„Ich wünsche mir eine ehrlichere Erinnerungskultur“

Der Journalist Arnd Henze beschreibt in seinem neuen Buch den schwierigen Weg der evangelischen Kirchen zur Demokratie. Daraus lässt sich auch für heute lernen.

Eule: Herr Henze, in ihrem neuen Buch beschreiben Sie die schwierige Aufarbeitung des NS-Erbes in den evangelischen Kirchen nach dem 2. Weltkrieg. Das waren für mich persönlich als Mitglied einer jüngeren Generation besonders spannende Kapitel. Bei der Lektüre habe ich den Eindruck gewonnen, dass dieses Thema für sie auch biographisch wichtig ist.

Henze: Das ist in der Tat so. Wer die Deutungshoheit über die Geschichte hat, der prägt auch die Gegenwart. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten hat es auch bei Kirchens den Versuch gegeben, die sehr ambivalente Geschichte im Nationalsozialismus und der Nachkriegsjahre in ein geschöntes Bild zu setzen. Da waren auf einmal alle auf der Seite der Bekennenden Kirche und des Widerstands und die eigene Komplizenschaft und Verwicklung in die Verbrechen der NS-Zeit wurden ausgeklammert. Damit wurde ein durchaus autoritäres Kirchenbild über Jahrzehnte hinweg gefestigt.

Ich habe gemerkt, welche Widerstände man durchbrechen musste, wenn man z.B. über die Komplizenschaft des Hannoverschen Bischofs Marahrens mit dem NS-Regime einen Artikel schreiben wollte. Dann habe ich aber auch erlebt, dass die Auseinandersetzung damit befreiend ist, welche Diskussionen möglich wurden.

Wir sehen das ja gegenwärtig in Thüringen: 80 Jahre nach Gründung des sog. „Entjudungsinstituts“ findet zum ersten Mal eine große Ausstellung zu Walter Grundmann und der Geschichte des Instituts statt. In den Universitätsbibliotheken stehen diese fürchterlichen antisemitischen Rechtfertigungen des Holocausts – anders kann man das gar nicht nennen – immer noch in den Spalten der Judaistik, der Theologie, der Neutestamentlichen Wissenschaft und nicht in einem Schrank für antisemitische Hetzschriften. Da haben wir eine Menge aufzuarbeiten.

Eule: Gibt es dazu nicht schon eine Menge wissenschaftlicher Arbeiten?

Henze: Nachdem das irgendwann irgendwo mal wissenschaftlich aufgearbeitet wurde, haben wir uns in das Bild eingerichtet, wir hätten eine tolle Erinnerungskultur in unseren Kirchen. Dabei ist die selbst widersprüchlich und steht auf einem dünnen Fundament. Das merken wir jetzt, wo der Angriff auf die Erinnerungskultur mit aller strategischen Härte geführt wird.

Eule: In ihrem Buch weisen Sie darauf hin, dass Theologische Fakultäten den NS in ihrer eigenen Geschichtsdarstellung verstecken. Ich habe mich beim Lesen an die Schilderungen von Bischöfin Ilse Junkermann im Interview mit der Eule über ihre Studienzeit erinnert. Auch bei Kirchgemeinden ist das Problem ja vorhanden. Wer hat das größere Problem mit der Erinnerungskultur, die Wissenschaft oder die Kirchen?

Henze: Es hing schon immer an Einzelpersonen in den Fakultäten – wie Berndt Schaller, Peter von der Osten-Sacken –, die sich mit der Geschichte intensiv befasst haben. Für junge Studierende war das bestenfalls Kür, aber niemals Pflicht, sich mit der Verführbarkeit und der Komplizenschaft auch der Theologie, mit Antijudaismus, Antisemitismus und Rassismus auseinanderzusetzen. Aber ich würde das nicht auf die Fakultäten begrenzen.

