Was wir von Norbert Lüdecke lernen können

Norbert Lüdeckes neues Buch „Die Täuschung“ wird vielen Katholiken nicht gefallen. Doch können wir hier lernen, wie „die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen“ gebracht werden können.

Norbert Lüdecke, Professor für Kirchenrecht an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn, nimmt den Erfahrungsgegenstand seines Faches ernst, stellt ihn aber gleichzeitig in Frage. Das kanonische Recht regelt die Beziehungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Lüdecke versteht es – wie auch die Leitungsorgane dieser Kirche – als zwingendes Recht, vergleichbar dem öffentlichen Recht des Staates.

Das dispositive, also von den Beteiligten gestaltbare Recht (vergleichbar dem Privatrecht) spielt eine völlig untergeordnete Rolle. Die römisch-katholische Kirche versteht sich als „Societas hierarchica“: Alle im Codex Juris Canonici versammelten Rechtsnormen werden von ihrer monokratischen Spitze – dem Papst – in Kraft gesetzt und gegebenenfalls geändert. Der Gestaltungsspielraum der Bischöfe ist sehr bescheiden, der rechtlich gesicherte Einfluss der Laien gleich Null.

Von diesen Gegebenheiten ausgehend setzt sich Lüdecke kritisch mit den Reformbemühungen innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland auseinander, wie sie sich aktuell am Synodalen Weg beobachten lassen. In vier Hauptkapiteln untersucht er die Gründung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (1952), die Würzburger Synode (1972-1975), den Gesprächsprozess der deutschen Bischöfe (2011-2015) und den Synodalen Weg (seit 2020). Er macht ein gemeinsames Muster an diesen Versuchen aus, die Laien an der kirchlichen Willensbildung zu beteiligen.

Wiederkehrende Muster des „Dialogs“

Auslöser sind (1) stets kritische Situationen: Die Gründung der Bundesrepublik ohne katholische Partei; die „Pillenenzyklika“; das Öffentlich-Werden verbreiteten sexuellen und disziplinarischen Missbrauchs von Kindern (auch) unter Beteiligung von Klerikern; der anschwellende Vertrauensverlust unter den Gläubigen angesichts der Bemühungen der deutschen Bischöfe, den Aufklärungsprozess des Missbrauchs unter seiner Kontrolle zu halten.

Die Initiativen gehen (2) von den Bischöfen aus und sind von dem „Bemühen um eine Domestizierung des Laienengagements“ getragen, um den Protest der Gläubigen im Rahmen der kirchlichen Ordnung zu halten.

Durch eine „Kombination aus demonstrativer Gesprächsbereitschaft und mobilisierender Gemeinschaftsrhetorik, die zwar nie etwas mit Gleichberechtigung zu tun hatte, aber doch vielfach so verstanden wurde“, werden (3) bei reformorientierten Katholiken Erwartungen geweckt oder verstärkt, die sie zu williger Mitwirkung bei den oft als „Dialog“ bezeichneten Gesprächsprozessen veranlassen.

Wenn diese Gespräche (4) nicht ohnehin im Sande verliefen („Schön, darüber gesprochen zu haben“), sondern zu auch von einer Mehrheit der Bischöfe mit getragenen Reformpostulaten führten, so insbesondere auf der Würzburger Synode, wurden diese von Rom abgelehnt oder unbeantwortet zu den Akten gelegt. Das führte bei vielen Gläubigen zu erneuter, wenn nicht tieferer Enttäuschung.

Enttäuschung der Gläubigen unausweichlich

Für Lüdeckes kanonistische Sicht ist diese Enttäuschung zwangsläufig, die Vergeblichkeit des Bemühens offenkundig. Er kritisiert deshalb die Bischöfe, weil „das rechtlich komplett unverbindliche Verfahren“ des synodalen Wegs an der „Kirchenkindschaft“ (S. 194), der völligen Unterordnung der Laien unter den Klerus nichts ändere; vor allem aber das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, weil es sich als „Agenten der Hierarchie“ (S. 210) missbrauchen lasse, anstatt die (fehlenden) Rechte der Laien deutlich zu artikulieren.

