Wer rettet die Kirche?

Angesichts der Rekordaustrittszahlen fragen sich viele Christ:innen: Geht es mit den Kirchen immer nur weiter abwärts? Der Wandel von Religiosität und Kirchenmitgliedschaft reicht tief – und birgt auch Chancen.

„Eigentlich sehe ich nicht, dass durch Reformen wirklich sehr viel bewirkt werden kann“ – Der Religionssoziologe Detlef Pollack zeigt sich im MDR-Interview zu den neuesten Kirchenaustrittszahlen etwas ratlos. Zwar versuche die Kirche seit den 1960er Jahren – das ist jetzt über ein halbes Jahrhundert lang – die Mega-Trends Säkularisierung und Individualisierung (s. hier) zu antizipieren und habe sich dadurch bereits stark verändert, „aber obwohl sie sich verändert hat, hat sie den Abwärtstrend nicht aufhalten können“. Es sei sogar noch dramatischer: „Obwohl die Kirchen eigentlich eine lebendige Gemeinschaft bilden und immer menschenfreundlicher geworden sind, wenden sich die Menschen von der Kirche ab.“

Pollack spiegelt im MDR-Interview, was viele engagierte Christ:innen in den Kirchen spüren: Alles Bemühen um eine lebendige, vielfältige Arbeit in den Kirchgemeinden, das Ausprobieren neuer Formen von Kirche und jeder Kampagnenversuch tragen nur „im Kleinen“ etwas aus. Nur wenige Menschen lassen sich von der Kirche wiedergewinnen. „Vielleicht“, gibt Pollack zu bedenken, „wäre der Abwärtstrend aber noch schlimmer ausgefallen“, wenn sich die Kirche nicht verändert hätte.

Die Rekorde der Kirchenaustritte in den letzten Jahren verdanken sich allerdings nicht allein gesellschaftlichen Mega-Trends. Ihnen liegt eine massive Glaubwürdigkeitskrise der Kirchen zugrunde. An den Austritten aus der römisch-katholischen Kirche lässt sich das besonders gut beobachten. Traditionell nämlich treten Katholik:innen eher seltener aus der Kirche aus als Protestant:innen. Die evangelischen Kirchen haben in den 1990er Jahren bereits eine große Austrittswelle erlebt. Zwischen 1991 und 2000 traten jährlich durchschnittlich 146.000 Menschen aus der römisch-katholischen, aber 253.000 Menschen aus den evangelischen Kirchen aus. Im letzten Jahr 2022 knackte die Evangelische Kirche ihren Austrittsrekord von 1992 (361.256 Kirchenaustritte).

In den 2000er Jahren gingen die Austrittszahlen beider Kirchen etwas zurück und während der beiden ersten Jahrzehnte des neuen Jahrtausends näherten sich die Austrittszahlen beider Kirchen immer mehr an. Ein Zeichen dafür, dass in der Wahrnehmung auch der Christ:innen zwischen den Kirchen weniger differenziert wird als noch vor wenigen Jahrzehnten. Mit Ausnahme von 2010 – verursacht durch die erste Welle des Missbrauchs-Skandals in Deutschland durch die Enthüllungen am Canisius-Kolleg Berlin – und 2013 (Gleichstand) wiesen die evangelischen Kirchen im Durchschnitt noch immer wesentlich höhere Austrittszahlen auf als die römisch-katholische Kirche. Beobachter:innen und Religionssoziolog:innen führten das stets auf die stärkere Bindung katholischer Christ:innen an ihre Kirche zurück, die natürlich auch theologische Gründe hat (extra ecclesiam nulla salus, „außerhalb der Kirche kein Heil“).

Erst mit den Jahren 2018/2019 hat sich dieses Verhältnis umgekehrt. Im Herbst 2018 veröffentlichte die römisch-katholische Kirche die sog. MHG-Studie zum Missbrauch. Erstmals stand ein – wenn auch vorläufiges – Bild des Ausmaßes des Missbrauchs und seiner Vertuschung in der Kirche in Deutschland den Gläubigen vor Augen. Seitdem werden im Abstand von einigen Monaten in einzelnen (Erz-)Bistümern weitere Missbrauchsstudien veröffentlicht, die die Ergebnisse der MHG-Studie bisher alle stützten und deren Fallzahlen sogar noch weiter nach oben korrigierten. An den Austrittszahlen der jeweiligen (Erz-)Bistümer kann man gut ablesen, wann und wo eine Missbrauchsstudie veröffentlicht wurde bzw. welche (Erz-)Diözese besonders im Fokus der öffentlichen Missbrauchsaufarbeitung steht.

