Am Ende allein

Während der Corona-Pandemie sind allzu viele Geschichten unter den Tisch gefallen. Daniela Albert erzählt hier eine solche persönliche Geschichte aus ihrer Familie:

„Na, es wird wohl jetzt doch ernster als gedacht“, schoss es mir durch den Kopf, als ich an einem Märztag 2020 vom Supermarktparkplatz wegfuhr. Das Radio lief und ich hörte, wie unsere Nachbarländer nach und nach Maßnahmen einführten, um „das neuartige Coronavirus“, wie es damals noch genannt wurde, einzudämmen. „Man müsse diskutieren, ob Krankenhäuser und Altenheime noch Besucher empfangen dürfen“, sagte ein Sprecher.

Ich sah auf die Uhr. „Noch etwas über eine Stunde, bis die Kinder kommen“, dachte ich: „Das reicht!“ Statt der zweiten nahm ich die dritte Ausfahrt im Kreisel und wenige Minuten später stand ich auf dem Parkplatz der Geriatrischen Klinik, in der meine Oma seit einigen Tagen lag. Am Eingang wurde ich darüber belehrt, dass ich nur hineindürfe, wenn ich kein Fieber hätte und gebeten, meine Hände zu desinfizieren.

Ich fand meine Oma in ihrem Zimmer. Sie hatte sich bereits gut von der Infektion erholt, wegen der sie eingeliefert worden war und saß fröhlich am Tisch und wartete auf ihr Mittagessen. Ich gesellte mich dazu und erzählte ein bisschen von den Kindern, meinem Alltag und der Israelreise, von der mein Mann gerade zurückkam. Meine Oma erzählte nicht viel. Anders als im Seniorenheim, wo sie als geistig fitte und lebenslustige Frau noch viel erlebte, war der Krankenhausalltag trist.

Von ihren Einschränkungen – den Nachwirkungen eines Schlaganfalls und eine nicht mehr heilbare Krebserkrankung – ließ sie sich nie den Mut nehmen. Sie unternahm Ausflüge, betätigte sich künstlerisch, sang gern und war Heimbeirätin. Doch an diesem Tag war sie still. Ich schielte ab und zu auf die Uhr und lobte immer wieder den tollen Ausblick aus ihrem Fenster, mangels anderer Gesprächsthemen. Trotzdem blieb ich. „Wer weiß, wann wir uns das nächste Mal unterhalten können“, dachte ich.

Damals wusste ich nicht, dass wir das nie wieder tun würden.

Als meine Mutter am nächsten Tag zu ihr wollte, war das Krankenhaus bereits für Besucher gesperrt. Wir telefonierten stattdessen täglich abwechselnd mit meiner Oma und mussten feststellen, dass sie nicht wusste, was los war und warum keiner mehr kam. „Corona“, erklärten wir. „Eine Vorsichtsmaßnahme“. Wenn sie erst wieder im Heim wäre, ginge das bestimmt wieder.

„Habe ich euch etwas getan?“

Doch es ging nicht. Als sie wenige Tage später zurück dorthin kehrte, wurde sie erst einmal von allen anderen Bewohner:innen isoliert. Aus dieser Maßnahme – eigentlich zur Vorsicht nur für einige Tage angedacht, wurde in den nächsten Wochen Dauerisolation. Denn kaum durfte sie wieder mit anderen zusammen sein, gab es in ihrem Haus den ersten Fall. Sie erzählte mir am Telefon davon. Nun müsse sie wieder im Zimmer bleiben, sagte sie, aber zum Glück wohne vorübergehend eine andere Frau bei ihr. Sie würden viel schnuddeln, wie die Nordhessin sagt, wenn sie sich unterhält und ab und zu mal was im Fernsehen schauen.

In den darauffolgenden Wochen wurden die Telefongespräche mit ihr immer schwieriger. „Irgendwie versteht sie nicht, was los ist“, sagte mein Sohn einmal, nachdem er mit ihr gesprochen hatte. Nein, meine Oma, die sich Zeit ihres Lebens als Teil eines großen Clans gesehen hatte und die es gewohnt war, unter Menschen zu sein und von ihrer großen Familie mehrmals pro Woche besucht zu werden, verstand die Welt nicht mehr. Manchmal vergaß sie, dass wir nicht kommen durften. Niemand. Nicht ihre Kinder, nicht ihre fünf Enkel, nicht ihre drei Urenkel. „Warum nur“, fragte sie dann, „habe ich euch etwas getan?“

Ob sie verwirrt sei, erkundigte sich meine Tante beim Pflegepersonal. „Das Alter“, antworteten sie. Der Krebs. Die Isolation. Aber sonst sei alles gut.

Es ist eben nicht alles „gut“

An Ostern schoben die Pflegerinnen sie im Rollstuhl an das große Panoramafenster, sodass meine Eltern ihr winken konnten, als sie das Paket, das wir alle zusammen für sie gepackt hatten, an der Pforte abgaben. Gemeinsam feiern, den traditionellen Ostermarkt besuchen? All das blieb aus. Meine Mutter schickte uns ein paar Bilder von ihr am Fenster und meine Oma bedankte sich am Telefon für die schönen Sachen. Doch ihre Stimme klang anders. Schwach. Leise.

„Geht es ihr nicht gut“, fragte meine Mutter die Pflegerinnen. „Das Alter„, antworteten sie. Der Krebs. Die Isolation. Aber sonst sei alles gut.

An einem Tag im Mai war dann auf einmal nichts mehr gut. Der Hausarzt, der sie im Heim versorgte, rief bei meiner Mutter an. Ihre Blutwerte seien miserabel. Ihre Organe versagen. Sie muss ins Krankenhaus – und für ihre Rückkehr gäbe es keine Garantie. Ob sie kommen dürfte, fragte meine Mutter, nur kurz. „Nein“, war die Antwort.