Wir erleben am Streit um die „Hitlerglocken“ in den vergangenen Jahren, wie toxisch dieses Erbe sein kann, wenn da plötzlich etwas hochgespült wird, was man kollektiv verdrängt hatte. Das hat einzelne Gemeinden richtig gesprengt, so dass Pfarrer hinterher aus den Gemeinden rausgedrängt wurden und Gemeinderäte gespalten waren. Der Antijudaismus hat sich in manchen Gemeinden wieder völlig ungehemmt Raum verschafft. Ich erinnere mich da an die Schlagzeile: „Die Glocke bleibt – ein Jude hatte geklagt“. Da hatte sich das ganze Dorf gegen diese Kritik „von außen“ verbündet. Da ist noch viel, was noch hochkommen wird, wenn – wie jetzt von völkischer Seite aus – die Erinnerungskultur grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Eule: Wie soll man mit diesem Erbe umgehen? Glocken kann man schweigen lassen, abnehmen, einschmelzen. Sie hatten gerade die Bibliotheken angesprochen. Sollte man da ein eigenes Regal mit solchen Büchern anlegen? Sollen wir Grundmanns Bücher aus unseren Regalen holen? Ist denn eine Bibliothek nicht auch ein Gedächtnis für diese Seite der Geschichte?

Henze: Ich bin dafür, dass wir aus einer Haltung gegenüber diesem toxischen Erbe herauskommen, dass wir uns stetig ertappt fühlen. Das bringt die Kirche immer wieder in die Defensive. Wenn wir das, was ich in den 1980er-Jahren mit Walter Grundmann versucht habe, was sich im Falle von Bischof Marahrens ja auch durchgesetzt hat, wenn das, was die Gemeinden über sich erfahren können, in das kollektive Gedächtnis so einwandert, dass wir darum wissen und dass wir uns dem stellen, dann wäre viel gewonnen. Umgedreht geht es auch darum, dass wir um die Ressourcen aus unserer eigenen Geschichte für widerständiges Handeln wissen. Beides gehört zusammen.

Die AfD behauptet explizit eine Kontinuität vom Nationalsozialismus über die DDR bis zur freiheitlichen Demokratie heute. In diesem perfiden Konstrukt versucht sie, sich selbst als Erben der Bekennenden Kirche und des kirchlichen Widerstands in der DDR einzusetzen und im Umkehrschluss die Kirchenleitungen, aber auch den Kirchentag in die Tradition der Deutschen Christen zu stellen. Dem muss man widersprechen! Dafür muss man aber seine eigene Geschichte kennen. Das gilt übrigens mit Blick auf den 80. Todestag im kommenden Jahr sogar für Dietrich Bonhoeffer: da gibt es schon jetzt strategische Anstrengungen, diesen Widerstandskämpfer von rechts zu vereinnahmen.

Eule: Die Behauptung, die Kirche hätte in der DDR auf Seiten der Opposition gestanden, ist genauso brüchig wie die, sie hätte im NS dem System kritisch gegenübergestanden.

Henze: Ich wünsche mir eine ehrlichere Erinnerungskultur: Wo waren wir in unserer Geschichte stark? Wo haben wir die Ressourcen aus unserem Glauben eingebracht und wo waren wir anfällig und haben versagt? Nur wenn wir diese ehrliche Erinnerungskultur haben, werden wir widerstandsfähig gegenüber infamen Geschichtsverdrehungen, wie sie die AfD anstellt.

Schwierige Erinnerung: Kirche unterm Hakenkreuz

Vor 80 Jahren wurde in Eisenach von elf evangelischen Kirchen das sog. „Entjudungsinstitut“ gegründet. Aus diesem Anlass beschäftigen wir uns in einem Schwerpunkt mit der schwierigen Erinnerung an das NS-Erbe in den Kirchen. Susannah Heschel hat mit ihrer Arbeit die Geschichte des Instituts in die öffentliche Diskussion gebracht. Mit Prof. Christopher Spehr (Jena) haben wir über die Wirkungsgeschichte des Instituts und aktuellen Antisemitismus in den Kirchen gesprochen. Prof. Gerhard Lindemann beschreibt die Kirche unter „Christenkreuz und Hakenkreuz“ in Sachsen.

Eule: Der christliche Glaube kann sowohl für die Revolution als auch für Reaktion in Anspruch genommen werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung in den USA, wo der christliche Glaube sowohl für die Bürgerrechtler*innen handlungsweisend war, als auch für die Begründung der Segregation herhalten musste.

Mein Eindruck ist, dass der deutsche Protestantismus mit seinem Hang zum Autoritären da nicht so deutungsoffen ist. Wo sind denn die von ihnen erwähnten „Ressourcen“ für die Demokratisierung zu finden?

