„Protestantischer Korridor“ statt „Stein der Weisen“

Die EKD-Synode sucht nach Sprach- und Handlungsfähigkeit und streitet über die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch. Dabei wird deutlich, dass die Evangelischen um Einigkeit ringen müssen.

Seit Sonntag berät die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Ulm über Gegenwarts- und Zukunftsfragen. Dabei fassen die Teilnehmer:innen aus Synode und den Leitungen der zwanzig evangelischen Landeskirchen einige heiße Eisen an: In der Evangelischen Kirche wird derzeit über eine Reformulierung der Haltung zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs diskutiert, die eskalierende Migrationsdebatte war ebenso Thema wie der Antisemitismus in der Gesellschaft.

In den Fokus ihres Ratsberichts am Sonntagmittag stellte Kurschus die großen politischen Probleme, die Deutschland derzeit bewegen. Dabei beharrte sie nicht nur auf der bisherigen Linie der EKD in Sachen Migration, sondern forderte offensiv ein, dass Christ:innen in Sachen Flucht- und Migration die Kompetenz nicht abgesprochen werden soll. „Ich lasse mir die Barmherzigkeit nicht ausreden“, erklärte Kurschus, und dass die Christ:innen in den Kirchgemeinden nicht als „Idealisten“ verspottet werden sollen. Die vielen Engagierten in der Flüchtlingshilfe seien vielmehr Expert:innen und die eigentlichen „Realisten“.

An den Problemen bei der Aufnahme von Geflüchteten redete Kurschus gleichwohl nicht vorbei, forderte aber tatsächliche Lösungen von der Politik ein: „Wir werden niemals mitmachen, wo aus Angst vor weiteren Wahlerfolgen der AfD Scheinlösungen vorgetragen werden, die nichts austragen. Grenzkontrollen, Abschiebungen im großen Stil und ein paar Piesackereien, die Flüchtlingen das Leben schwerer machen sollen, lösen nichts, sie lösen lediglich noch mehr Ressentiments aus.“ Die sonst klare politische Stellungnahmen vermeidende Kurschus wurde insbesondere im ersten Teil ihres mündlichen Ratsberichts (hier online) ungewöhnlich deutlich, ihre Kritik zielte dabei nicht allein auf die AfD, sondern auf den verschärfenden Ton in der politischen Debatte, der auch von Vertreter:innen anderer Parteien, insbesondere von CDU und FDP, vorgetragen wird.

Sprachfähig werden: Streit über § 218

Zu Beginn ihrer Rede berichtete Kurschus von ihrem Auftritt auf der Solidaritäts-Demo mit Israel nach dem 7. Oktober. Dort habe Rabbiner Yitshak Ehrenberg sie nachhaltig beeindruckt: „Als er auf die Bühne tritt, wird es still auf dem Platz. Und die Stille redet. Sie redet stumm und eindringlich. Sie redet laut und kräftig. Sie redet, wie nur Stille zu reden vermag.“ Dieses Erlebnis korrespondiert mit dem Thema, das sich die Synodalen als Schwerpunkt für ihre Tagung in diesem Jahr gewählt haben: Die Sprach- und Handlungsfähigkeit im Glauben.

Gleich am Sonntagnachmittag wird diese auf eine harte Probe gestellt, als sich der Rat der EKD vor der Synode für seine Stellungnahme gegenüber einer Kommission der Bundesregierung rechtfertigen muss, die neue Wege jenseits des Strafrechts für die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs sucht (s. Themenschwerpunkt in der Eule). Kritiker der Stellungnahme, u.a. das Ratsmitglied Thomas Rachel (CDU, MdB) und württembergische Synodale, brachten gleich zu Beginn ihre Kritik vor: Die Stellungnahme käme einem Abschied vom Lebensschutz und vom „ökumenischen Konsens“ mit der katholischen Kirche gleich. So hatte es in den letzten Tagen vor allem der württembergische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl anhaltend in den Medien vorgetragen (zur Diskussion mehr hier).

Erst im weiteren Verlauf der Debatte meldeten sich dann auch Teilnehmer:innen zu Wort, die für die Stellungnahme des Rates auch Lob übrig hatten. Die Antworten des Rates auf die zahlreichen Nachfragen fielen dann ebenso wortreich aus. Die stellvertretende Ratsvorsitzende, Bischöfin Kirsten Fehrs (Hamburg), verteidigte die Stellungnahme, die ja nur die Beantwortung einer spezifischen Frage der Regierungskommission versucht habe, nicht eine Klärung aller möglichen ethischen und theologischen Anschlussfragen. Gleichwohl stellt sich die Frage, wie die EKD bei der mündlichen Anhörung vor der Regierungskommission den nun offenbar gewordenen Dissens in eben jenen Fragen diskursiv vertreten wird.

Einig, das hat die Debatte gezeigt, sind sich die Evangelischen nicht. Auch wenn es Wege gibt, die Diskussionen in eine gute Richtung zu führen: Das „Verbindende“ solle doch nicht ganz in den Hintergrund treten, zum Beispiel die neue Betonung der gesellschaftlichen Verantwortung. Die Menschen würden ihre Kirche viel zu häufig als Instanz wahrnehmen, die sagt, ob etwas „Recht oder Unrecht“ sei, erklärte der sächsische Landesbischof Tobias Bilz, der als Mitglied im Rat der EKD die Stellungnahme mitgetragen hat und sie weiter verteidigt. Es ginge vielmehr darum, sich „mitverantwortlich zu zeigen“. Ein Ausweg aus der konfrontativen Gegenüberstellung zwischen dem Recht des ungeborenen Lebens und der Selbstbestimmung der Schwangeren sei es, sich selbst und auch die Kirche als „dritten Punkt in einem Dreieck“ mit einzuzeichen.

