Kirche

5 vor 12 und auch nicht richtig 

Am vergangenen Wochenende trat der Betroffenenbeirat der EKD zum ersten Mal zusammen. Dabei wurden die Versäumnisse der evangelischen Aufarbeitung des Missbrauchs offenbar.

Ende August gab die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) erleichtert bekannt, dass ein zwölfköpfiger Betroffenenbeirat berufen werden konnte, der den „Beauftragtenrat zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ ergänzt. Die Einrichtung eines Betroffenenbeirates hatte man sich mit der Verabschiedung des 11-Punkte-Handlungsplans der EKD auf der EKD-Synode 2018 vorgenommen.

Zwei Jahre später und gerade rechtzeitig vor der kommenden EKD-Synode in diesem Jahr (8./9. November), hat sich das Gremium nun zum ersten Mal getroffen. Traditionell werden kurz vor der Synode die Vorhaben des letzten Jahres abgeschlossen oder doch wenigstens so vorangetrieben, dass man im Lichte des erhöhten Medieninteresses auch etwas vorzuzeigen hat.

Seit 2018 gehören dazu auch Fortschritte bei der Prävention, Aufarbeitung und Entschädigung des sexuellen Missbrauchs in den evangelischen Kirchen und der Diakonie – nur, dass das Vorzeigbare häufig mit dem veranstalteten Brimborium nicht mithalten kann.

Nur halbgare Umsetzung der Projekte

Im Sommer 2019 wurde die Einrichtung der „Unabhängigen Zentralen Anlaufstelle .help“ präsentiert. Betroffene kritisierten das Unternehmen noch auf der Synode (und bis heute), denn die „Zentrale Anlaufstelle“ reicht die mutigen Betroffenen, die sich bei der EKD melden, einfach an die zuständigen Stellen in den Landeskirchen und bei der Diakonie weiter. Damit ist zwar der Unübersichtlichkeit des evangelischen Föderalismus ein wenig gewehrt, für die Betroffenen beginnt dennoch nicht selten eine Odyssee durch die Untiefen der Amtskirche.

Die Umsetzung der einheitlichen Präventionsrichtlinie, die auf der Synode im vergangenen Jahr verabschiedet wurde, ist in den Landeskirchen verschiedentlich weit fortgeschritten. Gelegentlich wird zur Entschuldigung auf die Folgen der Corona-Krise verwiesen, die man habe bewältigen müssen. Bis zur Basis ist die Präventionsarbeit in den vergangenen zehn Jahren (!) Missbrauchskrise in den Kirchen jedenfalls nicht flächendeckend vorgedrungen.

Noch heute werden Pfarrer:innen in der evangelischen Kirche in Dienst gestellt, die im Rahmen ihrer langjährigen Ausbildung nicht mit dem Thema sexueller Missbrauch in der Kirche konfrontiert wurden. Was an manchen Stellen, z.B. bei der Evangelischen Jugend, an Bewusstsein und Engagement für das Thema vorhanden ist, nimmt umso stärker ab, desto älter die haupt- und ehrenamtlichen Akteur:innen werden. Dabei wissen die Verantwortlichen darum, dass Betroffene häufig erst Jahre nach dem Missbrauch, und darum im Erwachsenenalter, Kraft und Mut aufbringen, sich mit der eigenen Missbrauchsgeschichte und der Organisation der Täter zu konfrontieren.

Wieder ein Jahr rum

Obwohl also zu den Teilen des 11-Punkte-Handlungsplans, die in den vergangenen beiden Jahren vorgestellt wurden, nach wie vor Fragen bestehen, sollte der Fokus in diesem Herbst auf die Verabschiedung einer Rahmenordnung für die Aufarbeitungskommissionen der Landeskirchen und die Einrichtung des Betroffenenbeirats gerichtet werden.

In den Aufarbeitungskommissionen der evangelischen Landeskirchen werden Missbrauchsbetroffene angehört, die Kommissionen befinden auch über die Höhe der Zuwendungen im Rahmen der individuellen Anerkennungsleistungen. Das Vorgehen in den einzelnen Landeskirchen weicht allerdings stark voneinander ab. Zwischen den Landeskirchen, dem EKD-Beauftragtenrat mit Bischöfin Kirsten Fehrs (Sprengel Hamburg, Nordkirche) an der Spitze und den Betroffenen wird über die Kommissionen heftig gestritten.