Henze: Wenn man sieht, wie weit der Weg war, den die Protestanten in Deutschland seit den 1950er-Jahren hin zur Demokratie, hin zur offenen Gesellschaft gehen mussten – aber dann auch gegangen sind! -, dann kann man das auch als enorme Erfolgsgeschichte erzählen. Denn es stimmt zwar: Viele haben nach 1945 erstmal auf der falschen Seite gestanden, auf der Seite der antidemokratischen, autoritären, restaurativen Kräfte, die wieder an ein deutschnationales Erbe anknüpfen wollten. Das gehört zum dunklen Kapitel unserer Geschichte dazu.

Aber viel wichtiger: es hat ja dann einen großen Aufbruch, einen Lernprozess hin zur Demokratie gegeben! Darauf kann man auch stolz sein! Man sollte sich z.B. an Personen wie Gustav Heinemann ganz anders erinnern. Dieses Jahr hätte man 50 Jahre Bundespräsidentschaft Heinemanns auch in der evangelischen Kirche ganz anders würdigen können. Niemand hat die Versöhnung von Protestantismus und Demokratie, Protestantismus und Rechtstaat mehr befördert als Gustav Heinemann.

Damit verbunden ist natürlich eine Bewusstwerdung, dass das ein nur wenige Jahrzehnte umfassender Prozess in einer jahrhundertelangen Geschichte ist, die oft mit dem Autoritären verbunden war. Es reicht darum nicht, sich in einer Komfortzone der Demokratie einzurichten und zu glauben, dass man schon Kraft Glaubens auf der richtigen Seite steht.

Eule: Die Evangelischen Kirchen mussten doch „von außen“ auf den Weg der Demokratie gebracht werden. Das ist ja bis heute das Argument rechter Christen, dass Demokratie und Gleichberechtigung eigentlich nicht zur christlichen Tradition gehören, sondern eben „dem Zeitgeist“ entsprechen. Wenn man sich auf diese Denke einmal einlässt: Wo ist spezifisch Protestantische, das dem Autoritären widerstrebt?

Henze: Es bedeutet, den Freiheitsgedanken der Reformation und die Rechtfertigungslehre wirklich ernst zu nehmen. Kein anderes politisches System bringt die Fehlerfreundlichkeit mehr zum Ausdruck als die Demokratie. Wir wissen darum, dass politische Entscheidungen und Prozesse fehleranfällig sind. Dass auch das Recht fehleranfällig ist. Wir brauchen ein System, das von Korrektur lebt, Neuanfänge ermöglicht und Kritik als etwas Positives definiert – und nicht als Beleidigung der Autorität. All das hätte man seit der Reformation in die gesellschaftlichen Debatten einbringen müssen.

Die andere große Linie kann von der Barmer Theologischen Erklärung her gezogen werden: es geht im Glauben darum, die gesamte Realität des Menschen in den Horizont der Liebe Gottes zu stellen. Das betrifft das Private, das soziale Umfeld, aber auch die politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen. Da gibt es keinen Bereich, der nicht von der Kirche, vom Glauben her in diesen Horizont gestellt werden müsste. Wo wir das verweigern, bleiben wir etwas schuldig.

Eule: Mein Eindruck ist, dass die Protestanten, die sie gerade beschrieben haben, ich würde sagen, die besseren Protestanten, heute außerhalb der Kirchen leben. Die gehen auf die Straße für Klimagerechtigkeit, die setzen sich in feministischen Kontexten ein, kämpfen für LGBTQ-Rechte. Immer dann, wenn die Kirche damit einigermaßen Schritt hält, ist sie mit dabei, aber doch häufig wie der Hase, der ankommt, und der Igel sagt „Ich bin schon hier!“. Ist die Kirche damit nicht überfordert, solche Punkte selbst zu setzen?

Und problematischer noch: Tritt die Kirche dann nicht doch wieder so auf, als ob sie Avantgarde wäre, statt zu sagen: „Aha, wir haben hier etwas gelernt von Gruppen, die am Rande der Gesellschaft und der Kirche stehen“. Wo sie auftritt, klingt es häufig altklug „Wir haben es ja schon immer gewusst!“

Henze: Aber das ist ja kein Naturgesetz und es gibt auch andere Beispiele. Nehmen Sie mal die Umwelt- und Friedensbewegung in Ost und West in den 1980er-Jahren. Ohne die Kirche als Raum zur Entfaltung hätten solche Fragen gar nicht die gesellschaftliche Breite erreicht. Kirchentage waren einmal Orte für solche gesellschaftliche Debatten. Wichtige Diskussionen haben in evangelischen Akademien stattgefunden.

