Augenöffner*in – Die #LaTdH vom 14. Juni
#BlackLivesMatter mutet der Kirche einen radikalen Perspektivenwechsel zu. Außerdem: Corona-Praxis, Geschlechtergerechtigkeit und ein sympathischer Konvertit.
The World as 100 Christians – Gina A. Zurlo (Gordon Conwell Theological Seminary)
Gina Zurlo (@gina_zurlo) hat Datenerhebungen über die 2,5 Milliarden Christ*innen auf der Erde in einer übersichtlichen Grafik zusammengefasst. Der Trick: Statt mit großen, unüberschaubaren Zahlen zu rechnen, brechen sie und ihre Mitarbeiter*innen die Erkenntnisse auf eine angenommene Gruppe von 100 Christ*innen herunter.
Wenn 100 Menschen für alle Christ*innen der Welt stehen, dann sprechen nur 2 von ihnen Deutsch, leben 23 in Europa, sind nur 10 von ihnen über 64 Jahre alt und 47 haben keinen Zugang zum Internet. Ein wunderbares Tool, um die eigene Perspektive gerade zu rücken.
The make up of world Christianity if it were just 100 Christians. Mostly urban; Africans; 11 live in countries with high gender inequality; 79 live in moderate-high corrupt countries; 47 have no Internet access and will never see this graph. @CSGC #WCE3atGCTS pic.twitter.com/sdfMZJF5ES
— Gina Zurlo, Ph.D. (@gina_zurlo) February 16, 2020
Debatte
Höflichkeit hilft nicht mehr – Anthony G. Reddie (taz)
Die taz bringt die Übersetzung eines Textes von Anthony G. Reddie. Der schwarze Theologe aus Großbritannien erklärt warum Protestformen wie das Entfernen von Kolonialherren-Statuen legitim und notwendig sind. Sein Artikel zeugt auch von der Verzweiflung, die sich bei Schwarzen Menschen ob der Ignoranz und Untätigkeit der weißen Mehrheitsgesellschaft ausgebreitet hat.
Einige von uns haben ganz einfach genug von der Heuchelei der Weißen und dem plötzlichen Interesse an unseren Belangen, nachdem sie sich in all den Jahren so gut wie gar nicht dafür interessiert haben.
Systemischer Rassismus beginnt nicht mit dem Tod von George Floyd und wird auch nicht enden, nur weil Weiße Menschen überwältigt von liberalen Schuldgefühlen die Hände ringen, uns erzählen, wie leid ihnen das mit dem Rassismus tut, der unser Leben zerstört – nicht das ihre!
Einige von uns werden weiterkämpfen, aber wir sind müde und noch viel wütender, als ihr euch vorstellen könnt. Also wagt es bitte nicht, uns zu erzählen, wie wir uns verhalten sollen, denn wenn wir nach euren Höflichkeitsregeln gespielt haben, dann hat euch das einen Dreck gekümmert!
Instead of „We Can No Longer Be Silent“, try „We Got It Wrong“ – Marc Antoine Lavarin (Sojourners, englisch)
Im US-Glaubens-Magazin Sojourners schreibt Marc Antoine Lavarin aus seiner Perspektive als schwarzer Geistlicher an die neuen weißen Kampfgefährt*innen. Ohne eine kritische Reflexion der eigenen – auch theologischen – Verstrickung in den Rassismus, bleibt die emphatisch geäußerte Solidarität mit #BlackLivesMatter hohl, meint Lavarin.
Er empfiehlt seinen weißen Geschwistern statt „Wir können nicht länger schweigen“ das Eingeständnis „Wir haben gefehlt“ – und zwar durchaus in dieser soteriologischen, nicht allein in epistemologischer Dimension. (Wesentlich weniger eloquent habe ich ähnliche Gedanken gestern hier in der Eule formuliert.)
