internationale Gäste und Beobachter:innen, Tradis, Universitätstheolog:innen und #digitaleKirche-Arbeiter:innen, nicht zuletzt Journalist:innen und Medienschaffende scharten sich mal mehr, mal weniger freiwillig zusammen. Im Zentrum der Gespräche standen die Meldungen des Tages, kleine Petitessen und Adiaphora und immer wieder die großen theologischen und gesellschaftspolitischen Fragen der Zeit.
Diese Zeit ist nun vorüber. Das hat viel, sehr viel mit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk zu tun. Aber es gibt auch tieferliegende und über die Verfallsdynamik von Twitter/X hinausgehende Gründe dafür, dass in vielen Ecken der Bubble Tumbleweed über die gutausgetretenen Diskurspfade weht. Ein Großteil der Nutzer:innenschaft hat sich längst verabschiedet, zumeist in andere – längst parallel belebte – Gefilde wie Insta oder Mastodon. Andere haben Social Media als Lebensraum ganz Lebewohl gesagt.
Twitter/X
Fangen wir bei den plattformgebundenen Gründen für den Abschied von Twitter/X an: Es ist ein müßiges Unterfangen, hier ein Sündenregister Elon Musks anzulegen. Der Rolling Stone hat es auf sich genommen, ein paar von Musks Lügen zusammenzustellen, die nicht nur eklig und belastend sind, sondern mittelbar lebensgefährlich. Mit seinem Zerstörungswerk an Twitter befassen sich nicht umsonst viele Tech- und Medienexpert:innen und -Journalist:innen rund um die Uhr. Wer in das rabbit hole der Twitter-Beobachtung hinabsteigen will, dem sei der sehr gute Podcast Haken dran von Gavin Karlmeier und Dennis Horn empfohlen.
Überhaupt scheint es wenig wahrscheinlich, dass man die noch verbliebenen Bubble-Bewohner:innen mit Argumenten von einem Abschied überzeugen kann. Das mag daran liegen, dass die Alternativen aus je unterschiedlichen Gründen nach wie vor nicht adäquat sind. Da wären auch die Kraft und Zeit, die nicht wenige – mich eingeschlossen – in den vergangenen zehn oder fünfzehn Jahren auf der Plattform investiert haben. Dem kehrt man ungern den Rücken zu. Viele Nutzer:innen bekommen von den Problemen von Black Twitter, Medien und Journalist:innen, LGBTQI* und weiteren Minderheiten auch einfach nichts mit. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Und immer dann, wenn man denkt: Das war’s, jetzt geht’s wirklich nicht mehr, entspannt sich die Lage für ein paar wenige Tage. Nicht, dass irgendeine der katastrophalen Neuerungen zurückgenommen würde: Die Bevorzugung der blau-behakten Replie-Guys, Shadowbans und Reichweitenkürzungen für kritische Berichterstattung, die Bewerbung und schamlose Unterstützung von rechtsextremen und verschwörungsideologischen Inhalten und Accounts durch Musk und die Plattform-Architektur, die massive Unsicherheit von Daten und der tägliche Angriff auf Persönlichkeitsrechte, die Missachtung von Arbeitnehmer:innen-Rechten und das Duckmäusertum gegenüber Diktatoren und autoritären Regimes – das alles ist traurige Realität. Aber zwischendurch, gerade wenn während größerer Nachrichtenlagen (z.B. Aiwanger) die Neugier obsiegt und sich wieder ein paar mehr der alten Twitter-Weggefährt:innen auf der X-Plattform einfinden, fühlt es sich doch immer noch so an wie früher – oder?
Man macht sich nicht mit Bullies gemein. Das wäre ein guter Grundsatz. Aber das scheint auf Twitter/X mindestens so schwer zu fallen wie auf den Schulhöfen des Landes. Während in einer Ecke des Pausenhofs Mitschüler:innen bedrängt, gehänselt und verhetzt werden, die Lehrer:innen entlassen wurden oder wegschauen, feixen in einer anderen Ecke Literaturwissenschaftler:innen und Theolog:innen über das neueste Meme.
Abschied vom Web 2.0
Eine weitere Dynamik, die zum Absterben der Theobubble beiträgt, ist der auf allen großen Plattformen forcierte Abschied vom social graph zugunsten eines algorithmisch zusammengestellten interest graph. Was es damit auf sich hat, habe ich im Social-Media-Trends-Update ausführlich beschrieben.
