Bilder des Schreckens und des Heils

Was kann uns das Bild des Gekreuzigten heute sagen, gerade während der Corona-Pandemie? Als Heilsbild tritt es gegen die Schreckensbilder unserer Zeit an, erklärt Tobias Graßmann.

Die Motivation, die Vorgaben zur Eindämmung des Corona-Virus und insbesondere seiner deutlich ansteckenderen Mutationen wirklich konsequent einzuhalten, scheint in der Bevölkerung zu sinken – trotz unvermindert hoher Zustimmung zu diesen Maßnahmen. In der Politik scheint der Wille zur Verschärfung und strikteren Kontrolle ebenfalls eher gering ausgeprägt zu sein. Dies wird mitunter mit einer mangelnden Anschaulichkeit der Gefahr erklärt.

Es fehlen, so die Vermutung, einfach packende Bilder in den Medien und der Öffentlichkeit, die die Bedrohung sichtbar und konkret machen. Ähnlich der Schockbilder auf Zigarettenpackungen soll die Verbreitung von Fotos intubierter, um Atem ringender Menschen auf der Intensivstation oder Röntgenaufnahmen vom Virus verwüsteter Lungen das Bewusstsein für die tödliche Gefahr schärfen. Auf den Philippinen wurde eine solche Bildkampagne bereits gestartet, wobei nicht nur die Verknüpfung mit der Parole der jüngsten Black-Lifes-Matter-Proteste „I can’t breathe“ diskussionswürdig ist.

Theologisch kann einem hier eine bekannte Struktur ins Auge fallen: Bilder der Krankheit, ja des Todes sollen dem Leben dienen. Es ist am Karfreitag durchaus nicht fern liegend, an die oft ja ebenfalls expliziten Darstellungen des Gekreuzigten in den Kirchen und in der Kunst zu denken. Bilder des Todes an denen man sich ohne theologische Einordnung genauso stören kann wie an dem irgendwie doch manipulativen Versuch, die Gefährlichkeit der Covid-Erkrankung bildlich zu transportieren. Und tatsächlich gibt es auch christliche Frömmigkeitskulturen, nicht nur reformierter Prägung, die mit solchen Darstellungen nichts anfangen können.

Dagegen steht etwa eine Strophe des vielleicht bekanntesten und damit auch berüchtigsten Passionschorals „O Haupt voll Blut und Wunden“. Dort heißt es in der letzten, finalen Strophe, nachdem das Kreuzesleiden vergegenwärtigt wird, mit Blick auf die eigene Sterbestunde der singenden Frommen:

„Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl.“

Es ist hier gerade das Bild des Gekreuzigten in seiner Todesnot, dem eine tröstliche und heilsame Wirkung zugeschrieben wird.

Bereitung zum Sterben

Der Frömmigkeit, die hier im Hintergrund steht und die uns vielleicht zunächst fremd erscheint, hat Martin Luther in seinem „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ einen theologischen Ausdruck gegeben. Dabei geht Luther gerade nicht davon aus, dass wir uns Bilder des Sterbens und des Todes bewusst vergegenwärtigen und daraus klug werden sollen. Vielmehr sind Erinnerungsbilder des Todes, der mit dem Sterben verbundenen Qualen, der Leichname und ihrer Zersetzungsprozesse ein Quell der Anfechtung und Verzweiflung. Es ist der Teufel, der uns mit ihnen fangen will, der diese beklemmende Endlichkeit zusammen mit unseren Gewissensqualen und Sündenängsten dazu nutzen will, uns von Gott zu entfremden.

Luther setzt voraus, dass seine Zeitgenoss:innen ein realistisches Bild von Sterben und Tod haben. Aber diese Bilder helfen ihnen nicht, sich im Leben zu orientieren. Sie sind nicht zu meditieren, sie sind nicht heraufzubeschwören und zu kultivieren. Man darf und soll sie verdrängen. Es ist allein dieses eine Bild des gekreuzigten Christus, das heilsame Wirkung entfalten und die schrecklichen Bilder von Krankheit und Tod überwinden kann. Das Bild des Gekreuzigten soll den Bildern des allgegenwärtigen und an sich heillosen Sterbens entgegengesetzt werden, gegen sie kämpfen.

Der Kampf der Bilder

Wie aber funktioniert dieser Kampf der Bilder? Was ist der besondere Mehrwert einer Meditation des Kreuzesleidens, wenn man sich doch auch – gut lutherisch – einfach an den Verheißungen der Bibel festhalten könnte? An Schriftworten, wie sie bei christlichen Begräbnissen erklingen, so wie Johannes 5,21: „Denn wie der Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will.“ Warum versenken sich manche Christinnen und Christen an Karfreitag in das Bild des gekreuzigten Christi?

Die Kreuzigung Christi (Bild: <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Lucas_Cranach_d.%C3%84._-_Kreuzigung_Christi_(Kunsthistorisches_Museum_Wien).jpg">Wikipedia</a>, public domain)

Die Kreuzigung Christi von Lucas Cranach d. Ä. (Bild: Wikipedia, public domain)

Der Barocktheologe Johann Conrad Dannhauer hat über die Bedeutung der Bilder für den Glauben nachgedacht und dabei eine besondere Theorie der Offenbarung entwickelt. Ihm zufolge bedient sich der Heilige Geist aller Sinne des Geschöpfes, um dem Menschen das Licht der göttlichen Lehre zu erschließen und Christus zu vergegenwärtigen. Insbesondere der Gesichtssinn und das Gehör, das Auge und das Ohr sind einander zugeordnet. Denn die höchste Klarheit einer Rede wird immer dann erzielt, wenn ausdrucksstarke Bilder und erklärende Worte zusammenkommen.

