Bitte nicht auf halbem Wege stehen bleiben!

In der Evangelischen Kirche und Diakonie wird über den assistierten Suizid gestritten. Hermann Diebel-Fischer argumentiert: Nur wenn er ein Normalfall neben anderen wird, wäre Betroffenen wirklich geholfen.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung eine neue Diskussion über die Ausgestaltung der geschäftsmäßigen Suizidassistenz ausgelöst. Auch in Theologie und Kirche ist ein Streit entbrannt, der polarisiert und zugleich jene wunden Punkte offenlegt, die zwangsläufig entstehen, wenn in der Vermittlung zwischen Glaube, Ethik und gesellschaftlicher Lebenswirklichkeit Reibung auftritt.

Diese Reibung entsteht offensichtlich nicht nur dann, wenn zwei konträre Positionen in Form von zwei Gruppen aufeinandertreffen, sondern auch schon dann, wenn eine prinzipielle Zustimmung – oder besser: die Absage an ein kategorisches „Nein“ – in ein Bedingungs- und Beschränkungskorsett gezwungen werden soll, um bestimmten Anforderungen gerecht zu werden.

Was aber steht auf dem Spiel, wenn man sich darauf einlässt, um des Menschen Willen den assistierten Suizid als eine Form des Sterbens neben andere zu stellen? Theologisch einen Paradigmenwechsel zu vollziehen, läutet nicht den Untergang des Abendlandes ein, auch wenn die in diesem Zusammenhang gern bediente Dammbruchmetaphorik dies nahelegt.

Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie haben am 11. Januar 2021 in der FAZ einen selbst für evangelische Verhältnisse überraschend revolutionären Wurf gelandet, den die Zeitung in ihrer Online-Ausgabe mit „Evangelische Theologen (sic!) für assistierten professionellen Suizid“ betitelte. Zwei Wochen später folgte die Antwort von Peter Dabrock und Wolfgang Huber, die – vielleicht ob ihrer Prominenz, vielleicht aber auch ob einer zumindest in der Redaktion schon als Vorentscheidung wahrgenommenen Stimmungslage – nur namentlich als Gegner jenes „assistierten professionellen Suizid[s]“ aufgeführt werden.

Es geht hier letzten Endes nicht um eine Frage, deren Beantwortung von Vertreter:innen aus Theologie und Kirche nur für die Diakonie und ihre Einrichtungen von Bedeutung ist. Ratsam wäre es, den Blick zu weiten und den „geschäftsmäßig“ assistierten Suizid als solchen zu diskutieren, schon allein deswegen, weil Christ:innen sich nicht ausschließlich in diakonischen Einrichtungen behandeln oder betreuen lassen.

Sicherlich ist es für die Kirche von großer Bedeutung, was in den Einrichtungen der Diakonie passiert – wie es auch für diese Einrichtungen von Bedeutung ist, was Kirche und Theologie zu einem Thema zu sagen haben. Gleichwohl darf sich die Debatte, gerade auch im Hinblick auf eine Einflussnahme auf die anstehende gesetzliche Neuregelung, nicht künstlich nur auf den innerkirchlichen Gestaltungsraum beziehen.

Die Grauzone ist keine Option

Wenn man die Suizidassistenz ganz allgemein in einer Grauzone oder im Einzelfall für vertretbar hält, dann wäre es letztlich ein Verrat an der Idee der diakonía, wenn man sie in der Grauzone bzw. in der Einzelfallbeurteilung ohne legalen Rahmen belassen will. Dabrock und Huber argumentieren zwar, dass andernfalls das Ethos des ärztlichen und pflegerischen Berufes sowie der Seelsorgepraxis „erschüttert“ würde, aber ein Paradigmenwechsel bedeutet nicht notwendig eine Hinwendung zum Schlechteren.

Ihr Einwand, dass von der Gewissensentscheidung im Einzelfall niemand qua Gesetz dispensiert werden kann, ist gleichermaßen richtig wie irreführend. Selbstverständlich bleiben es am Ende Gewissensentscheidungen aller einzelnen Menschen, die beteiligt sind – der Sterbewilligen und dener, die ihnen dabei helfen, diesen Wunsch umzusetzen. Dessen ungeachtet kann ein Berufsstand zur Assistenz bemächtigt werden, ohne gleichzeitig jedes seiner Mitglieder dazu zu zwingen, sich auf diesem Gebiet zu betätigen.

Beließe man es bei der von Dabrock und Huber favorisierten Einzelfallhandhabung – oder schlimmer: bevorzugte man die im EKD-Text 97 von 2008, „Wenn Menschen sterben wollen“ (PDF), befürwortete Auslagerung von Einzelfällen an die Rechtsprechung, dann teilte man Menschen schlechterdings in zwei Gruppen: in die eine, die das Glück hat, mit dem Sterbewunsch auf Menschen zu treffen, die sich unter Inkaufnahme von Risiken sich dieses Menschen mit seinem Wunsch annehmen und die andere, die das Glück nicht hat.

Mit dieser Ungerechtigkeit im Gepäck kann die Einzelfallentscheidung bzw. die Grauzone ethisch nicht mehr als erstrebenswert gelten. Dies gebietet es, dafür einzustehen, dass die Erfüllung des Wunsches, sterben zu wollen, nicht von den Befindlichkeiten oder der Risikokalkulation Dritter abhängig ist, sondern seine Bearbeitung ordentlich und die Suizidhilfe professionell erfolgt.

