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Mit unsrer Macht ist nichts getan

Was können die Reformation und ihr Krieg uns heute noch bedeuten? Außerdem: Queere katholische Theologie und Papst Leo wird getrollt.

Liebe Eule-Leser:innen,

happy Reformationstag! Weil im Freistaat Thüringen der Reformationstag (wie es sich gehört) ein gesetzlicher Feiertag ist, kann ich heute Vormittag in die Kirche steppen, um den Vätern und Müttern der reformatorischen Bewegung und ihrer Geistesblitze zu gedenken. Und weil an diesem Reformationstag 2025 der ARD-Fernsehgottesdienst aus der Unterkirche in Bad Frankenhausen übertragen wird, hab‘ ich dazu gleich noch mehr Anlass – manche würden gar von einer Verpflichtung sprechen.

In diesem Jahr des Gedenkens an den Bauernkrieg vor 500 Jahren steht der Gottesdienst unter der Frage „Krieg und Frieden – Wie kommt das Reich Gottes?“. Die Predigt wird Friedrich Kramer halten, der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Frankenhausen ist als Erinnerungsort an das Abschlachten eines Bauernheeres – mehr zum Thema Bauernkrieg in der Eule – und als Bundeswehrstandort nur 10 Tage vor Erscheinen der neuen Friedensdenkschrift der EKD mit dem klingenden Titel „Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick“ mehr als eine Kulisse für eine Friedenspredigt. Wie Lyndal Roper im „Eule-Podcast“ zur Erinnerung an 1525 erklärt, schreibt sich Geschichte auch in die Landschaft ein.

Welche Landschaft werden wir unseren Nachkommen hinterlassen? Eine Welt voller Atomkrater, weil Despoten und jene, die ihnen mit gleicher Waffe entgegentreten wollen, das Austesten menschlicher Grenzen nicht lassen können? Einen Planeten mit unbewohnbaren Kontinenten und Ländern, auf dem eingepferchte Menschen um die letzten verbliebenen Ressourcen Krieg führen?

Klimakrise, Kriege fern und nah, die Rückkehr zum Recht des Stärkeren und der Machtaufschwung von Autokraten sind mehr als nur die Koordinaten, innerhalb derer verantwortungsvoll über Krieg und Frieden nachgedacht werden muss. Sie sind auch Quelle von Angst und Unsicherheit.

Ohnmacht und Herrschsucht

Nicht nur wegen des Reformationstages, an dem man in den lutherischen Kirchen traditionell das Lutherlied „Ein feste Burg ist unser Gott“ zu singen hat, geht mir der Vers „Mit unsrer Macht ist nichts getan“ in den vergangenen Tagen nicht aus dem Kopf. Vielleicht, weil mit dieser Zeile so viele Denkpfade dieser Wochen zugleich angetippt sind:

Die Ohnmacht, die viele Menschen angesichts der Zerstörungen in der Ukraine und im Gaza-Streifen empfinden. Auch die Abkehr von der Flut der schlechten Nachrichten und dem ewigen Shitstorm, den Donald Trump und die seinen inszenieren. Manche Verzagtheit und sogar Defätismus im Kampf gegen Rechtsradikale und ihre christlichen Parteigänger – oder ob der sozial-medialen Architektur unserer Empörungsgesellschaft.

Die Frage danach, was – gut geordnet – in der Macht des Menschen stehen sollte und was eben auch nicht. Der Predigttext für heute – das „Höre Israel“, Schema Israel – spricht ja nicht nur von der Einzigkeit G’ttes für das Volk Israel, sondern vom großen, entscheidenden Unterschied zwischen Gott und Mensch. Es geht nicht nur um die Forderung, allein G’tt zu verehren und sonst niemand mehr, sondern um die Möglichkeit, als Mensch unter Mensch einen Platz zu finden. Wenn die Herrschaft auf seiner Schulter ruht, dann soll kein Mensch über den anderen herrschen.