Daher muss es erstaunen, dass dem neuen Betroffenenbeirat am letzten Wochenende ein nahezu fertiger Entwurf für die Rahmenordnung präsentiert wurde. Zwar hatte sich die Berufung des Betroffenenbeirates Anfang des Jahres verzögert, die ursprünglich bis Januar laufende Bewerbungsfrist wurde verlängert, aber dass so viele Projekte des 11-Punkte-Handlungsplans ohne Mitarbeit der Betroffenen abgearbeitet wurden, ist – so die Vermutung von Betroffenenvertreter:innen gegenüber der Eule – kein Versehen, sondern Absicht.

„Ich habe das Gefühl, wir Betroffenen sollen einfach nur abnicken, was ohne unser Zutun erarbeitet wurde“, klagt Detlev Zander, Mitglied im neuen Betroffenenbeirat. Zander gehört zu den Betroffenen des Missbrauchs in den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal und spricht für das Netzwerk BetroffenenForum e.V.. Mit seiner Kritik steht Zander nicht allein, gegenüber der Eule kritisierten weitere Betroffenenbeiräte, dass die Rahmenordnung für die Aufarbeitungskommissionen, die das höchst unterschiedliche Vorgehen der Landeskirchen in Zukunft harmonisieren soll, ohne Mitsprache der Betroffenen erstellt wurde.

Dabei ist die Frage der Entschädigung des in den Kirchen erlittenen Unrechts besonders brisant und komplex. Zum Beispiel ist noch ungeklärt, ob auch Betroffenen-Vertreter:innen in den Kommissionen mitarbeiten dürfen, um dort ein stärkeres Gegengewicht zu Vertreter:innen der Institution zu bilden.

Auf Nachfrage der Eule bei der EKD, ob der Betroffenenbeirat an der Erstellung der Rahmenordnung beteiligt wird, berief sich ein EKD-Sprecher auf die zwischen allen Teilnehmenden vereinbarte Vertraulichkeit der Sitzungen des Betroffenenbeirats. Im Konzept sei „die Erarbeitung ‚eigener Positionen und Vorschläge hinsichtlich geplanter Maßnahmen‘ ausdrücklich vorgesehen“.

Die Evangelische Kirche steht unter Zeitdruck

Auch für eine Mitarbeit am Zuschnitt einer EKD-Missbrauchsstudie kommt der Betroffenenbeirat wohl zu spät. Die entsprechenden Ausschreibungen sind jedenfalls gelaufen. Immerhin sollen die zuständigen Wissenschaftler:innen, die an der auf drei Jahre angelegten Studie mitarbeiten, noch in diesem Jahr vor dem Betroffenenbeirat berichten.

Sowieso ist von der EKD-Studie nicht annähernd so viel Aufklärung zu erwarten, wie sie selbst die MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz mit all ihren Schwächen ermöglichte. Auch in drei Jahren wird es, so sieht es jedenfalls aus, immer noch keine umfassende Untersuchung wenigstens des Hellfeldes des sexuellen Missbrauchs in den evangelischen Kirchen und diakonischen Werken geben.

Bischöfin Kirsten Fehrs, Sprecherin des „Beauftragtenrates der EKD für den Schutz vor sexualisierter Gewalt“, weist seit 2018 immer wieder darauf hin, dass die Beteiligung der Betroffenen unabdingbar für den Erfolg der Maßnahmen ist. Auf der EKD-Synode im Herbst 2019 hatte eine Gruppe von Betroffenen mit den Synodalen gemeinsam zum Thema gearbeitet (wir berichteten), Kerstin Claus hielt stellvertretend für sie eine vielbeachtete Rede vor dem Plenum der Synode (hier im Wortlaut in der Eule). Doch zeigt sich: Wenn es um mehr als um Zuhören und nicht mehr um tragische Einzelschicksale geht, sondern um Mitsprache und strukturelle Fragen, werden die Kirchenakteur:innen schmallippig.

Man habe sich doch so sehr engagiert, heißt es von Kirchenvertreter:innen, nach Schilderung von Teilnehmer:innen auch bei der konstituierenden Sitzung des Betroffenenbeirates, wenn Betroffene einfordern, doch noch Einfluss zu nehmen. „Es kann nicht sein, dass die Mitarbeit der Betroffenen jetzt geopfert wird oder unter starkem Zeitdruck stattfindet, weil die EKD auf der nächsten Synode etwas vorweisen will“, hält Detlev Zander dieser Haltung entgegen.

