Missbrauch evangelisch: Eine neue Position finden
Auf dem 39. Deutschen Evangelischen Kirchentag erhielt das Themenfeld sexualisierte Gewalt und Missbrauch in der Kirche erstmals einen angemessenen Platz im Programm. Wird der Kirchentag doch noch zum Vorbild?
Unter den rund 1.500 Veranstaltungen des Kirchentages 2025 in Hannover stechen die Podien, Ausstellungen und Workshops, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Missbrauchskrise der Kirche, sexualisierter Gewalt und spiritueller Macht befassen, besonders heraus: In der Kirchentags-App sind sie mit besonderen Hinweisen für die Teilnehmer:innen versehen, zu Beginn werden Sicherheitshinweise und Gesprächsangebote erläutert – und tatsächlich, dort wo es um den „Missbrauch evangelisch“ geht, legt sich eine spürbare Ernsthaftigkeit über den sonst so ausgelassen-fröhlichen Kirchentag.
Insgesamt 18 Veranstaltungen befassten sich in Hannover im engeren Sinne mit der Missbrauchskrise – so viele wie nie. Darunter zwei Ausstellungen, eine Filmvorführung von „Die Kinder aus Korntal“ mit anschließendem Gespräch, kleinere und größere Podien sowie eine Reihe von Workshops. Einige der Veranstaltungen wurden in einer eigenen Podienreihe „Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt“ gut auffindbar im Programm gebündelt. So viele (gleichzeitig), dass es erstmals unmöglich war, alle Angebote wahrzunehmen. Ein gutes Zeichen!
Ein Gottesdienst zum Glauben nach Gewalterfahrungen am Freitagvormittag fragte: „Gott wo bist Du?“ Gestaltet wurde er vom sächsischen Landesbischof und stellvertretendem EKD-Ratsvorsitzenden Tobias Bilz und der Theologin und Aktivistin Sarah Vecera, die auch dem Präsidium des Kirchentages angehört. Quantitativ und qualitativ hob sich der 39. Deutsche Evangelische Kirchentag (DEKT) damit deutlich positiv vom Kirchentag 2023 in Nürnberg und auch vom Katholikentag im vergangenen Jahr in Erfurt ab. Für diesen Artikel habe ich drei Podien vor Ort beobachtet und mit Teilnehmer:innen und Gestaltenden von weiteren der Programminhalte gesprochen.
Wo stehst Du?
Das Hauptpodium „Sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch“ fand im Unterschied zum Kirchentag in Nürnberg bereits am Samstagvormittag und mitten in der belebten Messe statt. Diesmal wurde also nicht in direkter Umgebung der Diskussion mit lauter Musik „abgehockert“. In Halle 4 hatte zuvor Margot Käßmann vor vollgepacktem Haus ihre Bibelarbeit gehalten. Zahlreiche Kirchentagsbesucher:innen blieben für die Podiumsdiskussion sogar auf ihren Plätzen.
Insgesamt verfolgten ca. 1500 Personen die Diskussion auf der Bühne, auf der Katharina von Kellenbach (hier in der Eule), Marlene Kowalski von der Diakonie Deutschland, Friederike Lorenz-Sinai vom „ForuM“-Forschungsverbund (hier in der Eule), die Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche der Pfalz und Sprecherin der kirchlichen Beauftragten im Beteiligungsforum in der EKD (BeFo), Dorothee Wüst, und Detlev Zander, einer der Sprecher:innen der Betroffenen im BeFo, Platz nahmen. Moderiert wurde die Runde wegen einer kurzfristigen Absage nicht von Christiane Florin (DLF), sondern von Raoul Löbbert von der ZEIT, die offizieller Medienpartner des DEKT ist. Zu Beginn führte Präsidiumsmitglied Sarah Vecera in Thema und Veranstaltungssetting ein.
