Auf Kriegsfuß mit den Zehn Geboten

Die Zehn Gebote als Plakat im Klassenzimmer und selektive Gebotserfüllung kirchlicher Verantwortungsträger. Was die US-amerikanische christliche Rechte mit deutschen Bischöfen gemein hat: Ein Kommentar.

Der Senat des US-Bundesstaates Texas hat am Donnerstag dieser Woche beschlossen, dass in Klassenzimmern staatlicher Schulen eine gut sichtbare Kopie der Zehn Gebote ausgehangen werden soll. Der Beschluss liegt nun dem Repräsentantenhaus des Bundesstaates zur Beratung vor. Sollte auch dort eine Mehrheit der Abgeordneten für das Gesetzesvorhaben stimmen, müssten in allen texanischen Klassenzimmern allgemeinbildender Schulen in staatlicher Trägerschaft mindestens gerahmte Plakate der Zehn Gebote aufgehangen werden. Sogar die Schriftgröße wird vom Gesetzestext vorgegeben, damit auch wirklich alle Schüler:innen die in Stein gemeißelten Weisungen Gottes vor Augen haben.

Eingebracht wurde das Gesetzesvorhaben von Senator Phil King, der dem texanischen Senat seit diesem Jahr angehört. Seit 1999 war er zuvor Mitglied des texanischen Repräsentatenhauses. King ist Vorsitzender des Texas Conservative Coalition Research Institute und Mitglied des Direktoriums des American Legislative Exchange Council. Einem Gremium, das dem bundesstaatenübergreifenden Austausch von republikanischen Abgeordneten dient. Der Absolvent zweier Hochschulen in kirchlicher Trägerschaft war fünfzehn Jahre lang Polizeibeamter und besucht gemeinsam mit seiner Familie seit vielen Jahren die Trinity Bible Church. Er und seine Frau Terry sind außerdem „stolze Eltern von sechs Kindern und Großeltern von siebzehn Enkelkindern“.

Mich erinnert Kings Ansinnen zunächst an die Kindheitserinnerungen von Clarence Thomas, seines Zeichens Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten und derzeit in einen massiven Korruptionsskandal verwickelt. Aus armen Verhältnissen stammend wuchs er große Teile seiner Kindheit im Haushalt seiner Großeltern Myers and Christine Anderson auf. Seinen Großvater bezeichnet Thomas immer wieder als größte Inspiration seines Lebens. Myers Anderson war weitgehend ungebildet, aber fleißig, und unterrichtete seinen Enkel, als dieser bei ihm Unterschlupf fand, er könne ihn nichts lehren „except by example“: „Just watch“.

Gebotsverehrung als Premium-Bullshit

Die Zehn Gebote erfreuten sich bekanntlich schon bei ihrer ersten Veröffentlichung keiner großen Beliebtheit. Dass sie bis auf den heutigen Tag den Grundstein des Ethos der drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam bilden, bedeutet nicht, dass sie einfach einzuhalten oder zu lehren wären. Die Lehr- und Bekenntnisschriften der Religionen bemühen sich deshalb seit Jahrhunderten darum, sie zu erläutern, zu erweitern und auszulegen. Einfacher hat das gleichwohl nichts gemacht. Die unterschiedlichen Religionen und Konfessionen sind sich ja noch nicht einmal einig, was die Zählung der Gebote angeht. Leading by example („mit gutem Beispiel vorangehen“) immerhin verspricht, dass bei der Gebotsvermittlung nicht unnötig Porzellan zertrümmert wird. Wer könnte etwas gegen Gläubige haben, die ihr Gott- und Weltverhältnis nach den Zehn Geboten gestalten? Eben.

Was die texanische Gesetzesinitiative angeht, rückt natürlich zunächst das Gebot „Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen“ in den Fokus des Interesses. Denn natürlich verfolgen Senator King und seine Kollegen mit ihrem Vorhaben eine culture war-Agenda, in der christlicher Fundamentalismus und regional- und nationalchauvinistische Motive verschmelzen. Die Zehn Gebote seien, so King, Teil des „amerikanischen Erbes“, sie würden die Schüler:innen an die „grundlegende Grundlage Amerikas“ erinnern. Ein Senatorenkollege verspricht sich von den Gebotsaushängen, den Kindern würde durch sie „ermöglicht bessere Texaner zu werden“.

Gefeiert werden solcherlei Gesetzesvorhaben von einer christlichen Rechten, die sie als Fortschritte bei der Verwirklichung von Religionsfreiheit framed. Das es sich dabei um Premium-Bullshit handelt, wird schon allein dadurch deutlich, dass jüdische und muslimische Perspektiven auf die Zehn Gebote aus dem von der republikanischen Partei gesetzten Rahmen fallen. Die Zehn Gebote sind zunächst einmal ein Erbe des Ersten Testaments, das Christ:innen in großer Demut mit ihren jüdischen Geschwistern teilen sollten.