Das meine ich ja mit meiner Kritik, dass wir uns in der Komfortzone der Demokratie eingerichtet haben. Wir sind im Moment nicht da, wo es weh tut und wir in den gesellschaftlichen Konflikten diese Gesprächsräume anbieten müssten. Die werden aber dringend gebraucht. Die gesellschaftliche Fragmentierung – sowohl in den analogen als auch digitalen Räumen – die braucht doch überall jemanden, der sagt: „Hier schaffen wir die geschützten Räume, in denen Debatten stattfinden können, die sonst von der AfD und anderen Kräften missbraucht werden.

Ich habe zwanzig Jahre lang in Köln eine Veranstaltungsreihe, das Dellbrücker Forum, initiiert. Da haben wir mal mit zwanzig Leuten um einen runden Tisch angefangen, am Ende waren im Schnitt 250 Menschen in der Kirche. Wir haben jedes gesellschaftliche und politische Streitthema diskutiert, das man sich nur vorstellen kann. Das war für alle, die dabei waren, eine Werkstatt der Demokratie: in der Kirche, unterm Altar.

Eule: Das ist genau meine Frage, ob die Kirche das bieten kann. Dass es diese Foren braucht, da bin ich ganz bei ihnen. Aber ist die Kirche nicht auch nur noch Fragment in dieser Gesellschaft und nicht mehr ordnende Kraft? Überspannt sie sich nicht mit diesem Anspruch in ihrer gesellschaftlichen Prägekraft und Kampagnenfähigkeit?

Henze: Es geht nicht darum, für sich und ungefragt etwas zu reklamieren, sondern etwas anzubieten. Ich bin mit dem Thema Demokratie in den letzten Jahren über die Dörfer gezogen. Spätestens mit der Wahl von Donald Trump habe ich den Fokus ganz bewusst auf Kleinstädte gesetzt, weil er eben nicht in New York oder Chicago gewählt wurde, sondern in Orten mit 10 bis 50 Tausend Einwohnern.

Meistens war es dann so: Nachdem ich 45 Minuten über die Demokratie in der großen Welt gesprochen habe, kamen wir in der Diskussion an irgendein lokales Thema, das den Menschen vor Ort auf den Nägeln brannte. Das haben wir dann ganz bewusst mal laufen lassen. Was hat der Streit um eine fehlgeleitete Ampel mit dem Frust über Politik am Ort zu tun? Wer ist denn hier im Raum, z.B. als Lokalpolitiker, der das Thema noch mal aufnehmen könnte? Manchmal haben wir sofort vor Ort damit angefangen, solche neuen Initiativen auf die Spur zu setzen. Am Ende haben Leute immer wieder gesagt: „Warum machen wir das eigentlich nicht öfter?“

An vielen Orten braucht es jemanden, der einen geschützten Raum anbietet, wo man über solche Probleme reden kann und Lösungen erarbeiten, wo nicht einfach Wasser auf die Mühlen der Unzufriedenen geschüttet wird. Wenn die Kirche näher bei der Realität der Menschen wäre, würde das dankbar aufgegriffen werden.

Eule: Gibt es dafür denn positive Beispiele?

Henze: Die gibt es gerade dort, wo der Riss quer durch die Familien geht, wie in der Lausitz bei der Frage des Braunkohlebergbaus – oder auch im Konflikt um Arbeitsplätze. Als Siemens sein Turbinenwerk in Görlitz schließen wollte, hat es keine zwei Tage gedauert, bis sich die Kirche unmissverständlich an die Seite der Beschäftigten gestellt hat – und damit kein Vakuum gelassen hat z.B. für die AfD, die sonst die Situation bestimmt für die eigenen Agenda genutzt hätte. Da haben dann 7000 Menschen demonstriert – und als die AfD ein Transparent hochhalten wollte, wurde gesagt: „Das lasst ihr mal schön bleiben.“

Die Frage ist: Wer hat die Deutungshoheit, wer nimmt sich eines Konfliktes an? In Görlitz hat die Kirche ihre Ressourcen eingesetzt: von den Posaunenchören beim Weihnachtssingen vor den Werkstoren bis zu gemeinsamen Protesten.Das ist es, was ich mir wünsche.