Bilz regte außerdem an, gründlich darüber nachzudenken, dass der Zeitpunkt der Beendigung einer Schwangerschaft „de facto einen Unterschied macht“. Die EKD-Stellungnahme hatte – gleichwohl in sehr viel technischerer Sprache als Bilz – unterschiedliche Schwangerschaftsphasen voneinander unterschieden. Bilz gestand gegenüber der Synode aber auch den „Fehler“ ein, die Bedeutung der EKD-Stellungnahme für die öffentliche Debatte unterschätzt zu haben. Man habe sich von Petra Bahr, Regionalbischöfin in Hannover und Mitglied im Deutschen Ethikrat, und Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie in München, beraten lassen und dann im Rat das Gefühl gehabt, der Text wäre gut gelungen.

Kirsten Fehrs schließlich drehte die Debatte – wie auch Niklas Schleicher in der vergangenen Woche hier in der Eule – vom Kopf auf die Füße, und nahm die Verteidiger des Status quo in die Pflicht, Vorschläge für eine Verbesserung der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch zu unterbreiten. Durch ein Festhalten an der bisherigen Regelung werde keine Hilfe für Betroffene und auch keine Senkung der Zahl der Abtreibungen bewirkt.

„Protestantischer Korridor“ statt „Stein der Weisen“

Am Montag tagten die Synodalen am Vormittag zunächst konfessionell differenziert. Die Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) beschloss ihre Sitzung als Teil der verbundenen Tagung am Mittag: Das neue digitale Gottesdienstbuch, so fordern es die Synodalen, solle für Studierende und Vikar:innen auch nach 2024 kostenlos nutzbar bleiben. Ein eigener neuer Ausschuss will sich mit der „lutherischen Identität“ und der Frage befassen, wie sie stärker im Leben der Kirche zu verankern sei. Für entsprechende Projekte, die allerdings erst der Fantasie der Lutherischen entspringen müssen, stehen bis zu 100.000 Euro zur Verfügung.

Bei der Versammlung der Union evangelischer Kirchen (UEK) hörten die Teilnehmer:innen u.a. auf einen Vortrag von Rita Famos, der Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Sie empfahl ihren deutschen Geschwistern „protestantische Korridore“, innerhalb derer verschiedene Positionen zu theologischen und ethischen Fragen legitimer Weise eingenommen werden dürften. Gleichwohl, so der Hinweis aus der Teilnehmer:innenschaft, hätten auch Korridore ja Wände. Dem Wortsinne nach handelt es sich bei einem Korridor auch um einen „schmalen Streifen Land, der durch das Hoheitsgebiet eines fremden Staates führt und die Verbindung zu einer Exklave oder zum Meer herstellt“. Ein schmaler Grat durch fremde oder gar feindliche Umwelt?

Am Sonntag hatte die EKD-Ratsvorsitzende ihre Sorgen über den wachsenden Judenhass in der Gesellschaft geschildert. Sie warnte ausdrücklich auch vor antimuslimischem Rassismus, der sich als Israelfreundschaft tarne. Der Antisemitismus sei für die Kirche Anlass zur Selbstreflexion: Der europäische Antisemitismus habe christliche Wurzeln, mit denen man sich intensiv befassen müsse. In diesem Kontext kündigte Kurschus einen neuen Stil in der Kommunikation der EKD an, der gleichwohl über die Befassung mit dem Antisemitismus hinausreichen soll: „Was wir sagen und wie wir es sagen, das sollte möglichst wenig institutionell daherkommen. Pausbäckige Verlautbarungen und kluge Richtigkeiten führen uns nicht weiter. Konkret gesagt: Es reicht nicht, von der Solidarität mit jüdischen Menschen zu reden, sondern wir müssen hingehen, miteinander sprechen, die Sorgen teilen.“

Kurschus erklärte, man habe eben nicht den „Stein der Weisen“ gefunden und wolle diesen Eindruck auch gar nicht vermitteln. Ihre schweizerische Kollegin Rita Famos erklärte am Montag die „Diskursivität“ gar zum Beitrag der Kirchen zur „europäischen Gesellschaft“. Eine Gesellschaft, die immer nach der nächsten klaren Positionierung und Polarsierung giere, brauche die protestantische „Disputationskompetenz“.


Die Eule auf der EKD-Synode 2023

Eule-Redakteur Philipp Greifenstein wird wieder von der EKD-Synode berichten. In diesem Jahr wird es allerdings keinen Live-Blog geben. Nach 5 Tagungen der Synode, die Philipp live ge- und verbloggt hat, pausieren wir diesmal dieses Format. Von der Tagung der EKD-Synode wird Philipp in mehreren Beiträgen im Magazin berichten. Kurze Schnipsel gibt es von ihm auch bei Bluesky und Mastodon zu lesen. Wir freuen uns auf Eure / Ihre Hinweise, Wünsche und Rückmeldungen zur Berichterstattung aus Ulm, gerne auch als Kommentar im Magazin oder als E-Mail an redaktion@eulemagazin.de.

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