“How come is everything white?” Muhammad Ali, 1971 pic.twitter.com/fYLklVjFkc
— Vala Afshar (@ValaAfshar) June 9, 2020
Jesus Was Divisive: A Black Pastor’s Message To White Christians – Interview mit Lenny Duncan (NPR, englisch)
Ein ausführliches Interview in englischer Sprache mit dem schwarzen Pastor Lenny Duncan aus der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Amerika (ELCA). Die liberal-lutherische Partnerkirche der EKD ist eine der weißestens Kirchen des Landes. Im Interview zu einem Buch von ihm beschreibt Duncan auch die Versäumnisse der „Mainline“-Kirchen bei der Aufarbeitung und Bekämpfung des Rassismus.
I believe that the Evangelical Lutheran Church in America wants to be better. They just don’t know how. One of the things that we often underestimate with the power of white supremacy is that the people who are the sickest from it, often do not know that they are infected with it. They can’t recognize the cage around me as a black, queer person in this country, and they can’t see the gilded one around themselves.
Was tun?
Angesichts der #BlackLivesMatter-Bewegung fragen sich viele Christ*innen in Deutschland, was sie tun können, um (strukturellen) Rassismus in Gesellschaft und Kirche zu bekämpfen. Einspruch erheben, wenn Unrecht geschieht, wenn eine Familie mit Migrationshintergrund von Vermieter*innen diskriminiert wird, wenn in Schulen und Kirchgemeinden People of Color ausgeschlossen werden, wenn hinter ihrem Rücken schlecht über sie geredet wird.
Und sonst? Sicher kann man im Bereich der schulischen und gemeindlichen Bildungsarbeit noch mehr unternehmen, aber mehr noch als um Awareness geht es um wirkliche Gerechtigkeit und Teilhabe. Ein paar Vorschläge für konkretes kirchliches Handeln hat Lukas Pellio (@lulouk) auf Twitter gemacht. Und dann wäre da noch das hier:
Unsere letzte #Landessynode der @kirchehannovers hat entschieden, sich mit dem Missionsbegriff und der eigenen Missionsgeschichte zu beschäftigen. Auch das ist Teil davon, sich mit #Rassismus in Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen – und dabei bei sich anzufangen! #blm
— Julia Schönbeck (@schaumbuergerin) June 13, 2020
nachgefasst
Kirche & Corona I: Praktisches
Maskenpflicht könnte Zehntausende Infektionen verhindert haben (SPIEGEL)
Einige neue Studien zeigen, dass die Maskenpflicht wohl einen erheblichen Anteil beim Zurückdrängen der Corona-Pandemie spielt. Weil sich Aerosole auch in diesen Erhebungen als der vorherrschende Übertragungsweg des Virus‘ erwiesen haben, lassen sich vorsichtige Annahmen über die notwendigen Schutzvorkehrungen treffen, die uns wohl bis zur erfolgreichen Entwicklung eines Impfstoffes begleiten werden.
Demnach sind Veranstaltungen in geschlossenen Räumen eine große Gefahrenquelle, weil sich Aerosole dort lange in der Luft halten. Masken verhindern jedoch zu einem gewissen Teil, dass diese in die Luft gelangen und von dort wieder eingeatmet werden. Konsequente Maskenpflicht in Schulen und auch Kirchengemeinden scheint darum angeraten. Demgegenüber fallen andere Sicherheitsvorkehrungen wie die Desinfektion anscheinend deutlich weniger ins Gewicht.
Rückverfolgbarkeit bei Gottesdiensten: So geht es rechtskonform – Felix Neumann (katholisch.de)
Der Datenschutz-Aficionado und -Kenner unter den Kirchenjournalisten des Landes, Felix Neumann (@fxneumann) von katholisch.de, berichtet über die neuesten Datenschutzhürden bei der Nachverfolgung möglicher Infektionen durch Teilnehmer*innen-Listen („Listen retten Leben“, s. #LaTdH von letzter Woche) und weist auf die vom Juristen Alexander Golland kostenlos zur Verfügung gestellten kirchendatenschutzkonformen Formulare hin.
