Kolumne mind_the_gap

Pleiten, Pech und Piraten

Balthasar Sturmer erzählt von Händlern, Piraten und Predigern, aber seine Lebenserinnerungen sind mehr als ein Kuriositätenkabinett: Sie zeugen vom Wandel in schwierigen Zeiten.

Bisher standen in der Kolumne „mind the gap“ Quellen im Vordergrund, die den Zeitgenossen unserer Protagonist:innen vor allem in Druckform bekannt waren und auch dementsprechend in größeren Auflagen rezipiert wurden. Über den Protagonisten der heutigen Kolumne, den Marienburger Kaufmann Balthasar Sturmer, lässt sich das hingegen nicht sagen: Seine Lebenserinnerungen lagen als Manuskript versteckt in der Berliner Staatsbibliothek, bevor im Jahr 2019 eine wissenschaftliche Edition erschien.

Balthasar Sturmer ist ein Rätsel, denn außerhalb dieser Handschrift ist fast nichts über ihn bekannt. Ein paar Schlüsse lassen sich jedoch aus der Gestalt der Handschrift gewinnen. Sie wurde von einem professionellen Schreiber verfasst, der sehr wahrscheinlich nicht Sturmer selbst war. Der Text enthält eine Widmung an einen „Herrn Frantz“, einen Patrizier aus Danzig, dem heutigen Gdańsk in Polen. Wohl eine Andeutung darauf, dass Frantz der Auftraggeber dieser Handschrift war.

Sturmers Erinnerungen sind Zeugnis eines Lebens, das reich an außergewöhnlichen Erlebnissen war. Und doch sind sie mehr als ein autobiographisches Kuriositätenkabinett: Sturmers Handschrift ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht spektakulär. Sie ist eines der wenigen Selbstzeugnisse eines christlichen Piraten im Mittelmeerraum, legt wirtschaftliche und personelle Verflechtungen offen und gewährt einen Einblick in die Religiosität von Händlern im 16. Jahrhundert. Sie erzählt eine Geschichte von Netzwerken, von Feldzügen, Gottesbildern und der eigenen religiösen Fluidität.

mind_the_gap – Vergessene Kapitel der Kirchengeschichte

Flora Hochschild stöbert für uns in den Untiefen der frühneuzeitlichen Kirchengeschichte und kramt aus dem Schatz der Historie erstaunliche Episoden hervor: In der Serie „mind_the_gap“ geht es im Frühjahr / Sommer 2024 um vergessene Kirchengeschichte(n), gottesfürchtige Abenteurer:innen und verborgene Wahrheiten. Wir freuen uns auf Feedback, Fragen und Hinweise auf dieser Schatzsuche in die Vergangenheit!

Vom Danziger Kaufmann zum Piraten auf dem Mittelmeer

Ihren Anfang nimmt die Geschichte im Jahre 1532 in Danzig. Der junge Kaufmann Sturmer wurde von seinem Vater mit einer Getreidelieferung nach Lissabon geschickt. Heute weitestgehend dem kollektiven Gedächtnis entschwunden, war die Iberische Halbinsel damals ein wichtiger Absatzmarkt für Getreide aus dem Baltikum. Da Sturmer kein Portugiesisch sprach, benötigte er einen Mittelsmann und fand ihn in einem deutschen Büchsenmacher.

Eine solche Begegnung war im Lissabon des 16. Jahrhunderts keineswegs ungewöhnlich. Neben Kaufleuten fanden auch Handwerker und Soldaten aus Deutschland ihren Weg nach Lissabon, man denke nur an Martin Behaim und seinen berühmten Globus. Knapp zehn Jahre später sollte der hessische Söldner Behaim seinen Weg nach Südamerika finden. Sein Gefangenschaftsbericht wurde der erste längere Text in deutscher Sprache über das heutige Brasilien; wie Sturmers Bericht ein Zeugnis der Verflechtung und Beteiligung von Deutschen an der kolonialen Expansion.

Sturmer verschlug es jedoch nicht auf den Atlantik und nach Südamerika, sondern in den Mittelmeerraum. Aus Geldnot arbeitete er für seinen ehemaligen Angestellten, den Büchsenmacher, als Gehilfe und trat mit ihm gemeinsam den Dienst auf einem Kriegsschiff an. Er erlebte Feldzüge im Mittelmeer und schloss sich schließlich einem Schiff der Johanniter an. Der christliche Ritterorden beteiligte sich umfangreich am Kaperkrieg auf dem Mittelmeer. Sturmer diente jedoch nicht direkt den Rittern, sondern unter einem „Subunternehmer“ des Johanniterordens. So spricht er von einer „Bestallunge vom Meister von Rhodis“, einer Kaperlizenz, die vom Orden vergeben wurde. Aus dem Kaufmann war ein Pirat geworden.

