Analyse Neue EKD-Ratsvorsitzende

Kirsten Fehrs: Eine Ahnung davon, was kommt

Die EKD-Synode hat Bischöfin Kirsten Fehrs zur Ratsvorsitzenden gewählt. Ihre Kirche steht vor der Herausforderung, der Missbrauchskrise zu begegnen. Eine Nachwahlbetrachtung.

Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat heute Bischöfin Kirsten Fehrs – wie erwartet – zur neuen EKD-Ratsvorsitzenden gewählt. Fehrs war bereits seit Herbst 2023 amtierende Ratsvorsitzende, weil Annette Kurschus vom Amt der Ratsvorsitzenden zurückgetreten war (s. hier, hier, hier, hier, hier & hier in der Eule). Fehrs ist Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche).

„Ich nehme die Aufgabe mit Gottvertrauen an. Vom letzten Jahr her auch mit einer Ahnung davon, was auf mich zukommt“, erklärte Fehrs im Anschluss an ihrer Wahl auf einer Pressekonferenz. Immer wieder kommen auf die Evangelische Kirche und Fehrs persönlich Kritik und Vorwürfe im Kontext der Aufarbeitung der Missbrauchskrise zu. In diesen Tagen der Würzburger Tagung der EKD-Synode sind es vor allem seit Jahren im Raum stehende Vorwürfe, Fehrs habe als verantwortliche Leitende in ihrer Landeskirche bei der Aufarbeitung und im Umgang mit Betroffenen Fehler gemacht.

Den Umgang mit Fehlern üben

Ihren Weg auf die Synodentagung fanden die Vorwürfe auf zwei Wegen: Einmal durch einen Offenen Brief von Thies Stahl im Vorfeld der Synodentagung, der sich u.a. an die Synodalen als Adressaten richtete, und der in einem Artikel von Stephan-Andreas Casdorff beim Berliner Tagesspiegel (€) Erwähnung fand. Zum anderen wurden im Rahmen der Befassung der Synode mit dem Handlungsfeld Sexualisierte Gewalt am Montagnachmittag die in dem Offenen Brief enthaltenen Vorwürfe durch eine „Anwältin des Publikums“, Julia von Weiler, in die Synodentagung eingebracht.

Die „Anwältin des Publikums“ hatte die Aufgabe, Meinungen und Eindrücke von Betroffenen von sexualisierter Gewalt, die extra zur Tagung angereist waren, auf dem Podium der Synode gebündelt vorzutragen. Ihr Vortrag ergänzte den Bericht aus dem Beteiligungsforum in der EKD (BeFo) über Forschritte auf dem Handlungsfeld Sexualisierte Gewalt. Auf den Inhalt des Vortrags nahmen nach Informationen der Eule das BeFo und die Synodenleitung keinen Einfluss. Neben den vielfältigen Eindrücken der Gäste, die zuvor vor dem Konferenzzentrum demonstriert hatten, gab Julia von Weiler auch die Frage weiter, warum sich die EKD, Fehrs und die Nordkirche nicht zu den Vorwürfen äußerten. Damit standen sie auch auf der Synodentagung – unkommentiert und unwidersprochen – im Raum.

Bereits kurz vor der Tagung hatten die Synodalen eine Entgegnung auf den Offenen Brief von Thies Stahl seitens der Fachstelle Sexualisierte Gewalt der EKD erhalten, die gestern auch der Gesamtheit der berichtenden Journalist:innen zur Verfügung gestellt wurde. Am Montagabend gab es einige Unruhe, ob sich Fehrs oder die ebenfalls in der Kritik stehende Landesbischöfin der Nordkirche, Kristina Kühnbaum-Schmidt, vor der EKD-Synode oder am Rande persönlich äußern würden. Dies geschah nicht.

Auf der Pressekonferenz nach ihrer erfolgreichen Wahl am Dienstag musste Fehrs eine Reihe von Fragen zu den Vorgängen beantworten. Die Vorwürfe von Stahl, die er immer wieder auf seinem Blog veröffentlicht und Medien zur Kenntnis bringt, seien „gegenstandslos“, erklärte sie. Nachdem sie sechs Jahre lang darauf verzichtet habe, sich juristisch gegen die Vorwürfe zur Wehr zu setzen, wolle sie dies nun doch in Angriff nehmen. Stahl sei selbst kein Betroffener, sondern spreche für eine Betroffene, die ihr „sehr leid“ tue. Ihre Ratskolleg:innen seien in der Sache seit Jahren immer wieder von ihr in Kenntnis gesetzt worden.