Sich selbst als eine Institution wahrzunehmen, die Schuld zu tragen hat, fällt der Kirche besonders schwer, erklärte Friederike Lorenz-Sinai gleich zu Beginn der Runde auf Basis der Ergebnisse der „ForuM“-Studie (s. hier in der Eule). Ursächlich hierfür sei auch das evangelische „Selbstbild als fortschrittliche Kirche“. Ein Befund, der nicht nur für die verfasste Kirche, sondern auch für die Kirchentagsbewegung gilt. Im weiteren Verlauf der Diskussion spielten die Befunde der „ForuM“-Studie allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Sie drehte sich zunächst um die Frage, warum die Evangelische Kirche so lange Zeit gebraucht habe, um nach dem Beginn der Missbrauchskrise der Kirchen in Deutschland 2010 ins Handeln zu kommen, und dann um die theologische Debatte darum, welche Rolle die Rechtfertigungslehre spielt.
Für eine Trennung der Debatte über notwendige Schritte in den Institutionen und derjenigen über theologische Folgen sprach sich Detlev Zander aus, der sich im BeFo mit konkreten Verbesserungen für Betroffene befasst. Auch der pfälzischen Kirchenpräsidentin Wüst war die Ungeduld bei der Rückschau auf 15 Jahre Missbrauchskrise deutlich anzumerken. Der Frage des Moderators, ob es nicht mehr Empörung gerade von jungen Menschen für einen „Bewusstseinswandel“ brauche, entgegnete Marlene Kowalski, die die „Fachstelle Aktiv gegen sexualisierte Gewalt“ der Diakonie Deutschland leitet, für einen „Kulturwandel“ brauche es vor allem „Veränderungen in den Strukturen“.
Kowalski, Wüst und Zander arbeiten schließlich „in den Niederungen der Ebene“ an genau diesen in BeFo, Kirche und Diakonie. Auf dem Hauptpodium gelang es allerdings nicht, die in den vergangenen Jahren und Monaten bereits erreichten Fortschritte verständlich und transparent darzustellen. Zuweilen entstand der Eindruck, evangelische Kirchen und Diakonie stünden noch ganz am Anfang, z.B. bei den Anerkennungsleistungen, die aber – sicher in defizitären Verfahren – seit einem Jahrzehnt durchaus geleistet werden. Andererseits wurden auch in dieser Diskussionsrunde, wie bei so vielen „Missbrauch evangelisch“-Debatten, Vollzugsmeldungen der Kirche nicht hinterfragt. So sind zum Beispiel keineswegs alle Unabhängigen regionalen Aufarbeitungskommissionen (URAKs) eingerichtet und arbeitsfähig (wir berichteten).
Gegen Ende der Podiumsrunde fiel es abermals der „ForuM“-Forscherin Lorenz-Sinai zu, den Narrativ der langsam, aber stetig lernenden Strukturen kritisch zu hinterfragen. Die „ForuM“-Studie habe gerade bei der Untersuchung von Missbrauchsfällen neueren Datums gezeigt, dass „auch eine noch so gute Qualifizierung und Professionalisierung [von Personal und Abläufen] nicht schützt, wenn man sexualisierte Gewalt bei sich vor Ort nicht für möglich hält“. Auch würden Betroffene bis heute in Aufarbeitungsprozessen „beschädigt“. Die „ForuM“-Studie hat außerdem gezeigt, dass Betroffene und ihre Verbündeten aus Gemeinden und kirchlichen Strukturen ausgegrenzt werden.

„Vertuschung beenden“-Podcast auf der Podcastbühne des Kirchentages in Halle 6, v.l.n.r.: Jakob Feisthauer, Martin Wazlawik, Katharina Kracht (Foto: Philipp Greifenstein)
Kritiker:innen kommen zu Wort
Während auf dem Hauptpodium diejenigen debattierten, die in Kirche, Diakonie und Theologie mit der Missbrauchskrise befasst und gegenüber ihrem Kirchentagspublikum mit deutlich mehr Institutionenwissen ausgestattet sind, stellte sich auf der neuen Podcastbühne des Kirchentages zwei Messehallen weiter Martin Wazlawik, einer der Leiter des „ForuM“-Forschungsverbunds, den Fragen von Jakob Feisthauer und Katharina Kracht von der Betroffeneninitiative „Vertuschung beenden“.