In Diensten Spaniens und des Osmanischen Reiches

In erschütternder Klarheit berichtet der Text, wie das Schiff von mutmaßlich muslimischen Kaufleuten aufgebracht wurde. Die Opfer wurden gefoltert, bis alle Schätze gefunden waren. Auf dem Weg nach Livorno, einem der größten Piratenhäfen der damaligen Zeit, überlegte die Besatzung, ob man von der Beute ein eigenes Schiff kaufen und sich damit „selbstständig“ machen sollte. Doch bevor es dazu kommen sollte, wurde das Piratenschiff von muslimischen Piraten, den Korsaren, überfallen. Der schwerverletzte Sturmer überlebte und wurde als Galeerensklave an die osmanische Marine verkauft.

In deren Diensten erlebte Sturmer den sog. Tunis-Feldzug. Kaiser Karl V., in Deutschland bekannt als Antagonist Luthers auf dem Wormser Reichstag, unternahm eine Expedition zur Eroberung der heutigen Hauptstadt von Tunesien. Die sich anschließenden Kämpfe um die Stadt Tunis erlebte Sturmer außerhalb der Stadt. Eine Revolte christlicher Gefangener in der Stadt ermöglichte Karl deren Besetzung. Die unterlegene osmanische Armee zog sich zurück, mit ihr auch Sturmer.

Auf der chaotischen Flucht gelang Sturmer seinerseits die Flucht von seiner Kolonne. Jedoch geriet er nur kurze Zeit später erneut in Gefangenschaft, nachdem er erfolglos versuchte, sich gegenüber einer Karawane als Muslim auszugeben. In einer verworrenen Geschichte gelang es dem ehemaligen Piraten, aus der Gefangenschaft nach Tunis zu fliehen und zur spanischen Besatzung einer Festung überzulaufen. Sturmer trat nun also in den Dienst der spanischen Marine, die er auf mindestens zwei Feldzügen begleitete.

Schließlich kehrte er in seine Heimatstadt Marienburg in Westpreußen zurück, in der er seinem Vater nach vielen Jahren wieder begegnete. Sturmer zog es jedoch erneut nach Lissabon und nach dem Tod seines Vaters nach Königsberg, wo er heiratete. Seine Lebenserinnerung deuten an, dass seine Frau Geld in die Beziehung gebracht hat, das er später verspekulierte. Seine Frau, die er kein einziges Mal mit Namen in diesem Bericht nennt, verstarb später.

Ein Beispiel der ars mercatoria

Über Sturmers Leben in Königsberg ist nicht viel bekannt, aber ein Detail ist im klassisch kirchenhistorischen Sinne bemerkenswert: Zu Sturmers Umfeld gehörte der damalige Domprediger Joachim Mörlin, bekannt als Gegenspieler von Andreas Osiander im sog. Osiandrischen Streit. Da Mörlin bei der Abfassung schon in Braunschweig weilte, wurde bisweilen spekuliert, Sturmer sei selbst Pfarrer geworden. Das scheint zunächst in Anbetracht der reichen biblischen Metaphorik im Text durchaus plausibel, aber Sturmer dürfte damit wohl eher einer literarischen Konvention entsprochen haben.

Sein Lebensbericht lässt sich der Gattung der ars mercatoria zuordnen. Diese umfassten praktische Hilfen für Kaufleute, wie etwa Rechenbücher. Aber auch Reiseberichte galten als Teil der ars mercatoria, waren sie doch Erfahrungsberichte über das wirtschaftliche Handeln in einer ungewohnten Umwelt. Religiosität spielte zwar in diesen Schriften eine eher untergeordnete Rolle, aber es gab gewichtige Ausnahmen.

Eine dieser Ausnahmen war Benedikt Kotruljevič aus Dubrovnik (italienisch: Benedetto Cotrugli). Im Jahr 1498 verfasste er seine ars mercatoria „Della Mercatura et del Mercator perfetto“, die 1573 in Venedig gedruckt und weiterverbreitet wurde. Cotrugli formulierte die Sorge, das Gewinnstreben des Kaufmanns gefährde sein Seelenheil. Als Lösung für dieses Problem empfahl er neben einer transparent geführten Bilanz einen Rückzug ins Private. Ein solcher Rückzug sollte neben intensiven Gebeten auch das Ziehen einer Lebensbilanz ermöglichen. Auch wenn fraglich ist, ob Sturmer Cotrugli kannte, diese „religiöse Buchführung“ lässt sich auch in anderen Gefangenschaftsberichten jener Zeit beobachten, wie etwa in den Lebenserinnerungen des Ulmer Patriziers Hans Ulrich Krafft.