Die EKD muss ihre Versprechen einlösen

Es war auch nicht alles schlecht: Die Moderation der konstituierenden Sitzung wurde von den Betroffenenbeirät:innen gegenüber der Eule ausdrücklich gelobt, vom Aufmarsch der Bischöf:innen waren einige sehr beeindruckt. Einige Betroffenenbeiräte müssen sich mit den internen Dynamiken und auch dem Vorlauf manchen Projektes erst noch vertraut machen, um die Interessen von Betroffenen zukünftig effektiv wahrzunehmen. Zwar sind unter den 12 auch langjährige Betroffenensprecher:innen wie Zander, aber ebenso sind – teilweise anonym – Personen dabei, deren Fälle noch nicht aufgearbeitet sind und bisher nicht öffentlich wurden.

Schließlich braucht das neue Gremium erst einmal eine Geschäftsordnung und klare Zuständigkeiten. Dass der Betroffenenbeirat nicht zu einem Feigenblatt der evangelischen Aufarbeitung wird, liegt auch im Interesse der Kirche selbst, schenkt man den Stellungnahmen der Bischöf:innen und auch des Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm Glauben. Dafür müssen die Betroffenen an den entscheidenden Stellen mitreden dürfen, z.B. in der „Konferenz für Prävention, Intervention und Hilfe“ (PIH-K).

„Der Betroffenenbeirat hat entschieden, je zwei Vertreter in die PIH-K und die Konferenz der Aufarbeitungskommissionen der Landeskirchen zu entsenden. Außerdem wollen wir als Beobachter an der EKD-Synode teilnehmen, wenn der Missbrauch thematisiert wird. Dazu muss sich die EKD nun verhalten“, fasst Detlev Zander die Forderungen nach Teilhabe zusammen, die trotz der Startschwierigkeiten auf der ersten Sitzung verabredet wurden.

Auf Nachfrage der Eule erklärt ein EKD-Sprecher dazu, „dass eine größtmögliche Vernetzung des Betroffenenbeirats mit den schon bestehenden Gremien und Strukturen“ vorgesehen sei. „Organisation und Form der Vernetzung sind in den weiteren Sitzungen zu klären.“

Die Zeit sei reif, so mehrere Betroffenenbeiräte gegenüber der Eule, dass die evangelische Kirche ihre Versprechen an die Betroffenen – Dialog auf Augenhöhe und konstruktive Mitarbeit – einlöse. Es ginge nicht an, dass man sich beim Thema Missbrauch hinter der katholischen Kirche verstecke. Auch die (Kirchen-)Öffentlichkeit müsse das Vorgehen der EKD und der Landeskirchen kritischer prüfen als bisher und sich nicht von Erfolgsmeldungen blenden lassen.

Gespaltenes Fazit

Die neue EKD-Fachstelle für Sexualisierte Gewalt zieht demgegenüber nach der konstituierenden Sitzung ein positives Fazit: Man sei dankbar, „dass trotz der weiterhin bestehenden Corona-Einschränkungen ein persönliches Kennenlernen während der konstituierenden Sitzung möglich war. Während der zweitägigen Klausurtagung konnten im vertraulichen Rahmen Erfahrungen, Kritik, Wünsche und Ziele ausgetauscht werden.“

Auf Nachfrage wollte man auch die Kritik, Betroffene wären zu spät hinzugezogen worden, nicht stehen lassen: Man arbeite seit der Synode 2018 konsequent an der zeitnahen Umsetzung des 11-Punkte-Handlungsplans. Bereits im Januar 2019 sei eine Arbeitsgruppe zur Betroffenenpartizipation gegründet worden, die das Konzept für den Betroffenenbeirat inhaltlich mitentworfen habe. „In dieser Arbeitsgemeinschaft haben auch Betroffene mitgewirkt“, erklärt ein EKD-Sprecher gegenüber der Eule.

„Ebenso waren in der Auswahlkommission für die Aufarbeitungsstudie Vertreter*innen des Betroffenenrates beim Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) beteiligt.“ Mit der Konstituierung des Betroffenenbeirats könne „die Einbeziehung Betroffener darüber hinaus nunmehr in strukturierter Form erfolgen“.

Doch mit der bloßen Einrichtung des Betroffenenbeirates sei es nicht getan, so Betroffenensprecher:innen gegenüber der Eule, denn es sei noch völlig unklar, welche Mitspracherechte ihm im Gefüge der vielfältigen Zuständigkeiten überhaupt eingeräumt werden. Detlev Zander zieht daher ein skeptisches Resümee: „Der Betroffenenbeirat hätte viel früher einberufen werden müssen, so dass er auf die Arbeit an den Projekten des 11-Punkte-Handlungsplanes wirklich Einfluss hätte nehmen können. Das müssen wir jetzt nachholen, auch wenn es dadurch länger dauert.“

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