Kurschus unter Druck – Die #LaTdH vom 19. November

Der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus wird vorgeworfen, missbräuchliches Verhalten gedeckt zu haben. Außerdem: Kirchenmitgliedschaft unter dem Mikroskop und ein Wortschatz.

Herzlich Willkommen!

Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum: Die Kirchennachricht der Woche sind natürlich die schweren Anschuldigungen von mutmaßlich Betroffenen gegen die heutige EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus, sie sei in ihrer Siegener Pfarrerinnenzeit zwar auf sexuelle Übergriffe eines Kirchenmitarbeiters hingewiesen worden, habe daraufhin aber nicht im ausreichenden Maße agiert.

Ihre heutigen Einlassungen, sie habe von den Vorwürfen gegen den Kirchenmitarbeiter erst Anfang diesen Jahres erfahren, als sich Betroffene bei ihrer Westfälischen Landeskirche meldeten, werden durch die Aussagen zweier Zeugen und womöglich einen Brief (Inhalt nicht öffentlich) in Zweifel gezogen. Sie hätten Kurschus in einem „Gartengespräch“ Ende der 1990er Jahre informiert. Kurschus erinnert sich nicht oder anders. Am Montagvormittag will sie sich abermals vor der Presse erklären. Was ich dazu zu kommentieren hatte, habe ich bereits am Donnerstag hier in der Eule getan. Die neuesten Entwicklungen finden sich unter „nachgefasst“ in diesen #LaTdH.

Die Themen der Tagung der EKD-Synode in Ulm werden unter „Siegen“ gründlich begraben. Vorneweg die Fortschritte, die Betroffene sexualisierter Gewalt im (immer noch irgendwie neuen) Beteiligungsforum (BeFo) der EKD erringen konnten. Dann aber natürlich auch die neue Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6), die auf der Tagung in Ulm erstmals und zum Teil vorgestellt wurde. Hernach alle anderen evangelisch-gesellschaftlichen Debatten wie die Re-Formulierung der evangelischen Positionen zum Schwangerschaftsabbruch. Während Eule-Leser:innen sich was „Siegen“ angeht in der Eule im ausreichenden Maße ins Bild setzen können (hier, hier, hier & hier), sieht das bei den anderen Themen (noch) anders aus. Wir werden das in den kommenden Tagen einzuholen versuchen.

Als besonders tragisch empfinde ich es, dass die Einlassungen von Kurschus zur Migrationspolitik und zur Hilfe für Geflüchtete in ihrem Ratsbericht von Sonntag ganz schnell aus den Nachrichten gedrückt wurden. Von der Solidarität mit Jüdinnen und Juden angesichts des Antisemitismus in Folge des 7. Oktober ganz zu schweigen! Viele Menschen fragen sich in diesen Wochen, wer der Eskalation der Verrohung noch entgegentritt. Nun: Die Kirchen. Christ:innen halten dieses Land im Ehrenamt am Laufen (s. KMU 6) und garantieren für die Aufnahme von Geflüchteten. Sie setzen sich für eine gerechtere Gesellschaft und ihre Umwelt ein. Es gibt keinen Grund, sich dessen zu schämen.

Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein

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Debatte

Die EKD hat ihre neue Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) vorgelegt. Aller zehn Jahre geben die KMUs darüber Auskunft, was so in den Kirchen geglaubt und gemeint wird. Erstmals wurde gemeinsam mit der katholischen Kirche geforscht. Befragt wurden also Evangelische, Katholik:innen und Konfessionslose. Die schon veröffentlichten Ergebnisse hat die EKD auf einer eigenen Website recht gelungen aufbereitet und der epd hat eine sehr knappe Zusammenfassung. Die Vorstellung der KMU auf der Synodentagung und weitere Impulse kann man in diesem Live-Stream auch nachträglich anschauen. Und Leonie Mihm hat für evangelisch.de mit Friederike Erichsen-Wendt gesprochen, die im Kirchenamt der EKD für die KMU zuständig ist (außerdem sieht man im Video mal ein wenig, wie hässlich die Tagungsräume des Ulmer Maritim-Hotels sind).