Sturmer als neuer Hiob

Sturmers Autobiographie enthält neben seiner Lebens- und Geschäftsgeschichte jedoch noch eine andere Erzählung: Sie ist eine Geschichte des Wechselns. Sein Bericht ist voll von Preisen und Angaben, was Sturmer im Laufe seines Lebens gewann und verlor, und dokumentiert damit seine schwankende Finanzlage. Doch Sturmer forciert im Bild des Wechsels auch eine explizit theologische Deutung seines Lebens. Seine Lebensbeschreibung ist auch eine Glaubensbilanz, in der Verlust und Gewinn verrechnet werden.

Sturmer beschreibt sein Leben als Konsequenz eines Tun-Ergehen-Zusammenhang: Er ignoriert Warnungen und Ermahnungen und gerät in Not, aus der ihn der Glaube immer wieder errettet. Erhöhung und Erniedrigung liegen in diesem Wechselspiel nahe beieinander. So dient er seinem ehemaligen Agenten, dem Büchsenmacher aus Lissabon, oder kann seinen ehemaligen Besitzer kurzzeitig selbst versklaven, bevor es zu einem Austausch der beiden kommt. Kennzeichnend für dieses Wechselspiel in Sturmers Leben ist das Pendeln zwischen Gottesnähe und Gottesferne. So schreibt er:

„Vnser Herr Gott hette mir lange zu gesehen, lies mich auch woll vermanen, ich solte mich besser bedencken. […] Ich hörete es woll, aber meine Gedancken wahren auff dem Aschhoffe, in der Rentkammer, auff dem Speicher, in der Bierkanne, in dem Kastenn. Wan ich des Morgens früe auffstundt, so hatte ich ein langes Register, was ich den Tag v̈ber zu verrichten hatte. Wahren offter v̈ber 30 Perselen, aber kein Persell vom Vatter Vnser, das billig oben an solte gestanden sein.“

Sturmers Reue hat etwas berührend Menschliches. Im Gegensatz zu vielen anderen Selbstzeugnissen dieser Zeit erzählt er keine Aufstiegsgeschichte. Sein Glaube dient weniger dem Triumpf als dem Überleben. Und trotzdem könnte diese Geschichte noch nicht vorbei sein, denn die Hoffnung hat Sturmer noch nicht aufgegeben:

„Nunn ich aber schier nichts mehr habe, kann nur beten […]. So kommett nun mein getrewer Gott, will nicht lenger in Notth stecken lassen, sondern reichet mir wiederumb seine gnadenmilde reiche Handtt vndt will mir mehr geben als er mir genommen hatt; wie er dem lieben Job thatte.“

Vergleiche mit biblischen Protagonist:innen sind keineswegs unüblich. Bereits die erste Ausgabe von „mind the gap“ hat diese Metaphorik behandelt. Und wie auch beim sächsischen Prediger Zahn gerät der Vergleich mit biblischen Figuren etwas schief: Hiob hat nicht gesündigt, er ist Opfer einer Wette. Anders sieht es hingegen bei Sturmer aus: Er interpretiert seine Rückschläge als Nachlässigkeit der eigenen Religiosität. Es gibt in Sturmers Weg keine dritte Partei als Gegenspieler Gottes, sondern nur ihn selbst als unglücklichen Mitspieler. Doch Sturmer vertraut sich wieder Gott an. Damit weist sein Saldo noch eine ausstehende Rechnung auf. Ob Gott sie je für ihn beglichen hat, bleibt jedoch unbekannt.


„Sturmers Reise“ – Graphic Novel

Das Seemannsleben hatte sich Balthasar Sturmer gänzlich anders vorgestellt. Kaum heuert er auf einem Kriegsschiff an, wird er von Piraten gefangen genommen und versklavt. Dann gerät er auch noch zwischen die Fronten, als Karl V Tunis erobern will. Ob ihm wohl die Flucht gelingt?

„Sturmers Reise“ ist die Adaption des Reiseberichts von Balthasar Sturmer als Graphic Novel. Konstantin Holzmeister, Anna-Maria Kovacs und Franziska Ulrich, SchülerInnen der HTL Bau und Design Innsbruck, haben das Buch für die Sonderausstellung „Piraten und Sklaven im Mittelmeer“ auf Schloss Ambras Innsbruck (Sommer 2019) produziert.

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