Diese Einsicht, die Dannhauer bei Aristoteles und bei zahlreichen biblischen Gestalten, vor allem im prophetischen Gotteswort und in den Gleichnissen Jesu wiederzufinden meint, erhebt er zum Prinzip seiner „emblematischen“ Theologie. Und darin will er gerade dem Heiligen Geist und dessen Offenbarungsweise entsprechen.

Nun ist die Konsequenz für Dannhauer gerade nicht, seine theologischen Schriften zu bebildern oder ein theologisch durchdachtes Bildprogramm für den Kirchenraum zu entwerfen. Die entsprechenden Bilder und Gleichnisse soll die Einbildungskraft beim Hören der Predigt hervorbringen und uns so die Bilder des Glaubens, insbesondere das Bild Christi innerlich einbilden. Dass dabei auch die Musik eine große Hilfe sein kann, zeigt das Beispiel des Passionschorals und der Passionsmusiken.

Vom Schreckens- zum Heilsbild

Das Bild des leidenden und sterbenden Christus führt in dieser Perspektive eine tröstliche und befreiende Wirkung mit sich. Es kann – so die Erfahrung vieler Christinnen und Christen – andere Schreckbilder bekämpfen und verdrängen. Und weil das Bild-Wort hier durch die Einbildungskraft gehen muss, eignen wir es uns immer schon persönlich an. Die Einbildungskraft, die Fantasie ist nämlich nicht einfach freischwebend. Sie knüpft bei ihren Bildern immer an unser Vorwissen und unsere Lebenswirklichkeit an. Und deshalb ist die Klarheit, die so entsteht, nicht abstrakte Präzision, sondern eben auch emotional anrührende Konkretheit.

Erzählt man Kindern, dass Sara für die drei Männer, die Abraham und sie im Hain Mamre besuchen, einen Kuchen bäckt, dann denken sie vielleicht an ihre Geburtstagstorte oder einen Obstkuchen, aber wahrscheinlich nicht an einen flachen mit Honig gesüßten Fladen aus Feinmehl. Aber das macht ja nichts. Denn christliche Frömmigkeit bedeutet eben, sich und die eigene Lebenswelt in den Geschichten der Bibel wiederzufinden. Jahrhunderte lang haben bedeutende und weniger bedeutende Künstlerinnen und Künstler ja auch nichts anderes gemacht. Nur so bleibt das Evangelium lebendig.

Dann kann es sein, dass der Gekreuzigte einem Geflüchteten ähnlich sieht, die Frau unter dem Kreuz der alleinstehenden Mutter aus der Kita, der römische Hauptmann einem Polizisten in Riot Gear. Ein Andachtstext oder eine Predigt muss dafür eigentlich gar nicht viel leisten, bestenfalls Spuren legen – die Einbildungskraft macht die eigentliche Arbeit!

Und die Einbildungskraft hat dazu auch eine Filterfunktion. Meistens, wenn man sie nicht gewaltsam zwingt, passt die Einbildungskraft ihr Kopfkino dem an, was für uns persönlich angemessen ist. Von süßlich-verklärend über medizinisch-plausibel bis splatternd-gewaltpornografisch ist ein breites Spektrum an Vorstellungsbildern möglich, wenn man sich Jesu „Haupt voll Blut und Wunden“ vergegenwärtigt. Wenn man die Bilder frei lässt und sie nicht durch zu viele Erklärungen und Details festzurrt.

Hier erscheint nun eine entscheidende Grenze, die unserer frei schweifenden Einbildungskraft gesetzt werden muss. Auch das Bild des Gekreuzigten entfaltet seine Wirkung nicht als bloße Gewaltdarstellung. Auf sich allein gestellt, könnte unsere Fantasie von hier aus auch auf Abwege geraten. Nur mit unserer Fantasie kämen wir auch nie von uns selber, unserem Vorwissen und unseren Stimmungen los. Das Bild Christi muss auch unsere persönlichen Schreckensbilder überwinden können.

Was dieses eine Bild von allen anderen Bildern unterscheidet, ist deshalb seine Beziehung zum Evangelium. Denn dass es sich hier, nur hier bei diesem Hinrichtungsopfer, nicht um ein Schreckensbild, sondern um ein Heilsbild handelt, das ist eben nicht selbstevident, sondern erschließt sich nur im Horizont auslegender Worte.

Ein Spiel der Einbildung

Solche Worte waren für die ersten Christen vor allem die Verheißungen des Alten Testaments und die Verkündigung Jesu vor seinem Tod. Für uns Christinnen und Christen können das auch die Hymnen des Neuen Testaments, das Glaubensbekenntnis, ein Katechismus, Choral oder Gedicht sein. Dass bestimmte Bilder für uns zu Spiegeln werden, in denen sich uns Gott selbst offenbart und sich uns wirksam einbildet, so dass etwas mit uns passiert, das hängt an ihrer Beziehung zum Wort des Evangeliums in seinen vielen Gestalten.

Das Schöne daran ist gerade heute: Einem solchen Spiel der Einbildung kann man natürlich hervorragend im Gottesdienst nachhängen – während der Predigt, beim Singen und zum Abendmahl. Aber eigentlich braucht man für eine solche Meditation gar nicht viel. Ein Gesangbuch vielleicht, eine Bibel, ein paar Minuten Zeit für sich. Und etwas Fantasie.