Wie hältst du’s mit der Religiosität? – Kristin Merle, Reiner Anselm, Uta Pohl-Patalong (zeitzeichen)

Pünktlich zur Veröffentlichung begann auch der übliche Streit unter den Theolog:innen und Religionssoziolog:innen über die richtige Auswertung der empirischen Daten. Wie immer finden sich Anhänger:innen der Individualisierungsthese in der einen Ecke des Debattenrings, die der Säkularisierungsthese in der anderen. Die offiziöse Deutung, die es in den Print und auf die EKD-Website geschafft hat, neigt sehr der Säkularisierungsthese zu, nach der Religosität im Allgemeinen und vor allem auch außerhalb der verfassten Kirche im Schwinden begriffen ist.

In den zeitzeichen halten die TheologieprofessorInnen Kristin Merle, Reiner Anselm und Uta Pohl-Patalong dagegen: Das Studiendesign sei überhaupt nicht geeignet dazu, individuelle Religiosität angemessen zu beschreiben und die erste Überblicksdarstellung, die nun der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, in ihrer Deutung defizitär. Kristin Merle hat außerdem der Christ & Welt ein Interview zur KMU gegeben: „Wenn es nicht passt, dann geht man halt“. Wenn es doch in der evangelischen Kirche nur so einfach wäre!

Das ist alles durchaus interessant und verdient ein ausführliches Studium der zugrundeliegenden Daten und theologischen Voraussetzungen der Deutungen. Dafür haben wir ja nun wieder 10 Jahre Zeit! In den Konkretionen – ich habe darüber erst im Sommer im Kontext der aktuellen Kirchenmitgliedschaftszahlen geschrieben (s. hier & hier) – läuft ja dann sowieso Vieles aufs Gleiche raus. Die KMU-Überblicksdarstellung enthält zu jedem Kapitel übrigens eine Liste von Handlungsempfehlungen für die kirchliche Arbeit. Die spielen bisher in der Diskussion eine eher untergeordnete Rolle.

„Wie hältst du’s mit der Kirche?“ – Konstantin Sacher (Chrismon)

Bei der Chrismon kommentiert deren theologischer Redakteur Konstantin Sacher die KMU-Ergebnisse recht pragmatisch. Man hofft ja stets, dass die mit großem Aufwand (auch an Geld) erstellten KMUs tatsächlich gelesen werden. Ein Einstieg in die Befassung könnte dieser Kommentar sein.

[P]olitisches und soziales Engagement der Kirche bringt nichts, wenn niemand mehr in der Kirche ist. Und damit ein Mensch Kirchenmitglied ist, muss er oder sie Religion überhaupt erst einmal kennenlernen. Das geschieht vor Ort in den Gemeinden, mit den Menschen, analog oder digital.

Das politische und soziale Engagement der Kirchen genießt übrigens laut KMU 6 hohes Ansehen, viel höheres als die Institution an sich. Das zumindest müsste all denen den Wind aus den Segeln nehmen, die Kirchendebatten entlang der Linie Spiritualität / Innerlichkeit vs. Politik / gesellschaftliches Engagement führen. Es ist halt alles nicht so einfach, wie auch Reinhard Bingener in der FAZ schreibt:

Die Kirchen leeren sich auch nicht vor allem deshalb, weil die Kirchenoberen sich politisch einseitig positionieren. Für diesen häufiger kon­struierten Zusammenhang existiert keine sozialwissenschaftliche Evidenz. Die Schlussfolgerung der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus, die Kirche müsse politisch deshalb nun noch stärker „klare Kante“ zeigen, dürfte durch die Daten jedoch auch nicht gedeckt sein.