In der Nordkirche gäbe es darüber hinaus „ordnungsgemäße und geregelte Verfahren“, in denen auch Fehler in Aufarbeitungs- und Anerkennungsverfahren überprüft würden, erklärte Fehrs. Neu ist, dass die Nordkirche gegenwärtig externe Beratung darüber konsultiert, ob eine externe Aufarbeitung der Vorwürfe angeraten sei. Die Synode der Nordkirche trifft sich vom 21. bis 23. November in Lübeck-Travemünde.

Der Deutung, die Entgegnung der EKD-Fachstelle sei ausreichend, schloss sich auch der seit Montagnachmittag wieder vollständige Rat der EKD in seiner Sitzung am späten Abend an und schlug der Synode heute Morgen dann Kirsten Fehrs als einzige Kandidatin für das Amt der Ratsvorsitzenden zur Wahl vor. Bei der Wahl selbst erhielt Fehrs deutlich weniger Stimmen als Annette Kurschus vor drei Jahren, nämlich nur 97 Ja-Stimmen von 130 abgegebenen gültigen Stimmen (Kurschus 2021: 126 von 140).

Eine Ahnung davon, was kommt

Kein(e) andere(r) evangelische(r) Bischöf(in) hat sich in den vergangen 14 Jahren so intensiv mit der Missbrauchskrise der Evangelischen Kirche und Diakonie befasst wie Kirsten Fehrs. Auf diesem langen Weg habe sie auch Fehler gemacht, gestand Fehrs bereits anlässlich der regulären Ratswahlen 2021 vor der Synode ein. Ihre Belastung mit dem Thema war einer der Gründe, warum Annette Kurschus und nicht sie damals zur obersten Repräsentantin der Evangelischen Kirche gewählt wurde.

Bereits am Sonntag hatte Fehrs auch bezüglich der Umstände des Rücktritts von Annette Kurschus im vergangenen Jahr öffentlich eine Mitverantwortung übernommen. „Wir haben alle Fehler gemacht nicht allein Annette Kurschus , insbesondere im Bereich der internen Kommunikation“, erklärte sie in ihrem Bericht vor der Synode. Vor der Presse präzisierte sie, sie hätte sich dafür einsetzen müssen, „einen Ort der Ruhe zu finden“, an dem man gemeinsam hätte nachdenken müssen, wer jetzt mit wem reden müsse und was gemeinsam getan hätte werden müssen.

Mit Fehrs hat der Rat der EKD nun eine auch ordentlich gewählte Vorsitzende, die sich auf die politische Kommunikation versteht, Claims und Überzeugungen der Kirche effektiv in die Öffentlichkeit trägt und beim Dauerthema Sexualisierte Gewalt außergewöhnlich sprachfähig ist. Rhetorische Eleganz und theologische Deutungshoheit allerdings wurden Anfang des Jahres 2024 von der „ForuM-Studie“ über Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Evangelischen Kirche und Diakonie – wir berichteten – auch als Probleme bei der Aufarbeitung des Missbrauchs beschrieben, weil sie auch Machtmittel in einer Kirche sein können, die sich bisher gegen (Selbst-)Kritik häufig immunisiert hat.

Fehrs im Vergleich zu Ratswahlen vergangener Zeiten schlechtes Wahlergebnis heute ist Zeugnis dafür, dass die Wunden des Jahres 2023 sich nur langsam schließen und die Zukunft unklar ist. Die Zeiten, in denen evangelische Synoden geschlossen und unverbrüchlich hinter den Leitungskräften stehen, die sie zu wählen haben, sind aus guten Gründen vorbei. Die Wahl der neuen Ratsvorsitzenden heute ist Spiegelbild dieser begrüßenswerten Entwicklung, die womöglich ein Teil des von der Kirche versprochenen Kulturwandels beim Umgang mit Macht in der Kirche ist.


Vom 8. bis 13. November berichtet Eule-Redakteur Philipp Greifenstein wieder von der Tagung der EKD-Synode. Alle Eule-Beiträge zur EKD-Synode 2024 in Würzburg finden sich hier.


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Hinweis, 13.11.2024, 10:00 Uhr: Ergänzt um eine Erklärung zur Arbeit der „Anwältin des Publikums“.

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