Raus aus der Falle: Warum wir bei rage bait nicht anbeissen sollten
Algorithmen und Populismus bestimmen das Leben auf den Social-Media-Plattformen. Auch Christ:innen gehen ihnen in die Falle. Warum uns Empörung nicht weiterbringt.
Wer sich auf Instagram & Co. rumtreibt, kommt nicht umhin sich gelegentlich an den Kopf zu fassen. Wahnsinn! Kein Wunder, dass Christ:innen und Kirchen bei einigen Zeitgenoss:innen so einen schlechten Ruf haben!
Da gibt es rechtsradikale Influencer:innen, die Gott, Jesus, die Bibel und alles, was Christ:innen heilig ist, für ihre Kulturkämpfe missbrauchen. Da filmt sich ein Clown mit 75.000 Follower:innen, der den Untergang der Kirche herbeiredet und meint alle Welt habe „den Respekt vor Gott verloren“, nur um Kreuzkettchen unter die Leute zu bringen. Da sind vor allem Biblizist:innen und Anti-Gender-Krieger:innen, die kein anderes Lebensthema für sich finden, als „biblisch begründet“ gegen LGBTQI+ zu hetzen. Dagegen muss man doch etwas tun?!
Bei meiner jüngsten Trekking-Tour durch die christlichen Bubbles auf den Social-Media-Plattformen für das Social-Media-Trends-Update 2024 der Eule bin ich alten Bekannten wiederbegegnet, aber habe auch ganz neue Entdeckungen gemacht. Das liegt auch an Threads, dem Twitter-Ersatz aus dem Meta-Konzern. Die Mikroblogging-Plattform ist ein Wurmfortsatz von Instagram. Und die Christenbubble auf Threads ist fest in der Hand von Fundis und Griftern.
Die Insta-Verwandschaft hat auf Threads ein ganz eigenes Social-Media-Soziotop entstehen lassen: Influencer:innen, die mit der schriftlichen Kommunikation überfordert sind, treffen auf Twitter-Flüchtlinge, die mit der shiny and happy Insta-Kultur fremdeln. Tausende von Nutzer:innen entdecken erstmals, dass Social Media nicht vornehmlich darin bestehen muss, sich Bildchen und Filmchen von Stars, Sternchen und Werbeschaffenden anzuschauen. Nein, auf Threads kann man nun beobachten, wie Marketing-Dudes, „Social-Media-Berater“ und eben auch Fundis aller Couleur sich ein neues Publikum „erarbeiten“.
Das funktioniert auf Threads signifikant anders als auf dem alten Twitter und auf Instagram. Der Threads-Algorithmus ordnet per default die Timeline (den Feed) für die Nutzer:innen. Besonders empfindlich reagiert der Algorithmus auf engagement mit Beiträgen in Form von Antworten. Posts, auf die andere Nutzer:innen antworten, werden von der Plattform als interessant eingestuft und zahlreichen anderen Nutzer:innen – ungefragt – in die Timeline gespült.
Die Begeisterung der „ungläubigen“ Mehrheitsgesellschaft hält sich in Grenzen, wenn sie unverhofft eine Menge biblizistischen und fundamentalistischen Kram vor die Nase gezaubert bekommt. „Iiihh, wie bin ich jetzt nur in die Bibel-Bubble geraten?!“, ist noch eine der harmloseren Reaktionen, die mir in den vergangenen Wochen und Monaten begegnet ist. Aber die Fundi-Grifter legen es auch drauf an: Denn jede kritische Nachfrage, jeder empörte Kommentar oder Drüko (Zitat-Kommentar) bringt weitere, neue Reichweite.