Bleibt alles anders

Eine Synodale zitierte in der Aussprache zum Schwerpunktthema „Sprach- und Handlungsfähigkeit im Glauben“ auf der Tagung der EKD-Synode Herbert Grönemeyer. Dessen Liedzeile „Bleibt alles anders“ geht mir seit Ulm nicht aus dem Kopf. Denn die KMU 6 verschärft zwar die Prognose der Kirchenmitgliedschaftsentwicklung, wie sie die Freiburger Studie noch angesetzt hatte: Der Rückbau in den Kirchen wird sich also deutlich verschärfen.

Aber zugleich sind die Austrittszahlen, die für den Rückgang ja mitverantwortlich sind, höchst volatil. Zwar gehen Expert:innen davon aus, dass es sich bei den hohen Austrittszahlen der vergangenen beiden Jahre nicht um eine „Welle“, sondern um die neue Normalität handelt. Aber wenn die ganze Evangelische Kirche in einen Missbrauchsskandal mit hineingezogen wird, könnte sich das Austrittsgeschehen noch einmal deutlich dynamisieren.

nachgefasst

Siegen / Kurschus

Im „Siegen“-Komplex bzgl. der EKD-Ratsvorsitzenden gibt es einige Nachträge zu unserer Berichterstattung hier in der Eule: Detlev Zander, Betroffenenvertreter im Beteiligungsforum der EKD (BeFo), hat die Erklärung der Betroffenensprecher:innen (hier in der Eule) persönlich noch einmal verschärft: Gegenüber Benjamin Lassiwe für die Rheinische Post und im WDR Fernsehen (bei 21:30 Min) forderte er Kurschus zum Rücktritt auf. Für die Betroffenen, die sich auf den schwierigen Weg der Zusammenarbeit mit der Kirche eingelassen haben, geht es um ihre Glaubwürdigkeit und die der gemeinsamen Arbeit. Der Rat der EKD hat in seiner Einladung zur Presseerklärung der Ratsvorsitzenden am Montag noch einmal deutlich gemacht:

[D]er Rat der EKD hat in den vergangenen Tagen mehrfach mit und ohne die Ratsvorsitzende getagt. Er bekennt sich zu dem schwierigen und langen Weg der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie. Er hält es für unabdingbar, dass auf diesem Weg betroffene Personen systematisch mitentscheiden. Dabei setzt die EKD auf die Struktur des Beteiligungsforums, das diese Mitwirkung garantiert.

Zuvor war in der Abschluss-PK der wegen des Bahnstreiks eilig unterbrochenen Synodentagung bereits die Präses der EKD-Synode, Anna-Nicole Heinrich, merklich auf Distanz zur Ratsvorsitzenden gegangen. Sie habe nach der Erklärung von Kurschus im Plenum am Dienstagabend nicht geklatscht. Heinrich war allerdings – anders als viele andere Teilnehmer:innen – zu diesem Zeitpunkt über die Berichte der Siegener Zeitung im Bilde (wir berichteten).

Im scharfen Kontrast dazu hat die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), deren Präses (Leitende Geistliche) Annette Kurschus seit 2012 ist, in ihrer Sitzung am Donnerstag Kurschus den Rücken gestärkt. Nich allein das, sondern Michael Bertrams, ehrenamtliches Mitglied der Kirchenleitung seit 2012 und von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen, bekundete Kurschus im Kölner Stadt-Anzeiger „in voller Übereinstimmung mit sämtlichen Mitgliedern der Kirchenleitung öffentlich meine und unser aller Solidarität“. Der Eule liegen inzwischen mehrere glaubhafte Schilderungen vor, nach denen in EKvW-Kreisen von einer „Schmutzkampagne“ gegen Kurschus die Rede ist. Mal ganz unabhängig davon, wie diese Sache ausgehen wird: Sollte so das angemessene evangelische Mindset in Sachen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ausschauen? Sicher nicht.

Was Kurschus am Montag in Bielefeld erklären wird, werden wir alle sehen. Am Ende könnte tatsächlich die Synode der EKD wieder ins Spiel kommen: Sie setzt die in Ulm unterbrochene Tagung in wenigen Wochen digital fort. Eigentlich stehen dann die 2. und 3. Lesungen der Anträge von Ulm auf der Tagesordnung. Es könnte aber auch noch ein Antrag zur Abwahl der EKD-Ratsvorsitzenden gestellt werden. Nur die Synode kann eine:n Ratsvorsitzende:n abwählen. Ein solcher Antrag würde die Synodalen dann vor die Entscheidung stellen, ob sie sich hinter Kurschus stellen wollen – oder nicht.