Kracht hatte selbst als von sexualisierter Gewalt betroffene Co-Forscherin an der „ForuM“-Studie mitgewirkt und war 2020/2021 Mitglied des zwischenzeitlich eingerichteten Betroffenenbeirates der EKD (wir berichteten). Feisthauer engagiert sich vor allem im Bereich der Landeskirche Hannovers für Betroffenenanliegen und tritt immer wieder als scharfer Kritiker der Aufarbeitung in Kirche und Diakonie hervor.
Ihr Gespräch, das im „Vertuschung beenden“-Podcast nachgehört werden kann, drehte sich vor allem um die Organisation der Arbeit an der „ForuM“-Studie, insbesondere noch einmal um die Frage, wie das Zahlenwerk der Teilstudie E zu verstehen ist und welche Personal- bzw. Disziplinarakten Grundlage der Studie sind (s. „Magie der Zahlen“ von Januar 2024 in der Eule). „Die Zahlenerhebung ist für Betroffene wichtig, denn hinter jeder Zahl steht ein Mensch“, begründete Katharina Kracht das bleibende Interesse an der ordentlichen Dokumentation von Missbrauchsfällen, die in den evangelischen Kirchen und der Diakonie bis heute nicht realisiert sei. Jakob Feisthauer erklärte, dass nur ein Bruchteil der Betroffenen aus seinem Tatkontext Eingang in die „ForuM“-Studie gefunden haben.
Vor ca. 150 Besucher:innen erläuterte Wazlawik erneut die Vorgehensweise der Forscher:innen, ließ aber so manche Kritik der Betroffenen auch ins Leere laufen. Die „ForuM“-Studie, erklärte er, habe ihren Auftrag erfüllt. Sie ist aber, so wurde deutlich, als wissenschafliche Untersuchung nur ein Puzzlestück in den Aufarbeitungsbemühungen von Kirche und Diakonie. Dass die evangelischen Landeskirchen und Landesverbände der Diakonie sich bis heute nicht auf eine einheitliche Systematik und Dokumentation von Missbrauchsfällen geeinigt haben, bleibt als Problem bestehen, ist aber nicht den Forscher:innen anzulasten. Eine Untersuchung aller Personalakten einer großen Landeskirche, als „Stichprobe“, bleibt ein Desiderat der Forschung.
Zum Ende des Gesprächs hin ging es dann beim „Vertuschung beenden“-Live-Podcast auch um qualitative Spezifika des „Missbrauch evangelisch“ (ab 48:00 Min). Verantwortungsdiffusion, defizitäre Konfliktkultur und die typisch evangelische Machtausübung wurden von Wazlawick dargestellt. Sich selbst „als bessere Kirche“ wahrzunehmen, führe zu einer „Selbstimmunisierung“. Evangelische Christ:innen müssten lernen, die Gleichzeitigkeit der Realität von sexualisierter Gewalt und der positiven Seiten von Kirche auszuhalten.
Dass auf der Podcastbühne des Kirchentages auch Kritiker:innen der Aufarbeitungsbemühungen in Kirche und Diakonie zu Wort kamen, kann man getrost als Fortschritt gegenüber vergangenen Kirchentagen und anderen kirchlichen Begegnungsformaten verstehen. „Was ist bei Betroffenen angekommen?“, wollten Feisthauer und Kracht – fast anderthalb Jahre nach Erscheinen der „ForuM“-Studie – wissen. Nach den beiden Kirchentagspodien wird man sagen müssen: Bei weitem noch nicht genug. Doch stellt sich auch die Frage, ob man sich mit Gesprächsrunden allein dem voraussetzungsreichen und komplexen Thema überhaupt nähern kann.