Eule: Im Buch empfehlen sie Kleinteiligkeit als Mittel der Wahl, um Populisten draußen zu lassen. Das setzt ja voraus, dass die Kerngemeinde und kirchlichen Mitarbeiter etwas davon wissen, was die Leute vor Ort beschäftigt. Ich habe häufig das Gefühl, dass kirchennahe Menschen abgehoben sind von den Konflikten, die viele Menschen vor Ort beschäftigen.

Henze: Ich habe für das Buch hunderte von Predigten gelesen, an denen man das empirisch belegen kann. Da taucht der Alltag der Menschen praktisch nicht auf. Da herrscht ein ästhetisierter Umgang mit biblischen Texten, der völlig ort- und zeitlos ist. Nur ganz selten hatte ich das Gefühl, ich kriege mit, was die Leute vor Ort tatsächlich beschäftigt. Diese Realitätsferne ist für mich der Grund dafür, warum die Kirchen so leer sind, aber auch dafür, warum die Kirchen so irrelevant sind.

Mein konkreter Vorschlag ist: Kein Gemeindekirchenrat sollte mehr zusammenkommen, ohne in der ersten halben Stunde Bilanz zu ziehen, was die Menschen aus der Gemeinde in den vergangenen Wochen beschäftigt hat. Wie hat sich das in dieser Zeit in unseren Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen widergespiegelt? Sind wir bei den Menschen oder laufen da zwei Welten nebenher? Ein solcher verbindlicher Tagesordnungspunkt würde den Fokus von Gemeinden verändern.

Eule: Sie schlagen auch vor, diese Aufgabe zu delegieren, indem man Vertreter*innen aus der Zivilgesellschaft in den Kirchenvorstand einlädt und sie dort so etwas wie eine „Blattkritik“ machen lässt.

Henze: Da gibt es immer ein Zusammenzucken! Die Kritikkultur in der Kirche, unter Pfarrerinnen und Pfarrern, hat noch eine Menge Luft nach oben. Es geht darum den selbstreferentiellen Raum der Treuesten der Treuen zu verlassen. So wie wir in den Redaktionen von frischen Stimmen von außen lernen, die sich unser Angebot mit ganz unverstelltem Blick anschauen, würde ich mir das auch für die Kirchen wünschen.

Was hat eine Lehrerin oder der Trainer der örtlichen Fußballmannschaft zu sagen? Was hat den Polizisten oder die Redakteurin der Lokalzeitung an unseren Gottesdiensten und Veranstaltungen angesprochen und wo haben wir sie schon verloren, bevor es mit uns richtig angefangen hat? Dafür braucht es aber eine Kultur der Kritikbereitschaft, solche Menschen anzuhören und ihnen nicht gleich zu erklären, was sie alles falsch verstanden haben.

Eule: Mit welchen Gemeinden will man das machen? Sie erwähnen das Problem im Buch selbst am Beispiel der innerkirchlichen Debatten um Synodenbeschlüsse zum jüdisch-christlichen Verhältnis, die vor über 30 Jahren unter starker Beteiligung der Gemeinden gelaufen sind. Haben wir es nicht auch mit einer schleichenden Entmündigung der Gemeinden zu tun? Die mag gar nicht beabsichtigt sein, ergibt sich aber aus der Organisationslogik des Machbaren.

Henze: Ich bin da nicht so pessimistisch, was die Möglichkeiten angeht. Wenn man sich das großartige, ganz spontane Engagement für Flüchtlinge 2015 anschaut, da waren plötzlich alle da. Da ist ganz viel bewegt worden, ohne dass zuerst gefragt wurde: „Haben wir denn die Strukturen dafür?“. So läuft es auch mit dem Kirchenasyl an vielen Orten.

Mir fehlt eine Kultur, solche Geschichten des Gelingens als Teil eines dringend benötigten größeren Narratives zu begreifen, das wir dem verächtlichen Narrativ des Scheiterns der Rechten entgegenhalten können. Das Großartige, das in vielen Gemeinden 2015 und 2016 geleistet wurde, ist kaum aufbereitet und in den Erzählungen der Gemeinden verfestigt worden. Das findet man kaum in den Predigten, aber z.B. auch nicht auf den Websites der Gemeinden.

Wir schaffen es zu wenig, uns von dem, was schon gelingt, anspornen zu lassen. Wenn wir die Erfolgsgeschichten besser erzählen, wird das viele neue Kräfte freisetzen.

(Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.)


Kann Kirche Demokratie?
Wir Protestanten im Stresstest
Arnd Henze
Verlag Herder
1. Auflage 2019
176 Seiten
18 €