Kolumne Sektion F

Theologie und Diversität: Worüber reden wir eigentlich?

Ist Vielfalt ein Thema für die Theologie? In einem Doppelpack von „Sektion F“ befasst sich Carlotta Israel mit Diversität in der Theologie. Im ersten Teil geht es um Anfangsdefinitionen.

Muss sich die Theologie mit Diversität beschäftigen? Vor dieser Frage stehen Kirchenleitungen, Gemeinden, christliche Einzelpersonen und Universitäten. Warum sich meines Erachtens Theologie per se mit Diversität zu beschäftigen hat, möchte ich in dieser und in der nächsten „Sektion F“ vorstellen.

Der Plan ist: Dieses Mal werden wir uns mit Anfangsdefinitionen beschäftigen. Ich werde aber nicht zwei bis drei mustergültige Lexikoneinträge fertig formulieren. Es sind mit Klärungen der Frage, was allein Theologie ist oder sein sollte, schon Bibliotheken gefüllt worden. Ich möchte Diversität als ein Thema für die Theologie mit mehr Hintergrundzugängen vorstellen. Ein Zwischenschritt wird es sein, den Begriff Intersektionalität kennenzulernen, der den Diversitätsbegriff ergänzt und zudem Analysehinweise mit sich bringt. In der nächsten „Sektion F“ will ich dann ein paar Ideen formulieren, wie weitergedacht und -gemacht werden könnte, wenn Kirche und Theologie diversitätssensible Aufbrüche versucht.

Erstens. Anfangsdefinitionen. Der Begriff Diversität ist abgeleitet von dem Lateinischen diversus, was abweichend oder verschieden bedeutet. Diversität heißt demnach als Abstraktum davon „das Abweichende“ oder „das Verschiedene“ bzw. „Verschiedenheit“. Ein anderer synonym verwendeter Begriff ist „Vielfalt“. Der Begriff Diversität impliziert, dass es sich um Abweichungen von etwas handelt. Diversität steht also in Wechselwirkung mit Normierungen, also Festlegungen darauf, was das „Normale“ oder die „Mehrheit“ ist. Ohne das „Normale“ könnte es ja keine Abweichung davon geben.

Möglicherweise haben einige noch andere Begriffe im Kopf, die in eine ähnliche Richtung gehen könnten. Zum Beispiel Heterogenität. Auf Griechisch heißt heterogenes „von anderer Art“. Heteros bedeutet „anders“, genes im weitesten Sinne „Herkunft“ oder „Abstammung“. Auch Heterogenität drückt als Begriff aus, dass es Unterschiede gibt. Alterität ist dazu quasi die vom Lateinischen stammende Variante: Das lateinische alter meint auch hier das Andere – geht dabei aber, wie heteros davon aus, dass es Teil eines Gegensatzpaares ist. Der Begriff der Diversität geht nicht von zwei gegensätzlichen Polen aus, sondern ist flexibel und lädt zu Multiperspektivität ein (von lateinisch multi „viel“).

Eng verbunden mit dem Begriff Diversität ist allerdings auch die englische Übersetzung diversity. Tatsächlich lagern sich um die deutsche und die englischsprachigen Variante unterschiedliche Ursprungskontexte an. Zum Teil werden sie heute synonym verwendet. gelegentlich aber eben auch wegen ihrer unterschiedlichen Begriffskontexte voneinander abgegrenzt. Vermutlich sind Trennungen voneinander nicht streng durchzuführen. Diese beiden Varianten zeigen jedoch unterschiedliche Stoßrichtungen und Perspektiven auf, die auch für das Verständnis von Theologie und Diversität relevant sind und werden könnten.

Diversität und Intersektionalität: Es ist komplex

Diversity entstammt eher einem betriebswirtschaftlichen Kontext. In den USA steht sie im Zusammenhang mit dem Civil Rights Movement. Die antirassistische Arbeit der Bürger*innenrechtsbewegung ab den 1950er Jahren in den USA sorgte auch dafür, dass 1964 der „Civil Rights Act“ verabschiedet wurde. Nach dem „Civil Rights Act“ dürften keine Diskriminierungen aufgrund von Rassifizierung, Hautfarbe, Religion, Geschlecht und Nationalität erfolgen. Im “Title VII” des “Civil Rights Acts” wurde die Gründung einer “Equal Employment Opportunity Commission” beschlossen (etwa: „Kommission für Gleichberechtigung am Arbeitsplatz“). Bei dieser Stelle sollten Diskriminierungen angezeigt werden können. Außerdem mussten Behörden und ihre Auftragnehmer*innen Aktionspläne verfassen und darin ihre eigene Antidiskriminierungsarbeit darlegen.