Auf weiteren Podien wurde über „Narzissmus in der Kirche“ und die „Schattenseiten von Charisma, Macht und Autorität“, „Schuld und Vergebung im Angesicht sexualisierter Gewalt“ (s. Bericht von Kathrin Jütte in den zeitzeichen) sowie den „Gewaltraum Kirche“ nachgedacht. Was im Programm des Kirchentages hingegen fehlte, war eine Einführungs-, vielleicht ja sogar eine Vortragsveranstaltung, die Besucher:innen über die Ergebnisse der „ForuM“-Studie und/oder den aktuellen Stand der Aufarbeitungsprojekte in Kirche und Diakonie informiert. Auch der neue, teure Kirchentagsstand der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der zahlreiche Einrichtungen bündelte und mit einem eigenen dreitägigen Vortragsprogramm aufwartete, blieb hierbei deutlich hinter den Möglichkeiten zurück.

Podium zum Buch „Pädophilie im Fokus“ mit, v.l.n.r.: Kerstin Söderblom, Harald Schroeter-Wittke (beide DEKT-Präsidium), Natascha Gillenberg, Rainer Kluck (Foto: Philipp Greifenstein)
„Man hätte es wissen müssen“
Wohl kaum eine andere evangelische Institution verkörpert den Anspruch, als Kirche „Zeitansagen“ zu machen, sich in Politik und Gesellschaft zu engagieren, so sehr wie der Kirchentag. Dabei sind unterschiedliche Rollenerwartungen im Spiel: Der Kirchentag ist Lai:innenbewegung evangelischer Christ:innen und Organisatorin eines Großevents zugleich. Der DEKT legt großen Wert darauf, kirchenunabhängig zu agieren, ist aber zugleich personell und organisatorisch auf vielfältige Weise mit den evangelischen Kirchen und weiteren Organisationen verbunden, bis hin zur universitären Theologie.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, geht es bei der Anfang des Jahres vorgelegten „Kirchentagsstudie“ „Pädophilie im Fokus“ von Uwe Kaminsky um weit mehr als die Frage, wie der Kirchentag mit den drei in der historischen Untersuchung im Zentrum stehenden Akteur:innen der Homosexuellen- und Pädophilie-Bewegung umgegangen ist. Hartmut von Hentig, Gerold Becker und Helmut Kentler haben den Kirchentag über Jahrzehnte hinweg geprägt und als Podium für ihr Wirken gebraucht. In Abwesenheit des Autors, der sich in Usbekistan aufhält, wurde in „Pädophilie im Fokus“ bei einem kleinen Podium im Convention Center der Messe am Samstagmittag eingeführt. Die Veranstaltung fand zwar mitten in der Messe, aber durchaus gut versteckt auf dem unübersichtlichen Gelände statt, zudem gleichzeitig mit der Pressekonferenz des Kirchentages. Wie viele der Besucher:innen der Veranstaltung Kaminskys Buch zuvor wohl gelesen hatten?
Kerstin Söderblom, Hochschulpfarrerin in Mainz und Mitglied im Präsidium des DEKT, führte zu Beginn in zentrale Ergebnisse der Untersuchung ein. Es handelt sich bei ihr keineswegs um eine Missbrauchsstudie im (inzwischen) konventionellen Sinne, weshalb die Bezeichnung als „Kirchentagsstudie“ mindestens ungenau, wenn nicht irreführend ist. Richtig ist, dass die unabhängige Untersuchung vom Kirchentag in Auftrag gegeben wurde. Söderblom erklärte bündig, wie Kentler, Becker und von Hentig im Rahmen des Kirchentages wirkten, als langjährige Vortragende und im Falle von Hentig auch als prägendes Präsidiumsmitglied. Ihre wichtige Rolle in der Emanzipationsbewegung von Schwulen, für die der Kirchentag insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren eine wichtige Türöffnerfunktion in Kirche und Gesellschaft spielte, erklärte sie ebenso wie den Befund Kaminskys, dass alle drei im Rahmen von Kirchentagsveranstaltungen auf die Verbreitung ihrer pädophilen Überzeugungen verzichtet hätten.