Kirche & Corona II: Diskursives
„Gottvertrauen wird unter den Tisch gekehrt – Interview mit Olivia Mitscherlich-Schönherr (DLF)
Andreas Main (@mainycon) spricht im Deutschlandfunk ausführlich mit der Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr von der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München (@hfph_muc) über die Krisenbewältigung der Theologie. Allemal hörenswert, auch wenn sich die Frage aufdrängt, wie fruchtbar ihr kreatives Philosophieren erst wäre, wenn es sich irgendwie an dem orientierte, was Christ*innen in den vergangenen Monaten tatsächlich auch erlebt haben:
Nämlich Haupt- und Ehrenamtliche, die ihrerseits mit viel Kreativität und Schaffenslust sowohl durch neue analoge und digitale Verkündigungsformate als auch im persönlichen Gespräch per Telefon und Internet bei den Menschen geblieben sind. Dass so neben der eigenen, eingestandenen Hilfs- und Ratlosigkeit auch viel Gottvertrauen untereinander kommuniziert wurde, ist eigentlich evident, auch wenn manche dem Kirchenbetrieb enthobene Kritiker*innengestalt sich die Mühe des Hinschauens nicht macht.
Wer redet, wenn „die Kirche“ redet? – Heike Springhart (zeitzeichen.net, Cursor_)
Eine fundierte und differenzierte Kritik der Kritik am kommunikativen Kirchenhandeln hat die systematische Theologin und Pfarrerin Heike Springhart (@SHeikeli) bei zeitzeichen.net und im Magazin für explorative Theologie CURSOR_ aufgeschrieben. Ein lesenswerter Meta-Beitrag, an dem vorbei die weitere Auswertung von gelungenem, gescheitertem und versäumtem Reden und Schweigen der Kirchen in der Corona-Krise nicht geführt werden sollte. Andernfalls werden wir uns da weiter im Kreis drehen.
Sie [die Kirchen] haben Menschen getröstet und andere Menschen irritiert oder gar enttäuscht. Sie haben sich eingelassen darauf, dass sie wie alle anderen auch eher tastend als vollmundig deklarierend unterwegs waren. Nur eines haben sie ganz sicher nicht: geschwiegen.
Buntes
Nichts wird wieder wie es war und genau darin liegt die Chance. Über (digitale) Kirche in Zeiten von Corona. – Tobias Faix (tobiasfaix.de)
Kirchenforscher Tobias Faix (@tobiasfaix) hat auf seinem Blog die #digitaleKirche-Erfahrungen der Corona-Krise zusammengefasst (inkl. Linkliste zu weiteren Artikeln) und wagt eine positive Zukunftsprognose. Wie ich am Freitag auf zeitzeichen.net geschrieben habe, teile ich seinen Optimismus (und den der vielen Like-Geber*innen) nur zum Teil. Digitale Gottesdienste und Verkündigungsformate sind eben nur ein Ausschnitt dessen, was mit #digitaleKirche eigentlich beschrieben werden kann. Auf anderen digitalen Handlungsfeldern liegt nach wie vor und auch trotz Corona-Digitaleuphorie ziemlich viel brach.
Ganz zum Schluss seines Beitrags bietet Faix einen Fragebogen für Gemeinden zur digitalen Arbeit von Philipp van Oorschot (@PhiVanOo) an. Mir scheint die Bearbeitung des Fragebogens in einer Gemeinde-AG oder im Kirchenvorstand ein geeignetes Instrument, um gute Schlüsse aus den letzten Wochen für die Zukunft zu ziehen.
„immer mittwochs“: Soziale Arbeit in Zeiten von Corona (bakd)
Die Bundesakademie für Diakonie und Kirche (bakd) stellt jeden Mittwoch einen Podcast zur Sozialen Arbeit in Corona-Zeiten online. Zwei Expert*innen unterhalten sich darin über ein Thema, in den vergangenen Wochen z.B. über Gemeinwesenarbeit, Soziale Arbeit mit alten Menschen, Männern und Jungen sowie Geflüchteten.