Eine solche Einnordung und eine recht verstandene evangelische Freiheit stehen auch heute im Widerspruch zum Machtkult von Despoten, die nach Stärke, Reichtum und Überlegenheit gieren. Im aktuellen „RE: Oktober 2025“ des „Eule-Podcast“ sprechen Michael Greder und ich über solche anderen Christentumstraditionen, die man gegen die Häresie des Christlichen Nationalismus in den USA oder Russland in Stellung bringen kann. Zum Reformationstag kommt die Evangeliumslesung nicht umsonst aus den Seligpreisungen der Bergpredigt: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich die Landschaft besitzen.“

Uffrur und Machtbewusstsein

Und die Lutherliedzeile findet einen Widerhall auch in der Debatte, die sich die Synode der EKD für ihre Tagung Anfang November in Dresden vorgenommen hat: „Kirche und Macht“. Die Macht-Debatte ist eine logische Fortsetzung der Auseinandersetzung mit dem „Missbrauch evangelisch“. Sie rührt an das Selbstverständnis einer Kirche, deren ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter:innen sich oft als ohnmächtig erleben, die aber – nicht nur gegenüber Betroffenen von sexualisierter Gewalt – als (über-)mächtige Institution auftritt und Deutungsmacht beansprucht.

Es genügt sicher nicht, Machtmissbrauch einfach als Abirrung von der eigentlich makellosen evangelischen Freiheit von sich abzukanzeln. Zur eigenen Gestaltungsmacht zu stehen, sie nicht kleinzureden und sich damit zu exkulpieren, ist ein notwendiger Anfang, wie Kristin Merle, Professorin für Praktische Theologie in Hamburg und eine der Initiator:innen des Synodenschwerpunkts, im EKD-Interview zum kirchlichen Umgang mit Macht deutlich macht. Im „Eule-Podcast“ sind die evangelische Pfarrerin und Influencerin Theresa Brückner und ich das Thema bereits vor vier Wochen angegangen. Mit unsrer Macht ist eben nicht nichts getan.

Uffrur, Aufruhr, ist also angebracht. Ruhestörung ist erste Bürger:innenpflicht. Sie ist eine Frucht der evangelischen Freiheit, erinnert die EKD-Ratsvorsitzende, Bischöfin Kirsten Fehrs: „Reformation heißt, die Dinge nicht hinzunehmen, wie sie sind.“

Das Redaktionsteam von „Denk mal nach … mit Luther“, einem Lehr- und Materialbuch zum Kleinen Katechismus von 1989, das im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche der Union herausgegeben wurde, montierte zur Beantwortung der Frage, woran jede:r „erkennen wird, dass ihr meine Jünger[:innen] seid“, ein Augustinus-Zitat:

„Unruhestifter zurückweisen, Kleinmütige trösten, sich der Schwachen annehmen, Gegner widerlegen, sich vor Nachstellern hüten, Ungebildete lehren, Träge wachrütteln, Eingebildeten den rechten Platz anweisen, Streitende besänftigen, Armen helfen, Unterdrückte befreien, Gute ermutigen und – ach – alle lieben.“

Es gibt also reichlich zu tun. Frei zu sein, heißt, in der Verantwortung zu stehen, die Freiheit auszunutzen und nicht voreilig klein beizugeben oder das Feld zu räumen.

Gut zu wissen, wofür man nichts kann

Bei der wissenschaftlichen Tagung von Historiker:innen hier in Bad Frankenhausen, die das Bauernkriegsjubiläum bereits vor ein paar Wochen abrundete, hörte ich, dass dort, wo die „wilde Handlung“ besonders aufrührerisch wurde, kleine Cliquen von reformatorisch und, jup, bildungsbürgerlich aufgestachelten Leuten wirkten, die ihren Bundesgenoss:innen Beine und den Obrigkeiten Angst machten.

Zwei weitere Erkenntnisse nehme ich aus dem Denkjahr zum Bauernkrieg von 1524/1525 in die Macht-Debatten unserer Tage mit: Es wäre unsinnig, den zu Recht zu Grabe getragenen Luther-Kult durch einen Müntzer-Kult zu ersetzen. Man meide Männer wie sie, die sich in endzeitlichen Kämpfen wähnen.

