Die Kirchen und Corona: Fröhliche Weihnachten?
Corona-Weihnachten steht vor der Tür und erhitzt die Gemüter. Zeit für eine emotionale und verbale Abrüstung und Konzentration auf das Wesentliche. Ein Kommentar.
Als ich ein kleiner Junge war, waren an den Liedertafeln in unserer Kirche nicht allein die Nummern der Lieder angeschlagen, die während des Gottesdienstes gesungen werden sollten, sondern der gesamte Gottesdienst-Ablauf. „Lit A“, „Lit B“ und „Lit C“ stand es da zum Beispiel geschrieben und das verständige Kirchenvolk wusste, was gemeint war.
Mir als kleinem Jungen ging erst mit den Jahren auf, dass damit unterschiedliche Liturgien, je nach Kirchenjahr und Anlass, gemeint waren. Mit ein wenig Erfahrung konnte man daran auch ablesen, wie lange der Gottesdienst wohl dauern, ob er mit Abendmahl oder ohne gefeiert würde, welche liturgischen Gemeindegesänge angesagt sind.
Der sächsische Landesbischof Tobias Bilz hat vor zwei Wochen im Interview mit der Sächsischen Zeitung ein ähnliches Prinzip für die Organisation der Christvespern zum Heiligen Abend vorgeschlagen: Gemeinden bräuchten neben einem Plan A dieses Jahr auch einen Plan B oder gar Plan C. Das war geschickt, weil es an die Erfahrung und die Kompetenz der Christ:innen anschließt. Schon immer wandeln sich die Liturgien der Kirche nicht allein im Laufe des Kirchenjahres, sondern natürlich auch aufgrund äußerer Einflüsse.
Von Nottaufen und WhatsApp-Andachten
Legendär ist das Formular für die Nottaufe in jedem Evangelischen Gesangbuch, mit dessen Hilfe ein:e jede:r Christ:in, wenn’s dringend wird, taufen kann. Auch Gebete für Sterbende und Sterbesegen sind im Gesangbuch zu finden. Sie stehen ganz hinten und werden, wenn alles normal zugeht, ignoriert. Aber was ist schon normal?
In diesem Jahr wird Weihnachten nicht normal sein. Nicht so begangen werden können, wie es sich viele Menschen angewöhnt haben. Aber das heißt nicht, dass die Kirche in dieser Situation nichts im Köcher hätte. Im Gegenteil: Zu den sehr alten, fast vergessenen Traditionen und Formularen treten in diesen Tagen neue Ideen, kreative Lösungen.
Derzeit wird innerhalb der Kirchen heftig um den richtigen Umgang mit den Christvespern am Heiligen Abend gestritten. Es gibt die einen, deren Plan A nach wie vor der Gottesdienst in einem Kirchgebäude ist, unter Hygienebestimmungen, die das Maskentragen zu jeder Zeit vorschreiben, Abstände definieren, Bankreihen absperren und den Gesang verbieten. Der Einbruch beim Gottesdienstbesuch in diesem Jahr zeigt es: Das sind keine Gottesdienste, die Freude ausstrahlen.
Offen und realistisch bleiben
Wichtiger als die Predigt sind vielen das Krippenspiel und die Weihnachtslieder, sie rufen Bilder der eigenen Kindheit und Träume einer friedlichen Welt auf. Wegen ihnen gehen so viele Menschen zum Heiligen Abend in die Kirchen, so um die 25 Millionen Menschen jedes Jahr im deutschsprachigen Raum.
Das wird in diesem Jahr so oder so anders sein. Große Festgottesdienste mit Chorgesang, Bläsern, „Stille Nacht“ und „O du fröhliche“ aus den Kehlen der Menschen, die sich in die Kirchenbänke quetschen, das wird es in Deutschland dieses Jahr nirgends geben. (Es sei denn an Orten, an denen sich Idioten wissentlich über die gesetzlichen Regeln und die eigenen Hygienekonzepte hinwegsetzen.) Die Debatte um die Absage aller Präsenzgottesdienste geht am Wesentlichen vorbei, denn sie bezieht sich auf das Traumbild von bis zum Rand gefüllten Kirchen, das wir aus den vergangenen Jahren kennen. Ich frage mich: Was soll denn eigentlich abgesagt werden?