Rage bait, also Posts, die als Köder ausgelegt werden, um Wut und andere starke Gefühle bei den Leser:innen hervorzurufen, ist auf Threads weitverbreitet, weil er eine veritable Taktik zum Reichweiten-Erfolg auf der Plattform ist. (Mehr dazu auf Englisch von Katie Notopoulos im Business Insider oder auch als Gespräch im „Gadget Lab“-Podcast von WIRED.) Rage bait ist der einfachste Trick aus der Schatulle der Empörungsunternehmer und Populisten. Wir kennen ihn aus der politischen Diskussion, er ist seit den frühesten Internettagen auch im Netz verbreitet – und er findet sich natürlich auch heute nicht nur auf Threads.
Empörungsunternehmer: Gut gemeint, aber schädlich?
Aufregung und Gegenaufregung mögen auf einer Plattform, die gegenwärtig Antworten gegenüber Likes und Follows hart algorithmisch überpriorisiert, besonders augenfällig sein. Aber Empörungsunternehmer:innen gibt es selbstverständlich auch auf Facebook, X und Instagram. Nur auf Mastodon und Bluesky, den beiden anderen größeren Twitter-Alternativen, können sie auf Grund der chronologischen Feeds ohne algorithmische Zusammenstellung nicht so richtig Fuß fassen (sog. social graph, Erklärung hier in der Eule).
Empörungsunternehmer:innen gibt es in jeder politischen Farbschattierung und offenbar auch in jeder religiösen Verortung und Frömmigkeit. Das bedauerliche an der Empörung ist allerdings, dass sie auch dann zum Erfolg der ursprünglichen Botschaft beiträgt, wenn sie sich gegen Hetzer:innen richtet. Es gibt im deutschen Internetdiskurs eine Gruppe professioneller Influencer:innen, deren Geschäft es ist, sich über die AfD, Rechtsradikalismus und vieles mehr zu entsetzen. Häufig, ohne sich einmal zu tatsächlichen Aktivist:innen und Expert:innen umzublicken. Wie Christina Dongowski auf ihrem Blog richtig beschrieben hat, entsteht dieses „Geschäftsmodell im Reiz-Reaktionsschema auf den rechten Diskurs“, ist also im Grunde Teil des populistischen Spiels:
„Als Trendschweinchen oder ganz böse gesagt ohne groß eigene kreative Gedanken oder selbst gedachte oder gemachte Inhalt zu produzieren, hat man sich auf Twitter eine solide mehrstellige Followerschaft erarbeitet. Und genau deswegen ist Twitter auch so eine prime Fascho-Inhalte-Normalisierungsplattform: die gehen immer steil, weil sich „linke“ Brand Accounts mit „kritischen“ Kommentaren oder snarky Kommentaren dranhängen und so Reichweite generieren, von der sie eben auch profitieren.“
Was Dongowski für Twitter (bzw. X) beschreibt, gilt natürlich auch für Instagram & Co.. Das alte Twitter hatte allerdings auf Grund seiner Stellung im politisch-medialen Betrieb eine Sonderstellung. Nur auf Twitter konnte zum Beispiel der Ex-Bundestagsabgeordnete und CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz zum „Goldenen Blogger 2020“ und bei Linken wie Konservativen beliebten Politinfluencer aufsteigen.
Polenz verbreitet seine einfachen Botschaften immer noch auf X, spielt sie aber automatisiert auch auf Threads, Bluesky und Facebook aus. Nur ist er halt nicht wirklich da, um sich der Kritik anderer Nutzer:innen zu stellen oder auch nur mit seinen Fans zu interagieren. Empörungsunternehmer senden ohne echten Dialog, ohne Neugier und Interesse am Gegenüber. Ihr Wirken liegt im krassen Widerspruch zum Web 2.0-Gedanken.
Jeder rechte Dummbatz kann sich glücklich schätzen, auf das „kritische“ Radar von Polenz oder einem anderen Empörungsmietling zu geraten: Ein Drüko beschert Reichweite, die man sich auf den Plattformen so überhaupt nicht kaufen kann.
Nun ist es ja schön, dass Politik-Ruheständler auf diese Weise eine Tagesbeschäftigung finden, die ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben simuliert. Aber was haben wir alle, also die ominöse Gesellschaft, von der sich aufschaukelnden Empörung?