Und man sorge sich darum, dass der Freiheitsdrang nicht selbst wieder zum Machtstreben wird. Gut zu wissen, wofür man wirklich nichts kann, wo menschliche Tatenlust, technologische und autokratische Selbsterlösungsfantasien an ihr Ende kommen. Ich kann Freiheit nur dann verantwortlich gestalten, wenn sie nicht grenzenlos ist.

„Mit unsrer Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verloren;
es streit’ für uns der rechte Mann,
den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth,
und ist kein andrer Gott,
das Feld muss er behalten.“

Aktuell im Magazin:

RE: Oktober 2025 – Kirche in der Klimakrise & Widerstand gegen Trump – Michael Greder und Philipp Greifenstein (58 Minuten)

Im Monatsrückblick „Eule-Podcast RE: Oktober 2025“ sprechen Michael Greder und ich diesmal darüber, was Christ:innen und Kirchen gegen die Klimakrise unternehmen und den Widerstand gegen den Christlichen Nationalismus der Trump-Bewegung in den USA. Außerdem gibt es wie immer eine gute Nachricht des Monats (und ausführliche Shownotes zu den Themen der Episode).

„Jesus Glow und Bibelverse“: Abschied von der Bubble? – Louis Berger

In der ZDF-Talkshow „Unbubble/13 Fragen“ wird ein Kompromiss zwischen Christfluencer*innen inszeniert, die politische Gegner sind. Louis Berger geht der Frage nach, was man aus der Sendung, die sich explizit an ein jüngeres Publikum richtet, tatsächlich lernen kann.


An diesem langen Herbstwochenende begehen die Katholik:innen Allerheiligen und Allerseelen. Und Kinder überall im Land streifen heute Abend auf der Jagd nach Süßigkeiten und ein bisschen Schauerlichkeit durch die Straßen. Das ganz große Bohei um „Halloween vs. Reformationstag“ oder sonstige Exorzismus-Fantasien ist auf Instagram, dem maßgeblichen Austragungsort für derlei virtue signalling, bisher nach meinem Eindruck in diesem Jahr ausgeblieben. Hoffentlich bleibt es dabei.

Es gibt wahrlich mehr und anderes zu fürchten in der Welt als ein paar verkleidete Kiddies. Und auch „Halloween in der Kirche“ ist – ich werfe die Gebetsmühle an – längst keine Neuigkeit mehr, die man im Gestus von Pionier:innen vor sich her tragen muss: Bereits 2014 war ich „Auf Geisterjagd“ und Daniela Albert hat für „Gotteskind und Satansbraten“ im Jahr 2021 das Wesentliche noch einmal gesagt.


Zu den Catholica: Die römisch-katholische Deutsche Bischofskonferenz (DBK) hat unter dem schönen Titel „Geschaffen, erlöst und geliebt“ ein Dokument (PDF) zur „Sichtbarkeit und Anerkennung der Vielfalt sexueller Identitäten in der Schule“ veröffentlicht. Laut DBK-Pressemitteilung will man „vor Diskriminierung schützen und für Akzeptanz einstehen“.

Das Dokument ist eine weitere Frucht des Synodalen Weges, dürfte in der katholischen Weltkirche für Erstaunen sorgen (so man sich dort die Mühe des Aufsuchens macht, was einige rechtskatholische Blogs sicher tun werden) und lässt fragen: Ist die Realität an katholischen Schulen und im Religionsunterricht nicht längst weiter? Schließt das Dokument zur Wirklichkeit auf oder adressiert es einen bis heute bestehenden Mangel?


In den Bistümern Trier und Augsburg wurden in dieser Woche Missbrauchsberichte veröffentlicht: Bei katholisch.de hat sich Felix Neumann den 3. Zwischenbericht der Aufarbeitungskommission (PDF) in Trier ausführlich angesehen. Der Bericht betrifft die Amtszeiten der Bischöfe Reinhard Marx (2001–2008) und Stephan Ackermann (2009–2021). Das Bistum Trier ist für die Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche auch deshalb von großem Interesse, weil dort viele Akteure tätig waren, die für die katholische Kirche in Deutschland in den vergangenen Jahren an führender Stelle tätig waren (oder sind), auch der aktuelle DBK-Vorsitzende Bischof Georg Bätzing (Limburg).