Nicht allein Kirchen-, sondern Glaubenskrise

Der gegenwärtigen Austrittswelle liegt also im besonderen Maße der Missbrauchsskandal zugrunde. Auch der Kirche hochverbundene Mitglieder treten aus Abscheu und Enttäuschung aus. Hinzu kommt gerade unter jungen und progressiven Katholik:innen auch die Ernüchterung darüber, was Gesprächsprozesse wie der 2019 begonnene Synodale Weg ausrichten können. Die vatikanischen Absagen an Reformen und deren Ablehnung durch einzelne Bischöfe tragen dazu in erheblichem Maße bei. Hört man diesen Menschen zu, muss man den Eindruck gewinnen, sie behüteten geradezu ihren Glauben, indem sie der Institution Kirche den Rücken zukehren.

Kirchenaustritt bedeutet also ganz sicher nicht zugleich Glaubensabfall. Das gilt in abgeschwächter Form auch für die vielen evangelischen und katholischen Christen, die mit „dem Glauben nichts mehr anfangen“ können. Zumindest einige von ihnen meinen damit eben nicht ihre persönliche, häufig wenig reflektierte Religiosität, sondern „den Glauben der Kirche“, seine traditionellen Dogmen und Darstellungsformen.

Wenn es nur darum ginge, die Austrittszahlen zu verringern, müsste man der römisch-katholischen Kirche empfehlen, in der Öffentlichkeit weniger über den Missbrauch und dessen Aufarbeitung zu sprechen. Dann würde auch zutreffen, was einige evangelische Akteur:innen in den vergangenen Monaten verstärkt nach vorne stellen, nämlich möglichst viel Abstand zwischen sich und die katholische Kirche zu bringen. Der Glaubens- und Vertrauenskrise aber ist damit nicht abgeholfen.

Die Kirchenaustritte verdanken sich nicht allein gesellschaftlichen Megatrends und sie sind auch nicht ausschließlich Folge von Leitungsversagen, der mangelnder Qualität kirchlicher Angebote und zu viel oder zu wenig „Anpassung an den Zeitgeist“. Von dem Druck, die Kirche mit noch so viel Anstrengung und gutem Willen retten zu können, muss man Ehren- und Hauptamtliche in den Kirchen entlasten. Den Wechselwirkungen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Prozesse mit selbstverursachten Problemen können einzelne Akteur:innen unmöglich effektiv begegnen.

Wie kann Veränderung geschehen?

Reformdiskussionen werden darum in beiden Kirchen von einer Meta-Debatte darüber begleitet, ob Veränderung im System überhaupt möglich ist oder ob das System als Ganzes überwunden oder mittels informeller Netzwerke in Bewegung gesetzt werden muss.

Im evangelischen Kontext ist damit die Frage gestellt, ob notwendige Veränderungen im Rahmen des synodalen Prinzips angestoßen werden können oder der zentralen Steuerung (durch Hauptamtliche) bedürfen oder prinzipiell nur auf Graswurzel-Ebene und vermittels Networking beispielhaft inszeniert werden können (best practice). Akteur:innen, die auf den Wert institutionellen Fortschritts verweisen, da dieser zwar langsamer aber nachhaltiger sei, stehen anderen Akteur:innen gegenüber, die auf temporäres Engagement sowie anlass- und themenbezogene Bündnisarbeit setzen. Innerkirchliche Bündnisse zwischen diesen Akteur:innen-Gruppen, die das Beste beider Welten miteinander verbinden, finden sich allerdings nur selten.

Im katholischen Kontext kristallisiert sich die Meta-Debatte in der Frage, ob und inwieweit Reformen überhaupt in Gemeinschaft mit der römischen Kurie, der Weltkirche, und ihren örtlichen Vertretern, den (Erz-)Bischöfen, erreicht werden können. Ihre Hoffnung auf Reformen haben große Teile der organisierten Laien in den vergangenen fünf Jahren auf den Synodalen Weg gesetzt, der im System bischöflicher und priesterlicher Macht verbleibend (neue) Formen der Mitwirkung von Lai:innen entwirft und Impulse zu einer größeren Wertschätzung vielfältiger Lebensstile und Identitäten aufgenommen hat.

Konservative Kritiker wollen demgegenüber an der bisherigen Macht und Deutungshoheit von Kurie, Bischöfen und Priestern und einer restriktiven Auslegung der katholischen Glaubenslehre und Moral festhalten. Eine dritte Gruppe, die sich nach eigener Auffassung keine Illusionen über das Reformpotenzial der römisch-katholischen Kirche macht, hält es mit dem emeritierten Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke, demzufolge man die „versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen“ müsse, „dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt“. Dieser Ansatz führt in die Opposition zur römischen Kirche, zum Abschied aus ihren Strukturen oder in die innere Emigration.