In der (Fach-)Publizistik und den Schwulen- und Lesbensszenen waren ihr Eintreten für Pädosexualität und, im Falle Kentlers, auch das persönliche pädokriminelle Handeln, jedoch schon zu jener Zeit bekannt, als sie in Strukturen des DEKT und auf Kirchentagen wirkten. „Man hätte es wissen müssen“, stellte Kerstin Söderblom dazu fest – nicht ohne auf den damaligen Protest von Lesben gegen die Akteur:innen – auch auf Kirchentagen – hinzuweisen, der aber ungehört geblieben sei. Kaminsky beleuchtet in seinem Buch außerdem die lange Zeit ausgebliebene Distanzierung des DEKT von allen drei Akteuren, als 1999 und dann nochmals 2010 der Missbrauchskomplex Odenwaldschule und die Reformpädagogik als Ermöglichungsstruktur sexualisierter Gewalt in den Fokus rückten.
Im Anschluss an die kurze Einführung diskutierten unter Leitung der Theologin und Journalistin Natascha Gillenberg gemeinsam mit Söderblom: Harald Schroeter-Wittke, Theologieprofessor und ebenfalls Mitglied im DEKT-Präsidium, und Rainer Kluck, der stellvetretende Vorsitzende des ständigen Ausschusses Schutz und Fürsorge des DEKT. Kluck war zuvor Leiter der Stabsstelle Prävention in der Nordkirche und im vergangenen Jahr auch für die EKD-Fachstelle sexualisierte Gewalt tätig. Auf dem sehr kurzfristig organisierten Podium fehlte also eine DEKT- und kirchenunabhängige Expert:innen-Stimme.
„Der Kirchentag hatte für die drei Männer die Funktion, gut dazustehen“, erklärte Schroeter-Wittke, denn: „Wenn Du auf dem Kirchentag warst, warst Du auf der Seite der Guten.“ Der Kirchentag habe den drei Akteuren Legitimation und – so muss man es heute formulieren: institutionellen Schutz gewährt. Schroeter-Wittke, der seit 2003 dem DEKT-Präsidium angehört, bekannte beschämt, er könne sich nicht erinnern, dass die Verstrickungen des Kirchentages „bei uns Thema“ gewesen seien. Erst mit Einrichtung eines Arbeitskreises zum Thema während der Corona-Pandemie sei Bewegung in die Sache gekommen. Ursächlich dafür sei auch gewesen, dass beim Kirchentag in Folge der deutschen Wiedervereinigung und Anfang der 2000er Jahre große Personalwechsel stattgefunden hätten. Hat der Kirchentag den Zugang zur eigenen Geschichte, auch zu ihren dunklen Seiten, eingebüßt?
Kaminskys Buch verstehe sie als „Starting Point“ der kritischen Befassung mit der eigenen Geschichte, erklärte Söderblom im Verlauf des Gesprächs. Dass dieser Startschuss so spät erfolge, sei „beschämend genug“. Gerade die jüngeren Mitglieder im Präsidium des DEKT hätten jedoch erkannt, dass es sich bei der Aufarbeitung um eine Frage der Glaubwürdigkeit handele. Hierbei wird es im Besonderen auch darauf ankommen, die zahlreichen und tiefen Verbindungen des Kirchentages zur verfassten Kirche und Theologie mitzubetrachten. Eine „Kirchentagskarriere“ ist auch heute noch dem Vorankommen in der Kirche förderlich. Becker, von Hentig und Kentler waren zudem Teil eines protestantischen akademischen Milieus, das sich sowohl auf Kirchentagen als auch an Universitäten, in Akademien und Freundeskreisen konkretisierte.
Ob man für diesen „adlig-protestantischen Personenverband“, dem prägende Gestalten des Nachkriegsprotestantismus wie Richard von Weizsäcker angehören, wie Ralf Dahrendorf den Begriff der „protestantischen Mafia“ nutzt oder nicht: Nicht nur haben die persönlichen Näheverhältnisse der Akteur:innen des Kirchentages den Blick für Missbrauchsverbrechen eingetrübt, es ist aus ihnen auch ein effektiver Institutionenschutz erwachsen. Der Kirchentag als Leuchtturm evangelischen bürgerschaftlichen Engagements und als Ort zahlreicher Emanzipationsbewegungen sollte keinen Schaden nehmen.
