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Beistand oder bystander? – Die #LaTdH vom 19. Juni

Was lernen wir vom Missbrauchs-Gutachten in Münster? Außerdem: Ein unbefriedigender Prozess, ein vielerklärter Wechsel und Gottes Waffenrüstung.

Herzlich Willkommen!

Auf die Frage eines Schriftgelehrten, wer denn „sein Nächster“ sei, antwortet Jesus mit dem Gleichnis vom „Barmherzigen Samariter“ (Lk 10,25–37) – scheinbar provokativ unter Hinweis darauf, ein Priester und ein Tempeldiener seien vorher an dem „unter die Räuber Gefallenen“ vorbeigegangen, ohne zu helfen.

Doch die eigentliche Pointe der Beispielerzählung liegt nicht in der Kritik am Verhalten des Klerus, sondern in der Umkehr der Perspektive: Jesus geht es gar nicht darum, zu klären, ob es sich aus der objektivierenden Sicht des Schriftgelehrten gesehen bei einem Menschen aus Samaria um seinen „Nächsten“ oder einen zu meidenden „Ungläubigen“ handeln könnte. Stattdessen entscheidet sich die Frage umgekehrt vom Subjekt her: der helfende Samariter wird dem Opfer des Raubüberfalls zu dessen Nächsten.

Beistand oder bystander? – diese Frage stellt sich auch nach der am vergangenen Montag veröffentlichten Missbrauchsstudie über das Bistum Münster. Wer nach der Lektüre sein Verhalten gegenüber den Betroffenen von sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche – sei es in kirchenleitender Funktion, als „Mitbruder“ eines Täters oder als „einfaches“ Gemeindemitglied – immer noch daran gemessen sehen will, ob man sich selbst im Rahmen nachträglich destillierter „Pflichtenkreise“ jeweils „korrekt“ verhalten habe, erweist sich als „bystander“ der „unter die Räuber gefallenen“ Geschwister.

Einen guten Start in die neue Woche wünscht Ihnen
Ihr Thomas Wystrach


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Debatte

In der Zeit von 1945 bis 2020 sollen mindestens 196 Kleriker aus dem Bistum Münster (@bistummuenster) sexuellen Missbrauch an Minderjährigen begangen haben – konkret handelte es sich um 183 Priester, einen ständigen Diakon und 12 Brüder einer dem Bischof lange Zeit unterstellten Ordensgemeinschaft. Dies ist das zentrale Ergebnis der im Jahr 2019 begonnenen Studie „Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945“ (hier als PDF), die ein Wissenschaftsteam der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (@WWU_Muenster) am 13. Juni zunächst der Presse, anschließend auch der Öffentlichkeit vorgestellt hat.

Auf fast 600 Seiten sind das erschreckende Ausmaß wie auch Entwicklung und Auswirkungen von sexuellem Missbrauch in der westfälischen Diözese anhand von zwölf Fallbeispielen, einer quantitativen Bilanz sowie einer Untersuchung verschiedener Akteursgruppen, die mit dem Wissen um Missbrauch in Kontakt kamen, nachzulesen.

„Massives Leitungsversagen“ ziehe sich durch die Amtszeiten der Bischöfe Michael Keller (1947-61), Joseph Höffner (1962-69), Heinrich Tenhumberg (1969-79) und Reinhard Lettmann (1980-2008) gleichermaßen. Selbst unter dem seit 2009 amtierenden Bischof Felix Genn sei zumindest in den Anfangsjahren gegen Missbrauchstäter in den eigenen Reihen noch nicht „so rigoros und unzweideutig“ vorgegangen worden, wie es inzwischen „Standard“ sei:

Die erschreckende Bilanz lautet, dass bis über das Jahr 2000 hinaus die Personalverantwortlichen des Bistums Münster ihrem Wächteramt im Hinblick auf den sexuellen Missbrauch durch Kleriker der Diözese nicht gerecht geworden sind. Sie haben vertuscht, geschwiegen und lediglich vordergründig eingegriffen, wenn es darum ging, einen öffentlichen Skandal zu vermeiden. Die Betroffenen hatten sie nicht im Blick.

Viele in der Kirchen wussten viel – Christiane Florin (DLF)

Die Missbrauchsstudie über das Bistum Münster lese sich streckenweise wie die Mentalitätsgeschichte einer katholischen Hölle, kommentiert Christiane Florin (@ChristianeFlori) im Deutschlandfunk (@DLF). Kirchliche Spitzenkräfte hätten alles gewusst, vor allem, dass es keine Einzelfälle waren. Aber auch die sogenannten Laien seien oft eingeweiht gewesen.