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“

Die Kirchenmitgliedschaft schrumpft. Es gibt zunehmend „weiße Flecken“ auf der Landkarte, Orte ohne regelmäßigen Service durch die großen Kirchen. Um junge Erwachsene an die Kirche zu binden, müssen sich die Kirchen wirklich etwas einfallen lassen. In den Kirchgemeinden muss sich eine „Willkommenskultur“ entwickeln, die neben den traditionellen Milieus auch die Vielfalt der Bevölkerung in Deutschland antizipiert. Es gibt viel zu tun und die Arbeiter:innen im Weinberg des HERRn werden immer weniger.

Aber: Noch immer engagieren sich viele Tausende Menschen in ihren Kirchen für andere. In ihren Ehrenämtern erleben sie die sinnstiftende Qualität kirchlicher Gemeinschaft. Von 700.000 Ehrenamtlichen allein in den evangelischen Kirchen spricht Detlef Pollack. Wie wir hier in der Eule im „EHRENSACHE“-Podcast zeigen, zieht sich dieses Engagement durch alle kirchlichen Handlungsfelder hindurch: Von der Kinder- und Jugendarbeit sowie Kirchenmusik angefangen über die Kirchenleitung in Synoden und Seelsorge in Gefängnissen, Krankenhäusern und Pflegeheimen bis hin zur Geflüchteten-Hilfe und Seenotrettung. Überall in unserem Land agieren Menschen guten Willens aus ihrem Glauben heraus.

Ohne dieses Engagement wäre unser Land noch viel kälter, abweisender und trauriger als es sich jetzt schon häufig genug darstellt. Eine Beobachtung, die ich als Hörer des „EHRENSACHE“-Podcasts und als Besucher des Kirchentages in Nürnberg gemacht habe: Es ist keineswegs zufällig, dass sich diese Menschen ausgerechnet in der Kirche engagieren. Die meinen das ernst! Umso kleiner die Kirche wird desto größer wird innerhalb der Gruppe der hochengagierten Ehrenamtlichen (und auch der Hauptamtlichen) der Anteil derjenigen, die man in den vergangenen Jahrzehnten gerne recht oberflächlich als „fromm“ bezeichnet hat. Dass sich die Milieus weiter verengen, aus denen die Kirchen ihren Nachwuchs für das Priester- und Pfarramt generiert, wird durchaus auch skeptisch gesehen. Werden bald nur noch Evangelikale, Post-Evangelikale und ein paar wenige dezidiert linke, politisch engagierte Menschen in den Kirchen wirken?

Lebendig und kräftig und schärfer

Eines ist sicher: Die Kirchenmitgliedschaft und die Struktur ihrer Mitarbeiter:innenschaft ist im Wandel. So besonders uns die Situation in Deutschland erscheint, manchmal hilft auch ein Blick auf andere Länder und Regionen: Der weltweite Vormarsch charismatisch-evangelikaler Kirchenunternehmen scheint an den Landesgrenzen weitgehend zum Erliegen zu kommen. Hinzu kommen mindestens Hunderte von Ex-Evangelikalen, die für sich und ihre Familien eine andere kirchliche Heimat suchen, als sie in ihren Herkunftskirchen gelebt wurde. In den USA sind erstmals mehr jüngere Männer als jüngere Frauen in den Kirchen engagiert. Im Vergleich zu anderen post-sozialistischen Ländern ist die Kirchenmitgliedschaft im Osten Deutschlands zwar nominell geringer, aber deutlich weniger identitär und rechtsradikal geprägt. Immer mehr religions- und kulturverbindende Ehen und Familien werden gestiftet und verändern das interreligiöse Zusammenleben. Es ist viel im Fluss.

Nicht zuletzt könnte den verzagten Christ:innen und Kirchen zu denken geben, dass gerade die aktivistische Avantgarde unserer Tage von „Fridays for Future“ bis zur „Letzten Generation“ nicht nur persönlich häufig aus christlichen Elternhäusern herkommt, sondern bewusst und forciert den Schulterschluss mit der Institution Kirche sucht. Weil die Kirchen in diesem Land doch noch viel mitzusprechen haben, aber auch, weil sie dem transformierenden Potential des Glaubens viel zutrauen. Meinem Eindruck nach jedenfalls mehr, als ich es gelegentlich bei Kirchenfunktionär:innen erlebe.

Kleiner und frommer zu werden, bedeutet nicht automatisch, dass die Kirchen „versekten“ oder in der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit versinken. Die Konzentration auf das den Kirchen Wesentliche, den Glauben, muss nicht Abwendung von der Welt oder Flucht aus der Verantwortung für die Gesellschaft bedeuten. Angefragt sind vor allem die traditionellen kirchenamtlichen Strukturen, in denen die Weltverantwortung in den vergangenen sechzig Jahren Ausdruck finden wollte. Eine Kirche, die lebendig und kräftig und schärfer glaubt, wird sich von Schreib- und Konferenztischen wegbewegen müssen.


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