„Flucht in die Prävention“
Die „ForuM-Studie“ hat als typisch evangelische Muster der Bearbeitung des Skandals der sexualisierten Gewalt die „Flucht in die Prävention“ und die Historisierung des Missbrauchs identifiziert. Statt Aufklärung und gründliche Aufarbeitung voranzutreiben, konzentrieren sich Kirche und Diakonie vor allem auf die Präventionsarbeit und die Verbesserung der Interventionsregularien. Auch wenn beides unbedingt weiterhin nötig ist, bleiben so die spezifisch evangelischen Ermöglichungsstrukturen weiter im Dunkeln, die doch bis heute wirken können.
Der Kirchentag hat in den vergangenen Jahren in umfassende Schutzstrukturen investiert. Das Schutz- und Fürsorgekonzept ist, gerade im Vergleich zu anderen politischen und kulturellen Großveranstaltungen, vorbildlich: Eine Veranstaltungsbegleitung durch Ansprechpersonen, die rund um die Uhr erreichbare Hotline und zahlreiche Hinweise an den Veranstaltungsorten geben davon Zeugnis. Auch auf dem Kirchentag 2025 wurden diese Angebote von Besucher:innen wahrgenommen, die bei oder nach Veranstaltungen Gesprächsbedarf hatten, auf Verdachtsmomente hinwiesen – und eigene Betroffenenheit bekundeten. Nicht zuletzt ist der DEKT aus der Vermittlung von Privatquartieren, die sich einer wirksamen Kontrolle entziehen, ausgestiegen und in den Massenquartieren wird, viel stärker als in vergangenen Jahrzehnten, auf Sicherheitsvorkehrungen geachtet.
Zugleich bleiben die Angebote ausbaufähig. Nicht immer war die Sichtbarkeit der Ansprechpersonen in den großen Veranstaltungsräumen sichergestellt und standen geeignete Räumlichkeiten für einen zügigen Rückzug aus der Menge zur Verfügung. Auch braucht es, das haben vor allem die Diskussionsrunden im Anschluss an die Podien gezeigt, während des Kirchentages ein Forum, auf dem Betroffene sexualisierter Gewalt mit ihren persönlichen Geschichten einen Platz finden.
Vor allem aber muss sich der Kirchentag – als Organisation und Bewegung – hüten, wie Kirche, Theologie und Diakonie vornehmlich die „Flucht in die Prävention“ anzutreten. Mit einer historischen Untersuchung über die Vernetzung dreier Figuren der Pädo- wie der Kirchentagsbewegung ist es sicher nicht getan. Welchen Beitrag kann der Kirchentag zu einer gründlichen Aufarbeitung in Kirche und Theologie leisten? Im besten Fall wird er mehr als ein Forum sein, auf dem in Gesprächsrunden fragmentarisch Fortschritte und Versäumnisse zur Anschauung kommen und vor allem Appelle zum Bessermachen geäußert werden.
Beim „Vertuschung beenden“-Podcast forderte Jakob Feisthauer mit Blick auf die Empfehlungen der „ForuM-Studie“ „Konsequenzen für Täter und Mitwisser“. Eine Empfehlung, die er im EKD-Maßnahmenplan, der die „ForuM“-Ergebnisse für die Weiterarbeit in Kirche und Diakonie aufbereitete, nicht wiederfindet. Damit kann, da viele Taten längst verjährt, Betroffene wie Täter verstorben sind und Unrecht ungesühnt geblieben ist, nicht allein eine strafrechtliche Verfolgung gemeint sein. Es geht um eine grundsätzliche Ächtung des Missbrauchs, die auch eine klare Benennung der Täter und ihrer Helfer inkludiert. Das ist im deutschen Protestantismus, dessen wichtigstes Schaufenster der Kirchentag ist, bisher weitgehend ausgeblieben. Kirche, Theologie und auch der Kirchentag müssen sich erst noch richtig ehrlich machen.
Über den 39. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover berichtet Eule-Redakteur Philipp Greifenstein. Alle Eule-Artikel zum Kirchentag 2025 finden Sie hier.
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