Es war also eine personalpolitische Notwendigkeit, sich mit diversity auseinanderzusetzen. Anfang der 1980er Jahre wurde daraus der Begriff managing diversity. Zusammen mit der Arbeitsstudie „Workforce 2000“, die einen massiven Wandel der Arbeitswelt prognostizierte, wurde diversity zu einem Grundanliegen der Betriebswirtschaftslehre (BWL). In der deutschsprachigen BWL wurde der diversity-Begriff in den 1990er Jahren rezipiert. Der Fokus lag darauf, Nutzen aus der Verschiedenheit von verschiedenen Arbeitnehmer*innen zu generieren.

Die Erforschung von Diversität, die sich im Umfeld von Kultur- und Sozialwissenschaften etabliert hat, ist daran interessiert, Differenzierungsmarker zwischen Menschen zu analysieren und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Identitätsaspekten zu benennen. Insofern verfolgen diese Forschungsansätze Diversität in einer intersektionalen Perspektive. Der Intersektionalitätsbegriff weist in gewisser Hinsicht wieder zurück zum diversity-Begriff, denn der Kontext, in dem dieser Begriff entwickelt wurde, betrifft die Antidiskriminierungsarbeit von Unternehmen.

Die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw analysierte verschiedene arbeitsrechtliche Urteilssprechungen des US-Supreme Court. Einer der Prozesse verlief zwischen General Motors und einer Gruppe weiblicher People of Color (PoC), also Women of Color (WoC). Ihr Vorwurf: Sie hätten Diskriminierung erfahren, weil ihnen gekündigt worden war. Die Verteidigungsstrategie von General Motors war: Nein, es lag keine Diskriminierung vor. Es handele sich nicht um eine rassistische Diskriminierung, da männliche PoC weiterhin beschäftigt worden wären. Auch könnte es keine sexistische Diskriminierung sein, denn andere Frauen würden ja weiter für das Unternehmen arbeiten. Dieser Begründung gab das Gericht statt. Die Schwarzen Frauen verloren den Prozess.

Kimberlé Crenshaw identifizierte an diesem Fall, dass eine einseitige Antidiskriminierungsabsicherung oder -perspektive, die sich nur auf einen Bereich bezieht, nicht ausreicht. Es müssen stattdessen Überkreuzungsmechanismen von verschiedenen Diskriminierungen betrachtet werden. Menschen werden eben nicht nur aus einer spezifischen Richtung diskriminiert, sondern sind komplex. Daher müssen immer verschiedene Identitätsaspekte mitadressiert werden, aufgrund derer diskriminiert wird. Im Fall der Schwarzen Frauen waren es also rassistische und sexistische Diskriminierungen, die sich überkreuzten. Zu Beginn dieser Antidiskriminierungs-Arbeit waren die Aspekte Rassifizierung, Klassenzugehörigkeit und Geschlecht ausschlaggebend. Die Liste wurde erweitert und ist, so vermute ich, nicht abschließbar.

Die Theologie als Rede von G*tt

Dann brauchen wir jetzt noch eine Anfangsdefinition des Begriffs „Theologie“: Ich möchte es kurz halten und weiß natürlich, dass es weitaus mehr zu sagen gäbe. Wiederum von der Etymologie herkommend, ist Theologie als Wort bzw. Lehre (griechisch logos) von Gott, in der männlichen Form ho theos, abgeleitet. Die Disziplin der Theologie hat sich im Zuge der Gründung von Universitäten im Mittelalter aus den Artes (lateinisch „Künste“) neben Jura und Medizin als eine der drei bestimmenden Fakultäten der europäischen Universität herausgebildet. Theologie ist seitdem also eine Wissenschaft, die sich aber spätestens seit der Aufklärung immer wieder selbst auf ihre Wissenschaftlichkeit hin befragt oder befragen lassen muss.