„In mehr als einem Drittel der Fälle ist die Augsburger Bistumsleitung mit dem Thema Missbrauch seit 1948 unangemessen umgegangen, etwa durch Vertuschung“, hat die Katholische Nachrichten-Agentur der ebenfalls gestern veröffentlichten Studie der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum Augsburg entnommen (Download auf der Bistums-Website). Trotz alledem titelt sie: „Studie lobt Entwicklung des Bistums Augsburg im Umgang mit Missbrauch“. Sowohl bzgl. Trier als auch Augsburg haben die maßgeblichen bischöflichen Akteure inzwischen auch Stellung zu den Veröffentlichungen bezogen.

Zwei Beobachtungen, ohne dass ich die Studien schon studiert hätte: (1) Erneut sind zu den in der großen katholischen Aufarbeitungsstudie, der MHG-Studie von 2018, gezählten Missbrauchsfällen und Tätern neue Sachverhalte und Beschuldigte hinzugekommen. Das bedeutet auch: Mehr Betroffene sind mit ihren Geschichten und Fallkonstellationen (wenigstens rudimentär) gewürdigt worden.

Das setzt die Arbeit der Unabhängigen Aufarbeitungskommissionen, die auf Grundlage einer Vereinbarung mit [damals] dem Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rörig, arbeiten, auch historisch ins Recht. Dennoch gibt es (2) nach wie vor das Problem, dass die in den einzelnen Bistümern verfassten Studien methodisch schwer miteinander vergleichbar sind.


Zum Schluss noch etwas zum Schmunzeln: Papst Leo XIV. ist bekanntlich glühender Anhänger der White Sox, dem Baseball-Team von der South Side Chicagos. In diesem weitgehend nur US-Amerikaner:innen sinnhaft zugänglichen Sport firmieren in des Papstes Heimatstadt jedoch auch die Cubs. Mar Awa III., Patriarch der Assyrischen Kirche des Ostens, wie Robert Prevost gebürtiger Chicagoer, überreichte Leo bei einer Audienz nun ein Trikot dieses seines Lieblingsteams, des Lokalrivalen des Herzensvereins des Papstes.


Leos Begeisterung ob des schönen Mitbringels ist ebenso deutlich zu spüren wie die großzügige Freigiebigkeit seines ökumenischen Gegenübers. Der Patriarch gab im Anschluss zu Protokoll, er habe „zur Ehre aller Nord-Chicagoer“ dem Papst eine Kappe und ein maßgeschneidertes Trikot der Cubs überreicht, über das sich – „needless to say“ – der Papst sehr gefreut habe 😌.

Sogar die New York Times berichtete über den Vorfall. Dem Papst Trikots von konkurrierenden Baseball-Teams zu überreichen, entwickelt sich derweil zu einem kleinen Trend.

Einen fröhlichen Reformationstag und ein schönes Wochenende wünscht
Philipp Greifenstein


Ein guter Satz

„Die Liebe Gottes zum Menschen zeigt sich in seinem unbedingten Ja zu jeder Person – vor aller Leistung und in allen humanen Potenzialen wie Zerbrechlichkeiten, die das menschliche Leben in allen seinen Facetten bestimmen.

Eine christliche Nächstenliebe, die dieser Menschenliebe Gottes folgt, sagt ebenfalls Ja zu jeder einzelnen Person; sie zollt jedem Menschen Anerkennung und Respekt als Kind Gottes; sie unterstützt seine Sichtbarkeit und lässt es seine Würde als Mensch und Gottes Ebenbild erfahren.“

– aus der Einleitung von „Geschaffen, erlöst und geliebt. Sichtbarkeit und Anerkennung der Vielfalt sexueller Identitäten in der Schule“ (S. 9 f.)


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