„Beim Geld hört es dann doch auf“ – Theo Dierkes (WDR)

Vier Tage hatte sich Bischof Felix Genn Zeit gelassen, die fast 600 Seiten der Studie zu lesen. Aber schon vorher sei ihm klar gewesen, dass er danach nicht zur Tagesordnung übergehen könne und eine Bitte um Entschuldigung nicht ausreiche:

Das, was die Wissenschaftler im Blick auf Beschuldigte und kirchliche Verantwortungsträger darstellen, zeugt von einer massiven Diskrepanz zwischen Predigen und Handeln, zwischen dem, was kirchliche Verantwortungsträger die Menschen lehrten, und den Maßstäben, die sie an sich selbst anlegten. (…)

Die Studie wirft ein erschreckendes Licht auf die institutionellen und systemischen Faktoren sexuellen Missbrauchs, auf die verheerenden Auswirkungen einer rigiden Sexualmoral, eines völlig überhöhten Priesterbildes, eines geschlossenen Systems, das wesentlich von Männern geprägt und bestimmt war, einer gänzlich falsch verstandenen Mitbrüderlichkeit und einer bewusst geschaffenen Intransparenz im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs. (…)

Ich möchte Macht abgeben und zugleich meine Rolle schärfen.

Seinen eigenen Rücktritt schloss Genn jedoch in seinem Statement trotz seiner „Mitverantwortung für das Leid“ aus – nicht ohne dabei das Narrativ zu platzieren, er habe möglicherweise zu Beginn seiner Amtszeit „zu sehr als Seelsorger und zu wenig als Dienstvorgesetzter gehandelt“, so als sei das vorher wortreich beklagte fehlerhafte Verhalten eigentlich auch mit „pastoralem Übereifer“ plausibel zu erklären.

Theo Dierkes (@t_dierkes) kritisiert in seinem Kommentar im WDR, der Auftritt des Bischofs sei „kein Befreiungsschlag“ gewesen:

Zwar hat er versucht, alles richtig zu machen, beim Geld hört es aber dann doch auf. Ehrenwerte Reformziele hat er genannt, etwa die Bereitschaft, auf Macht zu verzichten, das Versprechen, Täter besser zu kontrollieren, mehr Transparenz, mehr Beteiligung, mehr Geschlechtergerechtigkeit.

Aber das lässt nicht darüber hinwegsehen, dass das Thema Entschädigung der Betroffenen in der Bischofsrede ausgespart wurde. Viele Betroffenen haben überhaupt kein Interesse, die Kirche zu retten, sie wollen einfach einen angemessenen Ersatz für erlittenes Unrecht. Es reicht nicht, den Betroffenen Aufarbeitung und kirchliche Reformen zu versprechen. Sie wollen mehr Geld.

„Betroffene haben lebenslänglich“ – Interview mit Martin Schmitz (Humanistischer Pressedienst)

Die Studie sei „in vielerlei Hinsicht sehr deutlich“ und habe viele „typische katholische Strukturen und Mechanismen“ offengelegt, so Daniela Wakonigg vom Humanistischen Pressedienst (@hpdticker). Auf ihre Interviewfrage, ob sich nun etwas in der römisch-katholische Kirche ändere, antwortete Martin Schmitz, der selbst als Kind Missbrauch durch einen Priester erlebte und Sprecher des Beirats ist, der das Entstehen der Studie begleitete:

„Wenn sich etwas ändern wird, dann vielleicht in Nuancen. Eine wirkliche Veränderung wird es nicht geben. Dazu wäre eine Strukturreform der katholischen Kirche notwendig. Und dass es die gibt, ist nicht absehbar.

Wir haben jetzt eine sehr gute Studie vorliegen, die aufklärt, was folgen muss, ist die Aufarbeitung. Und die wird, glaube ich, im Bistum Münster wie auch in vielen anderen Bistümern einfach nicht angefangen. Deswegen ist meine Forderung immer wieder, dass der Staat nicht länger einfach nur zusieht, sondern eingreift.“

Schwarze Blüten – Johanna Beck (Christ in der Gegenwart)

Mit ein paar Tagen Abstand – und nach Erscheinen der Münsteraner Studie – hat Johanna Beck (@MmeSurvivante) Mitglied des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz, bemerkt, wie sehr sie die Nachrichten über die Geschehnisse im Bistum Limburg und den Suizid des dortigen Regens Christof May (vgl. die #LaTdH vom 12. Juni) auf verschiedenen Ebenen tief getroffen haben.