Lüdeckes Buch wird vielen der Angesprochenen nicht gefallen, zumal der flüssig geschriebene Text sich gerne ironischer oder säkularer Formulierungen bedient, um kirchliche Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Seine Schlussfolgerungen laufen vordergründig auf die Alternative hinaus: Entweder sich den gegebenen kirchlichen Verhältnissen fügen und bleiben, oder sie verlassen.

Ich lese aber eine andere implizite Botschaft: Wenn ihr eine für unsere Zeit glaubwürdige Kirche wollt, müsst ihr dickere Bretter bohren, als sich den Forderungen anzuschließen, die die gängige Theologie zu bieten hat. Zwar nicht ausdrücklich, aber der Sache nach stellt Lüdecke die „ständehierarchische communio hierarchica“ in Frage. Historisch betrachtet ist die Struktur der römisch-katholischen Kirche nicht von biblischem Geist, sondern vom vorchristlichen römischen Rechtsdenken und Hierarchieverständnis geprägt.

Kirche auf dem Niveau des frühneuzeitlichen Fürstenstaates

Sieht man die Entwicklung aus der Perspektive des frühen Christentums, so lag Rom eher an der westlichen Peripherie. Die Hauptzentren waren in Jerusalem und Antiochien. Vor allem dachten und schrieben die frühen Christen nicht etwa in lateinisch, sondern in der Koine, der allgemein verbreiteten griechischen Sprache. Zudem fanden alle reichsweiten Konzilien des ersten Jahrtausends im Einflussbereich der in Byzanz residierenden Kaiser des Ostreichs und der heutigen orthodoxen Kirche statt.

Dem Bischof von Rom wurde unter den Patriarchatssitzen zwar besondere Achtung erwiesen, weil die Gräber der „Apostelfürsten“ Petrus und Paulus dort lokalisiert wurden. Doch von einem anerkannten Primat Roms konnte im ersten Jahrtausend nicht die Rede sein. Erst nach der schismatischen Trennung von griechischer und lateinischer Kirche (1054) und beginnend mit dem Investiturstreit (1075-1122) strebte der Bischof von Rom eine von Gott herstammende Oberherrschaft über die Welt an.

Geistliche und weltliche Herrschaftsformen entwickelten sich in Konkurrenz, jedoch beide unter dem Einfluss des wieder endeckten Römischen Rechts. Die Herrschaftsform der katholischen Kirche blieb allerdings auf dem Niveau des frühneuzeitlichen Fürstenstaates stehen und verabsolutierte sich nach dem Verlust ihrer weltlichen Machtressourcen als geistliche Herrschaft des Papstes über seine Gläubigen – verbrämt mit dem selbst behaupteten Anspruch auf Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit.

Die Verhältnisse zum Tanzen zwingen

Die katholische Kirche hat in ihrer Lehre stets auf der Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft bestanden, und demzufolge beispielsweise die Darwinsche Entwicklungslehre nicht verdammt, obwohl sie der biblischen Schöpfungsgeschichte widerspricht. In jüngster Zeit mehren sich historische Studien, die den ideologischen Überbau römischer Herrschaft in der Kirche aufdecken, wie z.B. „Das päpstliche Lehramt auf dem Prüfstand der Geschichte“ von Matthias Daufratshofer.

Norbert Lüdecke macht sich das berühmte Dictum von Karl Marx zu eigen: „Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“ Dies scheint ihm mit seinem Buch auf treffliche Weise zu gelingen – man wird sehen, wer tanzt.


Lesen Sie auch das aktuelle Eule-Interview mit Norbert Lüdecke „Gerontokraten mit Deutungsmonopol“ sowie aus dem Jahr 2020 „Auch die Gläubigen können sich ihre Kirche ohne Papst nicht vorstellen“, zum schwierigen Verhältnis der katholischen Laien zu ihrer Kirche Thomas Wystrachs Analyse „Beziehungsstatus: Es ist kompliziert“ und zum katholischen Synodalitäts-Verständnis Benedikt Heiders „Das Stille-Post-Spiel guter Katholik:innen“.


Die Täuschung
Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?
Norbert Lüdecke
wbg Theiss
20 € (Taschenbuch)
zur Verlagswebsite