Wäre es nicht an der Zeit, aus dem Kreislauf und der Ökonomie der Hetze auszusteigen? Den Aufstieg der extremen Rechten hat all die sozial-mediale Gegenrede (counterspeech) jedenfalls nicht verhindert. Sie ist viel eher eine Politiksimulation und Fake-Aktivismus. Digitale Empörungsunternehmer:innen verwechseln die Plattformen mit der Realität. Billige Empörung aber spielt den Hetzern in die Karten und widersetzt sich gerade nicht der radikalisierten Atmosphäre. (Mehr dazu auf dem Instagram-Account der Journalistin und Kommunikationsberaterin Dana Buchzik. Über den Atmosphäre-Begriff kann man bei A.R. Moxon lesen.)
Rage bait für Christ:innen
Auch in den christlichen Bubbles auf Instagram & Co. gibt es rage bait. Und Christ:innen stecken mittem im Kulturkampf, in dem es vor allem um den Anti-Gender-Diskurs, LGBTQI+ und rassistische sowie antisemitische Hetze geht. Hinzu kommen klassische Topoi des christlichen Fundamentalismus wie purity culture („Kein Sex vor der Ehe!“) sowie „traditionelle“ Familien- und Frauenbilder. Der aktuelle Kulturkampf ist außerordentlich durch talking points (etwa: Schlagwörter) rechter Christen geprägt – ein Import aus den USA. Deshalb tragen Christ:innen als Mediennutzer:innen und Bürger:innen auch eine große Verantwortung dafür, wie wir mit ihnen umgehen.
Ich kann den Impuls sehr gut verstehen, diesen Botschaften widersprechen zu wollen. So will man sich als Christ:in dann doch nicht dargestellt wissen! Vor allem will man auch anderen Menschen zeigen, dass das rechte Gesülze nicht „christlich“ ist. Sicher will man auch die Opfer rechter Hetze in Schutz nehmen. Das Problem: Wie bei jedem rage bait aktualisiert man durch die Empörung die Ursprungsbotschaft, trägt sie weiter, macht sie diskurswürdig. An schlechten Tagen, von denen es nicht wenige gibt, dreht sich die Kirchenbubble einzig und allein um den neuesten Aufreger aus der extrem rechten christlichen Ecke.
Dabei werden Überzeugungen wie „Kein Sex vor der Ehe“ oder Biblizismus in Deutschland nur von einer kleinen Minderheit der Christ:innen und Kirchen vertreten. Auch wenn die Kirchen noch auf dem Weg sind, die Diskriminierung von LGBTQI+ in all ihren verschiedenen Facetten zu beenden, haben die allermeisten Christ:innen nichts gegen LGBTQI+ und wissen darum, dass die einschlägigen Bibelstellen zur Propaganda nicht taugen. Sie sind auch keine Tradwife-Fans. Und sie halten sich – gut biblisch – beim Verurteilen anderer Menschen zurück. Von Leuten, die im Brustton der Überzeugung „für alle Christen“ sprechen, sollte man die Finger lassen.
Hier spielt sicher auch der begrenzte Horizont von Fundis und auch von Ex-Fundis eine Rolle, die gelernt haben, unter Kirche nur eine kleine gesellschaftliche Minderheit zu verstehen. In diesem „Freikirchenmindset“ ist gar nicht vorgesehen, dass über 40 Millionen Menschen in Deutschland zu einer Kirche gehören, dass Diakonie und Caritas die größten Wohlfahrtsverbände des Landes sind, und viele, viele, viele Menschen mal Sternsinger:innen und Konfirmand:innen waren und den Religionsunterricht besucht haben. Wer die Vielfalt christlichen Lebens in den Blick nimmt, kann einen Satz nicht ernsthaft mit „Wir Christen glauben, dass …“ beginnen.