In sechs Gedanken, die sie dazu in der Zeitschrift Christ in der Gegenwart (@ChristGegenwart) veröffentlicht hat, fragt sie nach den Betroffenen, dem Bischof oder dem verstorbenen Leiter des Priesterseminars:

„Der Weg gelingt oder die katholische Kirche scheitert“ – Interview mit Johannes Norpoth (Domradio)

Auch Johannes Norpoth, Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), bewertet die Studie im Interview mit Renardo Schlegelmilch (@RenardoJoachim) vom @domradio positiv. Er finde Studien mit soziologisch-historisch begründeter, methodisch angelegter Vorgehensweise gut,

„weil sie eine Ursachenforschung machen und über Fallstudien darstellen, in welchen Systemen und in welchen Strategien Kirche in diesen Fragestellungen in den letzten Jahrzehnten gehandelt hat. Und das wird an dieser Stelle sehr, sehr deutlich, auch in der gesamten Breite des Milieus Kirche, weil die Studie nicht nur den Klerus, sondern auch die klerikale Basis in den Fokus dieser Studie genommen hat. Das ist schon eine deutliche Weitung der bisherigen Studieninhalte […]“

Auf dem „Synodalen Weg“ lerne die römisch-katholische Kirche nun, mit synodalen Strukturen umzugehen:

Das ist sicherlich nicht einfach, aber der Weg gelingt entweder oder die katholische Kirche scheitert. Das muss man schlicht und ergreifend so sehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wenn dieser Synodalen Weg scheitert, scheitert die katholische Kirche in ihrer aktuellen Verfasstheit innerhalb weniger Jahre.

nachgefasst I: Rechtsstreit um die Wittenberger „Judensau“

Seit 2018 kämpft ein jüdischer Kläger gerichtlich für die Entfernung der Schmähskulptur einer „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche. Nun entschied der Bundesgerichtshof: Die Plastik muss nicht entfernt werden. Das muss aber noch nicht das Ende des Rechtsstreits sein. In seinem Urteil vom 14. Juni 2022 (VI ZR 172/20) führt der BGH aus, die Beklagte, also die Evangelische Kirchengemeinde als Eigentümerin der Wittenberger Stadtkirche, habe den unstrittig bestehenden rechtsverletzenden Zustand dadurch beseitigt, dass sie 1988 unter dem Relief

eine nach den örtlichen Verhältnissen nicht zu übersehende, in Bronze gegossene Bodenplatte mit der oben dargestellten Inschrift enthüllt und in unmittelbarer Nähe dazu einen Schrägaufsteller mit der Überschrift „Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg“ angebracht hat, der den historischen Hintergrund des Reliefs und die Bronzeplatte näher erläutert“.

Aus der maßgeblichen Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Betrachters hat sie das bis dahin als Schmähung von Juden zu qualifizierende Sandsteinrelief – das „Schandmal“ – in ein Mahnmal zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zur Shoah umgewandelt und sich von der diffamierenden und judenfeindlichen Aussage – wie sie im Relief bei isolierter Betrachtung zum Ausdruck kommt – distanziert. (…)

Die Umwandlung des „Schandmals“ in ein Mahnmal und in ein Zeugnis für die Jahrhunderte währende judenfeindliche Geisteshaltung der christlichen Kirche ist eine der Möglichkeiten, den rechtsverletzenden Aussagegehalt zu beseitigen.

Noch vor der Bekanntgabe des Urteils äußerte sich der frühere BGH-Richter und bekannte StGB-Kommentator Thomas Fischer gegenüber Legal Tribune Online (@lto_de) – mit dezidiert anderer Ansicht als seine Kolleg:innen:

Hier muss man ernsthaft fragen, welchen berechtigten sozialen Sinn es haben soll, einzelne – und zudem noch besonders abstoßende – Manifestationen erniedrigender, abwertender und beleidigender Gedankeninhalte im öffentlichen Raum auszustellen, um den Bürgern mittels beigefügter Informationstexte – die man lesen kann oder auch nicht – vorzuführen, welch schlimme, entmenschlichende Beleidigungen einzelner Bevölkerungsgruppen früher vorgekommen sind.

Diese Frage gewinnt hier, im Unterschied zur allgemeinen Denkmalpflege, ganz besondere Bedeutung, weil die Frage, welche Folgen die zur Schau gestellte Beschimpfung für die Ausgrenzung der Gruppenmitglieder hatte, eindeutig und beantwortet und im Weltgedächtnis verankert ist.