In der Herder Korrespondenz kommentiert Benjamin Lassiwe:

Aber am Ende geht es eben auch in evangelischen Kirchenämtern oft zu sehr um Macht und Machterhalt. Macht abzugeben fällt den Menschen schwer, auch in der Kirche. Doch im Fall von Annette Kurschus geht es nicht mehr anders. Denn eine EKD-Ratsvorsitzende, die einst selbst erklärte, den Umgang mit sexuellem Missbrauch zur „Chefinnensache“ zu machen, muss auch selbst über jeden Zweifel erhaben sein.

Gemeinsam auf schwerem Weg – Kathrin Jütte (zeitzeichen)

Den Bericht des Beteiligungsforums (BeFo) zur Befassung mit sexualisierter Gewalt in der EKD auf der Synodentagung hat Kathrin Jütte in den zeitzeichen beobachtet. Einheitliche Anerkennungsverfahren, regionale Aufarbeitungskommissionen und die Vernetzungsplattform BeNe – all das soll im Verlauf des nächsten Jahres endlich an den Start gehen.

Christiane Lange ist Mitglied des Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt. Sie führt am Dienstagnachmittag vor den EKD-Synodalen in Ulm mit sehr persönlichen Worten in den jährlichen Bericht des Forums ein und geht noch einen Schritt weiter. „Nun seid Ihr dran, auszuhalten. Nicht leugnen, nicht bagatellisieren, seid da, hört zu, lasst reden, lasst uns benennen, ohne Widerspruch, zeigt Mitgefühl, erkennt an, die Last, den Schmerz, nehmt ernst und helft, aus tiefstem Herzen.“

Eine ausführliche Analyse der BeFo-Fortschritte wird es in der Eule in den kommenden Tagen geben. Vor allem kommt es jetzt aber darauf an, dass sie von der EKD-Ebene in die Landeskirchen einwandern. Die Vernetzungsplattform BeNe zum Beispiel „kann nur so gut sein, wie sie auch genutzt wird“. Die Betroffenensprecher:innen im BeFo erinnern: „Bitte weisen Sie auf BeNe hin, machen sie Werbung, in jeder Gemeinde sollte bekannt werden, dass es BeNe bald gibt.“

Theologie / Predigt

Wortschätze teilen – Christina Brudereck (EKD, YouTube)

In die Befassung mit dem eigentlichen Schwerpunktthema der diesjährigen Synodentagung „Sprach- und Handlungsfähigkeit im Glauben“ wollte die EKD-Synode bewusst mit einem untypischen Impuls starten: Am Montagabend hielt die Theologin und Autorin Christina Brudereck vor dem Plenum eine bemerkenswerte, hervorragende Rede. Es ist eigentlich völlig überflüssig, an dieser Stelle längere Erklärungen ihrer Rede vorzunehmen – oder war es eine Predigt? Eine poetische Intervention? Schauen Sie sich diesen Impuls doch einfach an.

Abgesehen davon, dass in ihrer Rede jedes Wort sitzt, klug gewählt, ja das wirklich am besten passende deutsche Wort an der richtigen Stelle im Verlauf der Rede ist, spricht Brudereck in großer performativer Klarheit. Es sind auch Gesten, Stimmlagen und Blicke, die hier miterzählen. Wenn wir das doch nur häufiger könnten, uns beim debattieren wirklich in die Augen schauen!

Ein guter Satz

„Ein fallender Baum macht mehr Lärm als ein wachsender Wald.“

– Papst Franziskus zu den vatikanischen Finanzskandalen. Einer seiner flotten Sprüche, die auf Flora und Fauna anspielen, die Joachim Heinz von der KNA hier zusammengetragen hat.