Rezension „Für euch würde ich kämpfen“

Wenn der Krieg vor der Tür steht

Artur Weigandt schreibt über seine Abkehr vom Pazifismus. Für wen oder was wären wir im Extremfall bereit zu kämpfen? Ein Buch gegen Strategiespielereien in vermeintlicher Sicherheit.

Es war kurz nach Ostern dieses Jahres in Prag, als mir Artur Weigandt beim Essen in einem usbekischen Restaurant mitteilte, dass er an einem neuen Buch schreibt. Ein Buch über den Krieg, gegen den naiven Pazifismus linker Intellektueller. Ich erinnere mich, dass ich einerseits froh war, dass man mit einem solchen Schreibauftrag gerade an Artur herangetreten war. Und dass ich andererseits auch ein bisschen nervös war, wie das Ergebnis ausfällt.

Denn wenn jemand mit der Thematik des russischen Kriegs gegen die Ukraine und den entsprechenden Debatten so verflochten ist wie Artur, kann das Vorteil oder Nachteil sein. Fehlt ihm am Ende vielleicht doch der Abstand, um ein Abgleiten in fruchtlose Polemik zu vermeiden? Nach der Lektüre des Buches ist diese Befürchtung zerstreut. Artur Weigandt hat ein auch für mich in vielem überraschendes Buch geschrieben, hat einige aus meiner Sicht glückliche Entscheidungen getroffen.

Zunächst einmal ist das Buch kein argumentierender Text im eigentlichen Sinne. Artur Weigandt möchte offensichtlich lieber erzählen als überreden. Wer sich eine philosophische Auseinandersetzung mit den klassischen Standpunkten und inneren Widersprüchen des Pazifismus erwartet, wird wohl enttäuscht werden. Ebenso, wer sich einen Fundus historischer Beispiele erhofft, wo überall der pazifistische Idealismus im Unrecht war und eine robuste Verteidigungspolitik den Frieden befördert hat. Artur vergegenwärtigt uns erzählend, was der Krieg in der Ukraine bedeutet, um uns dann eigene Schlüsse ziehen zu lassen.

Literatur im „Maschinengewehr-Stil“

Pate für diese Literatur steht Erich Maria Remarque, dessen literarisches Vorbild Artur an einer zentralen Stelle aufruft. Nicht als Denkmal des Pazifisten oder moralische Instanz, sondern als jemand, der „den Schaden, den Gewalt im Menschen hinterlässt“ (S. 116), beschrieben hat und darüber zum „Realist mit gebrochenem Herzen“ (S. 117) geworden ist. Wie bei Remarque wird man auch Artur Weigandt nicht gerecht, wenn man den literarischen Charakter seiner Texte verkennt.

Es mag beispielsweise sein, dass ein Soldat mit dem Kampfnamen Hyäne in Wirklichkeit Krähe heißt und der besuchte Frontabschnitt ein paar hundert Kilometer weiter westlich liegt. Es wäre von Artur sogar zu erwarten, dass er das Vertrauen seiner Kontakte nicht kriegspornografisch ausschlachtet, sondern sie mit einem gewissen Grad an Literarisierung schützt. Seine persönlichen Begegnungen mit dem Schaden, den Krieg und Gewalt im Menschen hinterlassen, sind über den Zweifel erhaben. Und er will uns als Menschen im noch vergleichsweise friedlichen Westeuropa davon erzählen.

Artur nimmt also uns Leserinnen und Leser, die wir aus verschiedenen Gründen dazu keine Gelegenheit haben, mit auf die Reise zur Front, um die Kluft des Erlebens zwischen Westeuropa und Osteuropa ein Stück weit zu überbrücken. Auf dem Weg begegnen uns verschiedene Personen: Bundeswehrsoldaten und ehrenamtliche Helfer im Krankenhaus, ukrainische Frontkämpfer, Busfahrer und Journalistinnen. Unterwegs entfernt sich Artur immer weiter von seiner eigenen Vergangenheit als pazifistischer Student.