Beim „Nein“ blieb es auch, als sie dann tatsächlich in die Klinik eingeliefert wurde. Meine Mutter gab Omas Sachen an der Pforte ab und wartete auf den Anruf der Ärztin. Es sei weniger schlimm, als auf den ersten Blick angenommen, sagte diese. Meine Oma kam doch noch einmal zurück ins Heim. Sie sei müde, sagten die Pflegerinnen, wenn meine Mutter fragte, warum sie nicht ans Telefon ginge. Und vom Bett aus schaffe sie es oft nicht, den Hörer zu erreichen. Das Alter. Der Krebs. Die Isolation. Aber sonst sei alles gut.

Endlich Lockerungen

Einige Tage später gab es erste Lockerungen, was Besuche in Pflegeheimen anging. Angehörige konnten nun einmal die Woche für eine Stunde kommen. Die Besuche fanden im Aufenthaltsraum statt, mit Masken. Durch Plexiglas getrennt. Meine Mutter und meine Tante wechselten sich wochenweise ab, denn nur eine Person durfte kommen. Doch die angedachte Stunde verbrachten sie nie dort. Meine Oma schaffte das nicht mehr. Sie war zu müde, um so lange im Rollstuhl zu sitzen. Spätestens nach einer halben Stunde bat sie darum, wieder in ihr Zimmer gebracht zu werden.

An einem Tag im Juni meldete sich der Arzt wieder. Nun seien wirklich die letzten Tage gekommen, sagte er. Das Alter. Der Krebs. Die Isolation. Ob sie kommen dürfe, fragte meine Mutter. Ja, Sterbende dürfen besucht werden, hieß es nun. Aber nur von einer Person.

Meine Oma hatte drei Kinder. Fünf Enkel. Drei Urenkel. Einen Bruder. Nichten und Neffen. Freundinnen. Alle liebten sie und besuchten sie früher regelmäßig. Wer sollte in den letzten Stunden ihre Hand halten – und wem blieb der Abschied verwehrt?

„Das geht so nicht“, sagte meine Mutter zur Heimleiterin, „sie muss zumindest alle ihre Kinder noch einmal sehen dürfen“. „Die Regeln sind nicht eindeutig“, sagte diese, „irgendwie blickt keiner durch, was erlaubt ist. Nun liegt es in meinem Ermessen, was ich zulasse“. Sie überlegte kurz und rang mit sich. „Sagen sie ihren Geschwistern und den Enkeln Bescheid, dass sie kommen dürfen“, sagte sie dann.

Unerzählte Geschichten

Ich weiß, dass unsere Geschichte an dieser Stelle eine gute Wendung nahm, die vielen anderen Familien verwehrt blieb. Ich verabschiedete mich zusammen mit meiner Cousine an einem warmen Junisonntag von meiner Oma und sie verließ diese Welt im Kreise ihrer drei Kinder vierundzwanzig Stunden später.

Ein reiches Leben ging zu Ende. Eins, dass sie größtenteils eingebettet in einen großen, wuseligen Clan verbracht hat. Eins, in dem sie viele Tiefschläge ertragen musste und sich nie den Lebensmut nehmen ließ. Eins, in dem sie viele Freund:innen hatte. Eins, in dem sie kochte und buk, pflanzte, Kinder großzog und ihre Alten pflegte. Eins, in dem sie gern sang und bis ins hohe Alter neue Dinge lernte. Und eins, in dem diese fröhliche, gesellige und in einer großen Gemeinschaft gehaltene Frau die letzten Monate ihres Lebens allein verbringen musste. Eine Frau, die ihr Leben lang das Prinzip des offenen Wohnzimmers gelebt hatte, beendete ihr Leben hinter verschlossenen Türen.

Ich erzähle diese Geschichte nicht, um den Lockdown generell in Frage zu stellen und ich wünsche mir dafür keinen Applaus derer, die sowieso finden, dass wir auf dem Weg in eine unmenschliche „Corona-Diktatur“ sind. Ich erzähle sie, weil sie eine von vielen traurigen Geschichten ist, die in dieser Pandemie bisher unerzählt blieben.

Doch wir dürfen nicht vergessen, dass auch solche Dinge viele Male vorkamen in einer Zeit, in der Verantwortliche ihr Bestes gaben und doch oft hilflos waren. Ich erzähle sie, weil wir diese Krise irgendwann aufarbeiten und uns dann schmerzhaften Fragen werden stellen müssen. Fragen danach, was verhältnismäßig war – und wo wir heute anders entscheiden würden.

Keine endgültigen Antworten

Meine Familie und ich, wir haben keine endgültige Antwort auf diese Fragen und vielleicht werden wir sie nie haben. Wir klagen nicht an und haben unseren Frieden mit dem gemacht, was nun einmal war. Mit ihrer Einsamkeit und ihrem Sterben. Mit den kostbaren gemeinsamen Monaten, die uns genommen wurden.

Mit dem nicht gefeierten letzten Osterfest. Mit den Kindergeburtstagen. Mit den nicht unternommenen Spaziergängen. Ja – und auch mit ihrer Trauerfeier, zu der sicher normalerweise gern viel mehr Menschen gekommen wären. Selbst mit dem unmenschlichen Anspruch, sich als engste Angehörige am Grab nicht umarmen zu dürfen. Mit all den Kleinigkeiten, die an so einem Infektionsschutzgesetz dranhängen und von denen man nur erfährt, wenn man selbst betroffen ist.

Unter den Tisch fallen darf all das trotzdem nicht. Bei all den Nachwirkungen dieser Pandemie, die uns noch Jahre beschäftigen werden, müssen auch die Geschichten derer erzählt werden, die das selbst nicht mehr können.

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