Neuankömmlingen und passageren Besucher:innen stellt sich die Kirchenbubble auf Instagram als ein Ort dar, an dem jeden Tag über LGBTQI+, Sexualmoral und das Wohlverhalten von Frauen gestritten wird. Hetze und auch Gegenrede sind dabei eines sicher nicht: kreativ und neu. Im Gegenteil: beide sind redundant und oberflächlich. Dabei beschäftigen sich Christ:innen in Deutschland mit einer Vielzahl weiterer gesellschaftlicher und politischer Themen. Sie bilden die Mitte dieser Gesellschaft. Das vielfältige Engagement von Christ:innen und Kirchen droht hinter dem Kulturkampf um Themen zu verschwinden, die von rechten Akteuren gesetzt werden.
Wirksame Gegenrede und andere Erzählungen
Wirksame Gegenrede erschöpft sich nicht in Empörung. Wie ich im „Windhauch“-Podcast von Tobias Sauer erkläre, ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit extrem rechten Positionen und missbräuchlicher Theologie notwendig. Dafür gibt es in den Kirchen auch Expert:innen, deren Expertise verstärkt auf die (digitale) Strecke gebracht werden muss. Es gibt auch eine Menge an Büchern, Podcasts, (populär-)wissenschaftlichen Artikeln usw. – man kann, wenn man denn will, viel dazulernen! Und das sollten wir machen, nicht auf den nächsten Empörungszug aufspringen.
Denn Kritik ist nicht, einfach empört zu sein. Kritik ist nicht, sich als moralisch überlegen hinzustellen. Das nennt man zu Recht virtue signalling (etwa: Tugendprahlerei). Noch nie hat ein Biblizist sich auf einmal für historisch-kritische Exegese interessiert, weil man ihn auslacht. Noch kein rechter Kulturkämpfer hat sich bekehrt, nur weil Menschen sich durch seine Botschaften verletzt fühlen. Wenn wir einfach mitmachen beim Spiel der Populisten, graben wir unser eigenes Grab. Wer nach Likes und billigem Applaus giert, der nimmt Schaden an seiner:ihrer Seele.
Machen wir einen Deal?! Für jeden rage bait-Beitrag, für jedes Reel und jede Insta-Story, die sich mit den talking points von Fundis und Rechtspopulisten befassen, und die unbedingt versendet werden müssen, machen wir doppelt so viele Beiträge über andere wichtige gesellschaftliche, (kirchen-)politische und theologische Fragen und Themen. Wir verstärken mit unseren Herzchen, Likes und Reposts nicht mehr die Hetzer, sondern diejenigen Akteur:innen, die kreativ und kundig ihre Themengebiete beackern. Wir reproduzieren nicht den rechten Kulturkampf, sondern setzen eigene Themen, erzählen andere Geschichten. Wir hören auf, unsere Welt um Fundis und extrem rechte Populisten kreisen zu lassen. Denn das tut sie nicht. Wer sich von christlichen Fundamentalisten umzingelt sieht, der ist auf die Macht der Algorithmen und des Populismus reingefallen.
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- Was ist los auf den Social-Media-Plattformen? Wie können Christ:innen, christliche Content Creator und Medien auf den Wandel der „sozialen“ Medien reagieren? Das beschreibt Eule-Redakteur Philipp Greifenstein im neuen Social-Media-Trends-Update 2024: Welche Social-Media-Trends bewegen #digitaleKirche?
- Über die aktuellen Entwicklungen auf den Social-Media-Plattformen und die Konsequenzen für christliche und kirchliche Medienschaffende diskutiert Philipp Greifenstein in der aktuellen Episode des „Windhauch“-Podcasts von Tobias Sauer (ruach.jetzt).
- Wie können Christ:innen auf Instagram leben? Darüber diskutierten wir live mit der Bloggerin Kira Beer und Eule-Abonnent:innen im Herbst 2022. Für eine ehrliche Debatte über Social-Media-Nutzung in der Kirche: „Instagram: Zwischen „Reel me in“ und Bubble-Gefängnis“
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