Natürlich gibt es auch jetzt noch Gemeinden, die mittendrin in der Trauer über die Absage von Plan A sind. Aber die apodiktische Forderung nach dem „Lockdown der Kirche“, am besten noch „von oben“ verordnet, erwischt auch diejenigen, die sich mit viel Geschick und Kraftaufwand längst für Plan B und C engagiert haben. Es ist sehr verständlich, wenn man angesichts des Pandemiegeschehens, das uns nun schon so viele Monate begleitet und neue Fahrt aufgenommen hat, nervös und unsicher wird. Daraus Forderungen für alle Menschen und jeden Ort abzuleiten, ist insbesondere in den Sozialen Netzwerken gute Übung. Ärgerlich wird es dann, wenn es so an der Realität vorbeigeht.
Die Hälfte der Gottesdienst-Debatte geht auf das Konto: „Ich will aber auch geschlossen werden, weil bei uns richtig was los ist.“ Was für eine Kränkung, dass es bisher kaum oder gar nicht um die Kirche geht. Auch der neue „Harte Lockdown“ ist erkennbar davon motiviert, die Gefahr zu minimieren, die von den Familienweihnachten inkl. Verwandtenbesuchen ausgeht. Da ist „unser“ Fest in den Nachrichten, aber kein Hahn schreit nach der Institution, denken sich da Kirchenleute. Aber ist es wirklich unser Fest?
Weihnachtliche Vielfalt
Es wird zum Heiligen Abend (Stand heute) eine große Vielfalt unterschiedlicher Aktionen und, ja, auch Gottesdienstformate geben: Manche werden im Freien vor den Kirchen, auf Marktplätzen und in den Straßen kurze Andachten feiern. Und zwar nur dort, wo die Gesundheitsämter zustimmen und Hygienekonzepte vorhanden sind – und nur an Orten, an denen am 24. Dezember das Pandemiegeschehen so etwas auch zulässt. Das zu entscheiden, traue ich den Verantwortlichen vor Ort in Politik, Verwaltung und Kirche zu.
Viele Gemeinden werden ihre Kirchentüren aufmachen, so dass man auf einen kleinen Spaziergang bei der Krippe vorbeischauen kann, eine Kerze anzünden, die Lichter in sich aufnehmen, vielleicht sogar ein wenig Live-Musik hören oder eine kleine Stationen-Andacht erleben. Die Glocken sollten sowieso läuten.
Das ist dann der Heilige Abend 2020 in und um die Kirchengebäude.
Darüber hinaus haben sich viele Gemeinden und Kirchen digitale und analoge Formate überlegt, die Menschen direkt Zuhause erreichen: Es wird Fernseh- und Rundfunkgottesdienste geben und auf dem KIKA läuft ein Krippenspiel. Man kann auch alle „Sendungen mit der Maus“ von den Adventssonntagen nachholen, mit der herzlichen Weihnachtsgeschichte, die da erzählt wird. Gemeinden haben Audio- und Video-Andachten und -Gottesdienste vorbereitet. Und durch die (noch) dunklen Tage bis zum Fest begleiten so viele Adventskalender wie nie zuvor und viele weitere kreative Formate uns alle – am Pfarrhaus kann man jetzt wieder Segen abholen.
„Dieses Jahr ist alles anders“ verbieten
Die Fixierung auf die gewöhnliche Form der Christvesper tut der Kirche nicht gut. Sie blendet die Vielfalt der Aktionen aus, mit denen die Gemeinden ihre Mitglieder und Gäste durch den Advent begleiten – vielleicht so intensiv wie nie zuvor, da man sich nicht einfach auf Weihnachtsoratorium und Christvesper verlassen kann. Und die Konzentration auf das „was dieses Jahr nicht geht“ macht auch einfach keine gute Laune.
Der Satz „Dieses Jahr ist alles anders“ und jeglicher Verweis auf binnenkirchliche Einschränkungen wegen der Corona-Schutzbestimmungen gehören auf das Bullshit-Bingo zur Weihnachtspredigt. Nicht Kritik an den Umständen, sondern Konzentration auf das Wesentliche der Weihnacht brauchen wir.
Einige Ministerpräsidenten raten vom Besuch der Kirchen ab. Klar, es geht um Kontaktminimierung. Ich rate allen Weihnachts-Interessierten, dieses Jahr die paar Minuten mehr Aufwand zu betreiben und sich umzuschauen, was die Gemeinden vor Ort und die Medien an guten Sachen anzubieten haben. Das birgt natürlich auch die Gefahr der Enttäuschung in sich, aber vielleicht lassen wir uns doch noch überraschen?