Immer wieder werden die spezifischen Schwierigkeiten thematisiert, die sich für die diakonische Arbeit aus der Pandemie ergeben. Immer wieder wird auch deutlich, dass sich die engagierten haupt- und ehrenamtlichen Diakonie-Mitarbeiter*innen von ihnen nicht schrecken lassen. Allen Kirchen-Berichterstatter*innen ans Herz gelegt! Laut @ElkeOverhage soll es irgendwo in dem dunklen Abgrund namens Facebook auch eine Diskussions-Gruppe zum Podcast geben.
Neuer Modetrend? Pope Couture? pic.twitter.com/FjGD3nxcfQ
— RenardoSchlegelmilch (@RenardoJoachim) June 10, 2020
Wie ein Torgelower seinen Weg zu Gott fand – Benjamin Lassiwe (Nordkurier)
Benjamin Lassiwe (@lassiwe) berichtet über Thomas Kaiser, einen von fünf neuen Priestern des Erzbistums Berlin. Sonst gilt ja für mich „Vorsicht vor Konvertiten!“, aber wer Gott in Vorpommern findet, scheint schon schwer in Ordnung zu sein.
Aber wirklich geprägt hat den neuen Priester etwas völlig anders. „1999 sind wir mit einer großen Gruppe nach Taize gefahren“, sagt Kaiser. […] „Wir kamen damals sehr spät an, die Menschen saßen schon alle in der Kirche“, erinnert sich Kaiser. Das Gotteshaus war nur durch Kerzen erleuchtet. Die Lichterfeier der Bruderschaft hatte schon begonnen. „Beim Betreten der Kirche habe ich auf einmal etwas Besonderes gespürt, eine Wärme um mich herum“, sagt Kaiser.
Heute sagt er, er habe die Nähe Gottes in Taize gespürt. Wiedergefunden hat Kaiser dieses Gefühl in Vorpommern. In der katholischen Kirche, als er einen Gottesdienst an der Orgel begleitete. Auch da spürte er die Nähe und Wärme, die er aus Taize kannte und die er vorher, bei evangelischen Gottesdiensten, nicht gefunden hatte. „Es war plötzlich ein großer innerer Friede da.“
"Freiräume entstehen, weil … Bischöfe sich selbst nicht mehr an die Doktrin halten" – Kollege Essen über die Bedeutung des Rechtsbruchs in der Kirche für die Freiheit der Menschen, moderiert von @ReisingerWagner https://t.co/tyedNgEQAV
— Markus Tomberg (@MarkusTomberg) June 12, 2020
Wenn Männer über Männer reden, reden Männer Männern nach – David Bauer, Marie-José Kolly und Anna Wiederkehr (Republik)
Geschlechterungerechte Sprache macht Frauen und non-binäre Menschen unsichtbar. Das sagt die Forschung. Die Autor*innen erklären das in diesem Artikel der Republik wunderbar anhand verständlicher und bemerkenswerter Beispiele: Man(n) fühlt sich ertappt! Ach, wenn es doch nur eine Kirchenzeitung gäbe, in der konsequent geschlechtergerecht formuliert würde!
Ja, gendergerechte Sprache ist etwas umständlich. Und vielleicht unschön. Und womöglich stimmt es auch, dass Frauen jeweils mitgemeint sind. Die Forschung jedoch zeigt eindeutig: Wenn Frauen nicht sichtbar gemacht werden, werden sie nur begrenzt wahrgenommen – und das hat Konsequenzen. Dieses Argument muss die anderen ausstechen.
Ein guter Satz
„Vertraut den neuen Wegen, misstraut den alten Karten.“
– Thomas Renkert (@Thomas_Renkert).
Assoziativ dazu diese Szene aus der Serie „West Wing“ über die alte Mercator-Weltkarte. Die Welt sieht anders aus, als „wir“ uns das aus europäischer, christlicher und – genau – weißer Perspektive häufig vorstellen.