Für die Bubble auf Twitter/X relevant: Der Unterhaltungsfaktor eines (Kurzvideo-)Feeds, der von einem gut funktionierenden Algorithmus zusammengestellt wird (wie z.B. auf TikTok), ist enorm. Da kann eine entleerte (chronologische) „Folge ich“-Timeline nicht mithalten. Die algorithmisch komponierte „Für dich“-Timeline auf Twitter/X ist allerdings ein Ort der Missgunst, des Spams und der Werbung, des Ärgernisses und vor allem: der unablässigen Wiederholung.
Maybe the real treasure was the friends we made along the way? Wenn man von seinen Mutuals nichts mehr sieht und liest, weil sie entweder algorithmisch bei Seite gedrückt werden oder sich still und leise verabschiedet haben, was bringt dann das Ausharren in Musks Ödnis des Stumpfsinns? Während meines dreiwöchigen Sommerurlaubs war ich so gut wie nie auf Twitter: Es hat gut getan. Ich habe auch nichts verpasst.
Auch an meine News komme ich anders heran. Und ich habe beruflich induziert ein sehr großes Bedürfnis danach, an den aktuellen Meldungen und Nachrichten dranzubleiben. Es gibt bessere Werkzeuge als Twitter/X, um umfassend und präzise informiert zu bleiben. Den einen Social-Media-Ort, an dem sich alle versammeln, gab es zwar noch nie, aber in seinen besten Zeiten hat sich Twitter dem angenähert. Davon kann keine Rede mehr sein. Schwer zu messen, aber bemerkbar ist der Niveauverlust von Inhalten und Gesprächen. Das mag daran liegen, dass Politiker:innen, staatliche Stellen und Wissenschaftler:innen X den Rücken zukehren. Ursächlich ist aber vor allem, dass Gespräche, die permanent von Spam und Trollen unterbrochen werden, keinen Spaß machen. Sensible Nutzer:innen werden so zum Schweigen gebracht – „extremely hardcore“ Twitter (O-Ton Musk) ist halt nicht für jede:n.
Cheers and farewell, Twitter!
Für mich war Twitter viele Jahre lang aber mehr als „nur“ der bevorzugte Ort, um am täglichen Weltgeschehen dranzubleiben und teilzunehmen, mehr als eine Agora. Twitter war – gerade während der Corona-Pandemie – wie die Theke einer Stammkneipe, bevölkert von Menschen, zu denen man sich zwanglos gesellen konnte, und die Theobubble tatsächlich ein Ort, where everybody knows your name. Gut gegen Landeinsamkeit.
„Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?“, fragt das Cover eines Sachbuchs über die Hoffnung des Schriftstellers Till Raether, das im Dezember 2023 bei Rowohlt erscheinen soll. Sich Hoffnung auf Besserung von X zu machen, heißt an Illusionen zu werkeln. Nichts deutet darauf hin, dass der quälende Abstieg der Plattform gestoppt oder gar umgekehrt werden könnte. Die Konzernleitung um Elon Musk hat an einer Rückkehr zum alten Twitter überhaupt kein Interesse – nicht im geringsten. Wer an Twitter vor allem aus Nostalgie und Wehmut weiterhin festhält, wird noch viel zu leiden haben. Die Tageslosung auf Twitter lautet: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“.
Der Abschied von einem digitalen Wohnzimmer fällt schwer. Ich kann gut verstehen, wenn angesichts von Twitter-Abschieden an Trauerphasen-Modelle erinnert wird. Manche wollen das Unglück noch immer nicht wahrhaben, andere zürnen leidenschaftlich Musk und seinen Trollen hinterher, viele suchen längst nach Alternativen. Ich denke, ich habe so langsam meinen Frieden mit Twitter gemacht. Schön war’s. Zwölf Jahre habe ich auf der Plattform mitgelebt. Was macht man in einem Leben schon so lange? Lohnt sich der Umzug in ein anderes digitales Zuhause wirklich noch einmal? Und wäre nicht eigentlich eine zünftige Abrissparty angesagt?
Twitter/X geht den Bach runter, adäquate Alternativen sind rar gesät. Wie können kirchliche Akteur:innen und christliche Nutzer:innen reagieren? Was taugen Bluesky, Threads und Mastodon? Mit der Zukunft des Mikrobloggings befasst sich dieser aktuelle Artikel von Eule-Redakteur Philipp Greifenstein.
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