Ein doppeltes Übel: Selektive Gebotserfüllung

Doch warum sollte uns in Deutschland diese neue Episode des US-Kulturkampfs interessieren? Markus Söder wird doch hoffentlich nicht auf dumme Ideen kommen, und nach dem „Kreuzerlass“ von 2018 nun auch noch das Plakatieren mit den Zehn Geboten anweisen? Nein, die Gebote und ihre (Nicht-)Erfüllung sind für die Christ:innen hierzulande in diesen Tagen aus anderem Grund relevant:

Bis heute sanktioniert das römisch-katholische Kirchenrecht sexualisierte Gewalt gegenüber Minderjährigen als „Vergehen gegen das 6. Gebot“ („Du sollst nicht die Ehe brechen.“). Das ist für sich genommen schon skandalös, weil so vor allem das Heil des Täters im Fokus steht, nicht das Schicksal des Opfers. Daran ändert auch die kirchenrechliche Maximalstrafe, die Entlassung aus dem Klerikerstand, nichts. Gegen eine konsequente Bestrafung von Missbrauchstätern, selbst wenn sie auf Grundlage defizitärer Kirchengesetze erfolgte, hätte wohl trotzdem kaum jemand etwas einzuwenden. Zumal ja das staatliche Recht in Missbrauchsfällen aufgrund offenbar unumstößlicher Verjährungsfristen viel zu häufig ausfällt.

Doppelt übel wird es dann, wenn das Kirchengesetz nicht einmal zur Anwendung kommt oder – wie im Falle des ehemaligen Freiburger Erzbischofs Robert Zollitsch –  höchst selektiv und darum zynisch zum Maßstab des Kirchenregiments genommen wird. Im der am Dienstag dieser Woche veröffentlichten Freiburger Missbrauchsuntersuchung wird Zollitsch bescheinigt, dass er offensichtlich der Ansicht war, „einvernehmliche sexuelle Verhältnisse seien strafverfolgungs­würdiger als der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen“, weil er Zölibatsverstöße von Priestern, die mit einer erwachsenen Frau verkehrten, nach Rom meldete, Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen über Jahre hinweg trotz entsprechender Maßgabe des Vatikans aber konsequent nicht.

Stattdessen betätigte sich Zollitsch als Erzbischof und zuvor als Personalchef des Freiburger Erzbistums als fleißiger Vertuscher von Verdachtsfällen und Täterschützer. Julia Sander, Sprecherin des örtlichen Betroffenenbeirats, kommentierte die am Dienstag veröffentlichten Untersuchungsergebnisse dahingehend, Zollitsch habe in seinen Leitungspositionen „mehr Kinderleid verursacht und mehr Biographien nachhaltig negativ geprägt, als es ein einzelner Täter je geschafft habe“.

Leading by example

Wer an Zollitsch und seine Kollegen auf dem kirchlichen Handlungsfeld der Missbrauchsvertuschung denkt, mag sich an das nach katholischer Zählung siebte Gebot erinnert fühlen: „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.“ Doch ging es den „Brüdern im Nebel“ niemals nur – bei freundlicher Lesart: vor allem – um den Schutz der Täter, sondern um den Schutz der Kirche vor schlechten Schlagzeilen, vor Ansehensverlust, vor Läuterung. Missbrauchsvertuschung ist darum wohl am besten als Verstoß gegen das erste Gebot – „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ – zu verstehen. Dort wo eine Institution an die Stelle Gottes tritt – und sei es auch die heilige römische Kirche – verfehlt sich der Mensch.

Dem Wiederaufleben des christlichen Nationalismus in den USA steht übrigens ein anhaltendes Schrumpfen aller christlicher Kirchen im Lande gegenüber. Der US-Kulturkampf ist insofern auch als ein Symptom einer sich zunehmend säkularisierenden Gesellschaft zu verstehen. Es steht zu vermuten, dass nicht wenige Christ:innen den identitären Chauvinismus einfach abstoßend finden, der den Rassismus und Frauenhass sowie die LGBTQI-Feindschaft der christlichen Rechten ohnehin kaum zu überdecken vermag.

Auch hierzulande braucht sich die Kirche als ökumenische Seilschaft auf ihrem Abstieg von den Höhen der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit nicht über Ansehensverlust und Relevanzvakanz beschweren, solange sie nicht mit guten Beispiel voran geht, was die Umsetzung des eigenen Ethos angeht. Von den Missbrauchsbetroffenen und dem Chor der Enttäuschten, die oftmals viel mehr von der Kirche erhoffen, als diese zu geben bereit scheint, muss die Institution Kirche lernen.


Alle Eule-Beiträge zum Themenschwerpunkt „Missbrauch in den Kirchen“.