Michael Thaidigsmann (@Thaidigsmann) zeichnet in der Jüdischen Allgemeinen (@JuedischeOnline) die historischen Stationen dieses „Antisemitismus‘ aus Stein“ nach und hat im Vorfeld des Urteils einige Stimmen gesammelt.

Christian Staffa (@StaffaChristian), Beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (@EKD) für den Kampf gegen Antisemitismus, kommentiert die Entscheidung wie folgt:

Auch nach diesem Urteil bleibt aus evangelischer Sicht klar: Wir müssen uns intensiv an den judenfeindlichen Bildern in unserer Tradition abarbeiten und ihnen aktiv etwas entgegensetzen. (…) Es geht um Aufklärung im besten selbstkritischen Sinne in Theologie, Religionspädagogik und Kirchenkunst. (…)

Doch dürfen wir es dabei nicht belassen. Es geht um intensivere Aufklärung und aus meiner Sicht auch um visuell andere Lösungen. Das können zum Beispiel Abdeckungen oder Verhüllungen sein, die judenfeindliche Darstellungen nicht kaschieren, sondern dieses furchtbare Erbe unserer protestantischen Tradition zum Thema machen. Ebenso müssen wir auch andere Kunstwerke in den Blick nehmen als nur Skulpturen an Kirchenfassaden.

Wie setzt sich antijüdische, antisemitische Bildsprache in den Köpfen und Herzen fest? Wie wirken eingefurchte, kirchlich tradierte Bilder mit antisemitischen Motiven bis heute fort und wie ist ihnen sinnvoll zu begegnen? Bereits 2020 hatte die Evangelische Akademie zu Berlin (@EvAkad_Berlin) dazu eine Tagung in Wittenberg veranstaltet, die der Evangelische Pressedienst (@epd_news) hier dokumentiert.

nachgefasst II: Katholisches

Papst Franziskus im Gespräch mit den europäischen Kulturzeitschriften der Jesuiten (Stimmen der Zeit)

In einem gemeinsamen Interview verschiedener europäischer Jesuiten-Zeitschriften, unter anderem die Stimmen der Zeit (@StimmenZ), wurde der Papst unter anderem auch zum Synodalen Weg in Deutschland und zur Causa Woelki befragt. Franziskus antwortet dabei lachend, er habe dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Bätzing, gesagt, es gebe bereits „eine sehr gute evangelische Kirche in Deutschland. Wir brauchen nicht zwei von ihnen“. Problematisch sei es, „wenn der Synodale Weg von den intellektuellen, theologischen Eliten ausgeht und sehr stark von äußeren Zwängen beeinflusst wird.“

Die Vorgänge in der Erzdiözese Köln schildert der Papst deutlich anders, als Kardinal Woelki das bisher dargestellt hat:

„Als die Situation sehr turbulent war, bat ich den Erzbischof, für sechs Monate wegzugehen, damit sich die Dinge beruhigten und ich klarer sehen konnte. Denn wenn das Wasser aufgewühlt ist, kann man nicht gut sehen. Als er zurückkam, bat ich ihn, ein Rücktrittsgesuch zu verfassen. Er tat dies und gab es mir. Und er schrieb einen Entschuldigungsbrief an die Diözese. Ich habe ihn an seinem Platz gelassen, um zu sehen, was passieren würde, aber ich habe sein Rücktrittsgesuch in der Hand.“

Die Kirche und die Wahrheit – Daniel Deckers (FAZ)

In der FAZ erinnert Daniel Deckers daran, die päpstliche „Nichtannahme“ des „Rücktrittsgesuchs“ des Kölner Erzbischofs Kardinal Woelki innerhalb der „vorgeschriebenen“ Drei-Monats-Frist bedeute nicht, der Fall sei damit „erledigt“:

Franziskus wäre nicht Franziskus, wenn ihm das Kirchenrecht bestenfalls als grober Orientierungsrahmen diente. Also wird sich Woelki noch eine Weile gedulden müssen. Vielleicht würde es den Entscheidungsprozess im Kopf des Papstes ein wenig beschleunigen, würde er seine Aussagen über diverse Bitten Woelkis (Auszeit, Rücktritt) mit denen vergleichen, die der Kölner Kardinal bei verschiedenen Anlässen in die Welt gesetzt hat.