Es sind die Rückblicke in die Zeit als linker Frankfurter Student, die mich literarisch am wenigsten überzeugt haben. Der Sound linker Diskussionen scheint nicht immer präzise getroffen. Das mag daran liegen, dass Artur Weigandt sich mittlerweile eben tatsächlich sehr weit von dieser Denkwelt und Sprache entfernt hat. Die Soldaten mit ihrem lakonischen Slang sind seinem hauptsatzlastigen „Maschinengewehr-Stil“ spürbar näher.

Vielleicht war er als Russlanddeutscher mit kasachischem Migrationshintergrund und „postsowjetischer Belastungsstörung“ (Ira Peter) auch immer schon ein Stück weit immunisiert gegen die selbstgerechte Moralistik linker Bildungsbürgersöhne. Hätten wir in Prag noch länger geredet, dann hätte ich ihm mit meinem Verweigerungsschreiben ganz wundervolles Phrasenmaterial anbieten können …

Strategiespiele in Sicherheit

Trotzdem wird deutlich, wovon Artur Weigandt sich auch biografisch abgrenzt: Eine letztlich ideologisch-unernste, bis zum Zynismus distanzierte Art und Weise, über Krieg und Pazifismus zu debattieren: Geopolitische Strategiespiele in einer Welt, die von Godzilla-ähnlichen Wesen mit Namen wie NATO, Kapitalismus, Westen oder Russland bevölkert wird. Entitäten mit eigenen Interessen und Ängsten, die sich ausbreiten wollen oder müssen, letztlich alle gleich unmoralisch handeln und sich um das individuelle Menschenschicksal nicht scheren.

Wer sich auf dieser Ebene zu Fragen von Krieg und Frieden verhält, hat für Artur etwas Entscheidendes nicht begriffen. Denn von dem Moment an, wenn die ersten Schüsse fallen und die Raketen auf Städte regnen, schafft die Gewalt Fakten, die sich durch das Hin- und Herwenden von Argumenten nicht mehr rückgängig machen lassen. Es mag sein, dass die Gewalt sich irgendwann müdegetobt hat. Die zerfetzten Körper, die einmal Menschen waren, werden davon nicht mehr lebendig. Und auch denen, die ihre Haut nur durch Unterwerfung und Aufgabe ihrer kulturellen Identität retten konnten, ist damit nicht geholfen.

Die Abkehr von der beobachtenden Draufsicht kann leicht ins Gegenteil der Schützengraben-Romantik kippen. Allerdings hält sich Artur Weigandt weitgehend fern von Heroismus und Pathos. Nicht zuletzt die Soldaten, die er zu Wort kommen lässt, vertreten größtenteils ein nüchternes, ja handwerkliches Verhältnis zum Krieg. Anklänge an Ernst Jüngers heroischen Realismus sind nicht von ungefähr dort am deutlichsten zu erkennen, wo sich eine Frau und Mutter am Bahnsteig von ihrem Ehemann verabschieden muss.

Wer sich vor einem Rückfall in dunkeldeutsche Kriegsbegeisterung und Militärverherrlichung fürchtet, kann also beruhigt sein. Menschliche Beziehung, ja auch familiären Alltag angesichts des Krieges durchzuhalten erscheint als das eigentliche Heldentum – nicht die Verwirklichung von Kriegertugenden des Pflichtgehorsams, der Tapferkeit und Todesverachtung. Artur Weigandt schreibt mit viel Empathie und durchaus heiligem Eifer an gegen das kalte Lächeln aller Ideologen, die uns erklären wollen, dass gewisse Härten eben ausgehalten werden müssen, dass man sich nicht von Kinderaugen erpressen lassen darf. Ob bei der Abschiebung von Geflüchteten, bei der Sicherung der europäischen Außengrenzen oder eben der vermeintlich pazifistischen Preisgabe der Ukraine.

Eine solche Unmenschlichkeit der Prinzipien lässt sich gesinnungsethisch ebenso wie verantwortungsethisch ausleben. Jenseits solcher abgegriffenen Alternativen versucht Artur eine narrative Ethik der Personalität anzubieten. Die Literatur soll uns mit Menschen konfrontieren, vor denen wir unsere Positionen, unser Handeln oder Nicht-Handeln zu verantworten haben. An denen wir eben auch mit unserer Untätigkeit schuldig werden.