Bei allem Bemühen darum, von Gott zu reden, sind für mich zwei Dinge besonders wichtig zu betonen: Wie in jeder Wissenschaft ist Objektivität nicht erreichbar. Da, wo so etwas möglicherweise erreicht wurde, wurde sich im Diskurs auf eine Zuschreibung geeinigt und diese plausibilisiert. Es geht in allen Wissenschaften, auch bei der Theologie, also um Annäherungen. Darum, die Welt besser zu verstehen.

Dass die Theologie dabei an Gott als Wirklichkeitssphäre festhält und Aussagen über im Grunde alles und jede*n im Zusammenhang mit dieser Perspektive verhandelt, lässt eine Art Überbietungsanspruch erkennen. Wenn die letzte Instanz nicht zum Beispiel der viel beschworene sogenannte gesunde Menschenverstand ist, sondern davon ausgegangen wird, dass Versuche unternommen werden, um Gottes Willen zu erkennen, übersteigt dies rein aufs Diesseits und Menschliche bedachte Verständnisse. In mehr oder weniger direkter Rücksprache mit der biblischen Offenbarung wurden unter Hinzunahme von jeweils zeitgenössischen philosophischen Fragestellungen oder Kategorisierungen Systeme entwickelt, die das Christ*innentum vor dem jeweiligen Kontext zu plausibilisieren, teils zu verifizieren versuchten.

Was ist eigentlich christliche Normalität?

Aufgrund der engen Verwobenheit von Staat, Gesellschaft und Kirche seit der Einführung des Christ*innentums als Staatsreligion im Römischen Reich und in Folge der (zunächst europäischen) Mission ist es besonders schwierig zu identifizieren, an welchen Stellen das, was sich geistesgeschichtlich entwickelt hat, in „christlich“ und „nicht-christlich“ zu unterscheiden ist. Eine solche Unterscheidung geht auch daran vorbei, dass für etwa anderthalb Jahrtausende Christlich-Sein nicht nur Mainstream, sondern Abweichungen von der christlichen Norm auch rechtlich lange Zeit nicht möglich waren bzw. überhaupt nicht vorgesehen.

Insofern sind gesellschaftliche Konventionen und Normierungen noch heute darauf rückzuführen, dass sie vormals als „christlich“ markiert wurden. Dahinter verbirgt sich der Anspruch, bei diesen Normen handele es sich um „das Richtige“. Zwar gab es auch früher nicht in jeder Hinsicht Konsens unter Theolog*innen. Manche Fragestellungen von Lebensführung und insofern auch Gesellschaftsgestaltung werden aber erst seit dem vergangenen Jahrhundert oder noch kürzerer Zeit anders beantwortet als zuvor. Dazu gehören für den europäisch-christlichen Kontext sicher Vorstellungen über Partner*innenschaft, Geschlecht und Gender.

Im zweiten Teil dieses „Sektion F“-Doppelpacks werde ich das anhand praktischer Beispiele noch deutlicher ausführen. Für jetzt ist mir wichtig festzuhalten, dass durch den Verweis auf Gott und eine weitläufige Auslegungspraxis bzw. auf Auslegungsautoritäten zum Beispiel heterosexuelle Lebens- und Liebesformen eine zusätzliche Legitimationsinstanz erhalten haben. In traditioneller Kirchensprache: Es wurde nicht nur formuliert, was „gut“ und „richtig“ ist, sondern was „gottgefällig“ ist. In diesem Sinne wurden und werden auch weiterhin Normierungen gestützt – oder sogar neu entwickelt. Durch den Transzendenzbezug oder die Herleitung vermeintlich göttlicher Wahrheiten werden Normierungen verstärkt – oder wurden je nach kulturellem und historischen Kontext erst dadurch entwickelt.

Auf dem Feld der Normierungen treffen sich also Theologie und Diversität. Während Diversität Abweichungen von Normierungen meint, hat die Theologie Normierungen teils erst angestoßen oder – durch den Transzendenzbezug – mit einer alles andere übersteigenden Legitimation unterfüttert.


Im zweiten Teil dieses Doppelpacks zu Diversität und Theologie wird Carlotta im Februar 2024 fragen, ob und wie Diversität und Theologie zueinander finden können.

Alle Ausgaben von „Sektion F“ hier in der Eule.


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