Vereinfacht gesagt, will Woelki beide Male aus freien Stücken um etwas gebeten haben, was der Papst ihm gegen seinen Willen abgerungen hat. Mindestens eine der Versionen kann nicht stimmen, wenngleich die Vorstellung schwer erträglich ist, dass einer der beiden Herren die Öffentlichkeit bewusst hinter die Fichte führt.

„So freiwillig war Kardinal Woelkis Amtsverzicht wohl doch nicht“, stellt auch Lukas Wiegelmann (@wiegelmann) in seinem Kommentar in der WELT fest. Der Hinweis per Interview, Woelkis Rücktrittsgesuch sei in seiner Hand, belege einen „befremdlich machiavellistischen Regierungsstil“ des Papstes:

Mit solchen unverhohlenen Drohungen mag man seine Leute auf Kurs halten können, so sehr, dass die sich notfalls sogar für Demütigungen bedanken. Eine faire, transparente und, nun ja, christliche Führungskultur fördert man damit allerdings nicht.

„Auf­grund der zahl­reichen Nach­fragen“ legte die Pressestelle des Erzbistums Köln (@Erzbistum_Koeln) in einer „Ergänzenden Einordnung zum Interview mit Papst Franziskus“ am Dienstag Wert auf die Feststellung, die Aussagen von Pontifex und Kardinal Woelki seien durchaus „miteinander vereinbar“. Man bäte nun „um Ver­ständnis, dass wir wei­tere Aus­sagen des Hei­ligen Vaters nicht kommen­tieren“ …

Die synodale Sackgasse – Christian Geyer (FAZ) 

In seinem Beitrag über den „Fall Sturm“ im Feuilleton der FAZ greift Christian Geyer die Interviews mit Papst Franziskus (siehe oben) und Kardinal Schönborn („über theologische Grundlagen, Chancen und Risiken von Synodalität“) auf und verbindet sie mit dem Übertritt des ehemaligen Generalvikars des Bistums Speyer (@bistum_speyer), Andreas Sturm (@PfrSturm), ins Katholische Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland (@Altkatholisch).

Dieser Schritt „enthülle die Illusionen des reformkatholischen Milieus“, schreibt Geyer. „Ich muss raus aus dieser Kirche“ – der Titel von Sturms in dieser Woche erschienenem Buch räume dem Synodalen Weg (@DerSynodaleWeg) keine Zukunft ein, die der Autor noch erleben könnte:

Er beschreibt sich selbst als kraftlos gewordenes Geschöpf eines ausgezehrten katholischen Milieus, aus dem er nun als Priester zu den Altkatholiken aufbricht – zu jenen Altkatholiken, die sich programmatisch nur der „Alten Kirche“ und nicht dem kirchlichen Absolutismus des neunzehnten Jahrhunderts verpflichtet fühlen. Dass ein konfessioneller Aussteiger wie Sturm und ein episkopaler Garant des Katholischen wie Schönborn sich in der Kritik des Synodalen Wegs treffen, ist eine ironische Pointe, die diesem Reformprojekt zuwächst.

Buntes

Mit klarem Blick auf die Verhältnisse – Murat Kaymann (murat-kayman.de)

Die Debatte um die Islam-Verbände in Deutschland stecke nach mehr als zwanzig Jahren intensiver öffentlicher Diskussionen in einer Sackgasse, stellt Murat Kaymann (@KaymanMurat) fest:

Der „selbstverschuldete Widerspruch“, zwischen dem „Selbstbild der allein legitimen muslimischen Interessenvertretung“ und der „empfundenen Ohnmacht, gesellschaftliche Entwicklungen nicht mal ansatzweise beeinflussen zu können“, zu wanken, werde durch die verschiedenen ideologischen Agenden der muslimischen Organisationen wie DITIB, IGMG oder ZMD nicht wahrgenommen.

In der öffentlichen Wahrnehmung habe sich zudem der Blick auf zwei Varianten verengt: dämonisierende Fundamentalkritik „am Islam“ (die die Verbände zur Flucht in die Opferrolle einlädt) oder beschönigende Hoffnungen auf strukturelle und inhaltliche Veränderungen durch einen Generationswechsel in den Führungsetagen der Verbände. Dagegen weist Kaymann auf die historische Kontinuität der in der Türkei gegründeten Dachverbände hin und empfiehlt den „klaren Blick auf die Verhältnisse“:

Die Verbände mutieren (.) immer mehr zu reinen Moscheeverwaltungsorganisationen, zu Facility Management Firmen mit eingerahmten Koranversen an der Bürowand. Sie hängen historischen Aufgaben und Selbstdefinitionen nach, ohne zu erkennen, dass die Gegenwart ihnen neue, andere Herausforderungen stellt. Wenn sie Religionsgemeinschaften für MuslimInnen in Deutschland sein wollen, müssen sie sich von rechtsextremen Mitgliedern trennen. Sie müssen die Ideologie anachronistischer, verblendeter Politiker über Bord werfen. Sie müssen sich von der Kontrolle und Fernlenkung aus der Türkei lösen.