Wenn der Krieg vor der Tür steht

Es liegt – so Artur Weigandts Grundüberzeugung – ein großes Privileg darin, Krieg und Frieden als abstrakte Alternativen debattieren zu können. In diesem luftleeren Debattenraum kann man vorzüglich die eigenen Prinzipien vor Einwänden abschirmen und die scheinbar richtigen Antworten auf die falschen Fragen geben. Aber wenn der Krieg vor der Tür steht, dann gibt es dieses Privileg nicht mehr. Dann stellen sich Fragen wie: Kann ich wirklich damit leben, dass andere für mich sterben? Und wenn ich meine Mitbürger schon nicht als Soldat verteidigen will, was kann ich dann gegen den Krieg tun?

Artur Weigandt will solche Fragen nicht für seine Leserinnen und Leser beantworten. Er kann sie nur auf seinen Denkweg mitnehmen und dazu bringen, durch all ihre Prinzipien hindurch auch auf die Menschen in der Ukraine, in Osteuropa und im eigenen Land zu sehen. Menschen, für die wir als Nächste verantwortlich sind und denen wir Rechenschaft schulden, auch wenn wir ihnen niemals begegnen werden. Es soll nur angemerkt werden, dass das durchaus jesuanisch ist.

Aus all dem leitet sich folglich keine zwingende Befürwortung von Waffenlieferungen, Aufrüstung oder Wehrpflicht ab. Auch geht es Artur Weigandt nicht um eine pauschale Abkehr von linker Politik. Doch man sollte mit ihm allen Linken misstrauen, die ihre Aufgabe heute vor allem darin sehen, die noch immer gravierenden Unterschiede zwischen der Diktatur Russland, der EU und den Vereinigten Staaten zu verwischen, die Staaten wie die Ukraine mit all ihren Bewohnern nur als Erbmasse der Sowjetunion betrachten, die Wehrpflicht und militärische Verteidigung gegen einen Angriffskrieg kategorisch verurteilen, aber Gewalt gegen deutsche Bundespolizisten oder das Abschlachten von Juden durch die Hamas für legitimen Widerstand halten, die zwar unter wehenden Fahnen für ihre Vision des Kommunismus in den Kampf ziehen würden, aber nicht für das Leben der Mitbürgerinnen, die ihre Supermarktregale bestücken und ihren Müll abtransportieren.

Pazifismus nicht zerreden

Der radikal gewaltlose Widerstand gegen übermächtige Gewalt behält für Christinnen und Christen eine besondere Erhabenheit. Gerade in militarisierten Gesellschaften wie Russland oder Belarus, auch in den waffenbegeisterten USA kann er kraftvolles Zeugnis für den Frieden sein. Wir sollten ihn nicht geringschätzen oder zerreden.

Doch wir dürfen auch nicht die Augen davor verschließen, dass gewaltloser Protest oft die Bereitschaft zu Leid oder gar Martyrium voraussetzt. Diese Bereitschaft ganzen Völkern zuzumuten, ist zynisch und eigentlich nur durchzuhalten, wenn man sich durch Abstraktionen vor dem Mitgefühl schützt. Artur Weigandts Erzählungen machen uns diese Distanzierung schwer, indem sie zeigen, statt zu überreden – und deshalb bedeutet seine Nähe hier keinen Mangel an journalistischer Distanz, sondern ist ein Gewinn.

Frieden hat einen Preis und Haltung braucht mehr als Worte. In jedem Fall sollten wir uns auch im friedlichen Westeuropa fragen: Für wen oder was wären wir im Extremfall auch bereit zu kämpfen? Wie weit wollen wir dabei gehen? Und können wir damit leben, wenn andere für uns sterben? Müssen wir nicht doch mehr für den Frieden tun, als ehrwürdige Prinzipien der Gewaltlosigkeit vor uns herzutragen? Die Lektüre von Arturs Buch hat mir gezeigt, wie stark sich meine Antworten in den letzten Jahren schon verändert haben.


Artur Weigandt
Für euch würde ich kämpfen
Mein Bruch mit dem Pazifismus,
C.H. Beck 2025
208 Seiten
18,00 €


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