Wenn sie das nicht können, sind sie keine eigenständigen Religionsgemeinschaften. Dann dürfen sie sich aber nicht beschweren, wenn sie nicht zum Ansprechpartner für die Belange der MuslimInnen in Deutschland taugen. Ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz beschränkt sich momentan immer mehr auf das Verteilen von Rosen (IGMG) und das Feiern von Tulpen-Festivals (DITIB). Vielen Dank für die Blumen – aber wir MuslimInnen in Deutschland brauchen von Organisationen, die Religionsgemeinschaften sein wollen, schon etwas mehr.

Theologie

Gundamentalism on the Rise – Diana Butler Bass (The Cottage, englisch)

Diese Woche fand in einer evangelikalen Kirche in Colorado Springs ein christliches „Familiencamp“ statt, an dem auch Lauren Boebert teilnahm, die zu den extremsten MAGA-Mitgliedern des US-Kongresses und offenkundigen christlichen Nationalist:innen gehört.

Bei der Veranstaltung sagte Boebert, die auch Besitzerin eines Restaurant namens „Shooters Grill“ ist, sie bete für Präsident Biden mit Psalm 109: „Mögen seine Tage kurz sein.“ Anschließend behauptete sie auch noch, hätte Jesus nur genügend halbautomatische Sturmgewehre gehabt, hätte er sich seiner Verhaftung durch die Regierung widersetzen können und wäre nicht gekreuzigt worden:

Die Kirchenhistorikerin Diana Butler Bass (@dianabutlerbass) weist in ihrem Blogbeitrag darauf hin, in den USA seien „Gott und Waffen“ schon immer ein Problem gewesen, aber jetzt habe man es mit „Gundamentalismus“ zu tun:

Eine große Anzahl von Menschen in einer der größten Religionsgemeinschaften Amerikas – der der weißen evangelikalen Christen – hat mehr Waffen als je zuvor, glaubt an politische Gewalt und hat eine Theologie der Waffen. Das alles gepaart mit weißer Vorherrschaft und einer tiefen Loyalität zu Donald Trump.

Wir haben kein „Gott und Waffen“-Problem. Amerika hat ein „Waffen sind Gott“-Problem. Schusswaffen sind eine Religion. Ihre Anhänger verlangen, dass wir alle vor ihrem Altar anbeten. Ich für meinen Teil weigere mich, mich zu beugen.

Predigt

Einübung ins Leben – Klaus Müller (WWU Münster)

In seiner Auslegung des heutigen Tagesevangeliums (Lk 9, 18-24) weist Klaus Müller, bis zu seiner Emeritierung 2020 Direktor des Seminars für „Philosophische Grundfragen der Theologie“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, darauf hin, dass auf die doppelte Frage Jesu, „Für wen halten mich die Leute?“ bzw. „Für wen haltet Ihr mich?“, Lukas zwar die lehrbuchmäßige Antwort des Petrus zitiert („Für den Christus Gottes“). Anschließend führe Jesus den Jünger:innen aber die volle Tragweite dieser Erkenntnis / dieses Bekenntnisses vor Augen (Schlussverse 23/24):

Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach.

Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.

Erst in der Annahme von Leiden, Kreuz und Tod werde Jesus zum wahren Christus, zum Gesalbten, zum Messias:

Dass er so sein Geschick Gott anheim gibt, das verleiht dem Mann von Nazaret seine Christuswürde – das macht ihn zum Messias. Das Schlimme nicht verleugnen, nicht verdrängen, nicht verklären und auch nicht verzweifeln vor ihm, sondern Gott aufladen. (…)

Christsein heißt, das Geheimnis, das Jesus als der Christus uns aufgetan hat, sogar im Banalen noch, Tag für Tag zuzutrauen, dass es sich bewähre – dass aus frei und im Glauben angenommenen Leid meinem Leben eine Kraft, eine Unerschütterlichkeit zuwächst, die ich anders nicht zu kennen vermöchte. (…)

Ein guter Satz