Auf halber Strecke

Insofern erscheint es mir strategisch einigermaßen fragwürdig, wenn Anselm, Karle und Lilie mit Johannes Fischer als Gewährsmann der Ansicht sind, dass es „zurückzuweisen [gilt], dass der assistierte Suizid zur gesellschaftlichen Normalität wird“ und sich ferner dagegen sperren, dass „der assistierte Suizid eine gesellschaftlich von Ärztinnen und Ärzten selbstverständlich erwartbare Leistung wird“.

Man kann meinen, die drei seien auf dem richtigen Weg, allerdings bleiben sie mit ihrem Vorbehalt gegen die Suizidassistenz als gesellschaftlichem Normalfall des Sterbens auf halbem Wege stehen. Denn nur, wenn die Suizidassistenz tatsächlich ein Normalfall wird, für den es Qualitätsstandards gibt, zu denen auch die Prüfung der Selbstbestimmtheit des Wunsches gehört, ist denjenigen, die sterben wollen, wirklich geholfen, weil sie nicht in eine gesellschaftliche Nische gehen müssen, um ihren – für Beobachter:innen vielleicht nur schwer nachvollziehbaren – Sterbewunsch verwirklichen zu können, sondern auf einen Normalfall des Sterbens zurückgreifen können.

Das bedeutet nicht, dass keine Alternativen aufgezeigt würden noch bedeutete es, dass wir damit einen Dammbruch verursachen, der Menschen unfreiwillig in den Tod treibt oder der in den Heilberufen Tätige gegen ihren Willen zur Suizidassistenz zwingt. Während letzteres einigermaßen einfach rechtlich reguliert werden kann, spricht gegen ersteres, dass Sterben keine leichtfertig durchgeführte Freizeitbeschäftigung ist.

Gerade denjenigen, die mit professioneller Assistenz aus dem irdischen Leben scheiden wollen, wird man unterstellen dürfen, dass sie dies wohlüberlegt tun und nicht in einer Kurzschlusshandlung einen Verwaltungsakt in Gang setzen. Dieser wird nach aller Wahrscheinlichkeit Sicherheitsmechanismen vorhalten, auf deren Ausgestaltung die Kirchen während des Gesetzgebungsverfahrens und danach im Übrigen Einfluss nehmen können. Wenn wir als evangelische Christ:innen groß vom Menschen denken, dann sollte das einschließen, dass wir ihm zutrauen, irreversible Entscheidungen entsprechend sorgfältig zu durchdenken.

Sterbende begleiten

Mit Blick auf die seelsorgerliche Begleitung sind Anselm, Karle und Lilie mit ihrer Bezeichnung derselben als „erweiterte Kasualpraxis“ auf einem vorgezeichneten Weg. Peter Dabrock und Wolfgang Huber halten dies für „[m]it dem bisherigen Selbstverständnis“ seelsorgerlicher Praxis und mit der in einer „ökumenischen Gemeinsamkeit von den Kirchen in Deutschland vertretenen Auffassung“ „nicht vereinbar“.

Dazu zwei Anmerkungen vor dem Hintergrund, dass es sich bei der Frage nach der Zulässigkeit der professionellen Suizidassistenz um ein Adiaphoron – also nicht um eine Angelegenheit des evangelischen Bekenntnisses – handeln dürfte: (1.) Eine evangelische Haltung zeichnet sich auch dadurch aus, dass die grundsätzliche Revidierbarkeit von in irgendeiner Weise Gehandhabtem zumindest als Denkmöglichkeit besteht. (2.) Die Frage nach der Ökumene mag zwar ihre Berechtigung haben, sollte jedoch keinen Anlass dafür bieten, eine Segenshandlung zu verweigern.

Denn wenn wir Kasualhandlungen als kirchliche Handlungen zu besonderen Anlässen im Leben eines Menschen durchführen, um zu segnen und damit die Begleitung Gottes für den weiteren Weg zu erbitten, dann wäre es falsch, diesen Segen für eine Station im Leben – das eigene Sterben – zu verweigern, nur weil ihr Zustandekommen durch eine Intervention von außen willentlich beschleunigt wird und es in Teilen der Christenheit Vorbehalte dagegen gibt.

Abschied von einem alten Konsens

Sehr viel theologischer geht Michael Coors vor und betont in seinem zeitzeichen-Beitrag zum Artikel von Anselm, Karle und Lilie zwar, dass wir Protestant:innen kein kirchliches Lehramt kennen, führt aber dennoch einen langen Rekurs auf den zwölf Jahre alten Konsens durch, der im EKD-Text 97 (s.o.) formuliert ist. Gleichwohl entfernt sich Coors selbst vom damals formulierten Konsens, in dem die Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen strikt abgelehnt wird und Einzelfälle der Rechtsprechung anheimgestellt werden.

Damals befürchteten die Autor:innen, dass sich „die Haltung der Gesellschaft zu Leben und Sterben und die Verantwortung der Menschen füreinander im Zusammenhang mit dem Sterben“ durch eine allgemeine Gesetzgebung „grundlegend ändern [kann].“ (S. 34) Eine solche Gesetzgebung hat 2015 stattgefunden und kann voraussichtlich für 2022 erneut erwartet werden.

Als ein vermutetes Ergebnis der professionellen Suizidassistenz sieht der EKD-Text eine Normalisierung der Suizidassistenz, gegen die Coors das Argument anführt, dass diese „nach christlichem Verständnis die Ausnahme bleiben sollte“. Das könne damit begründet werden, dass ein überindividueller, abstrakter Lebensschutz sich aus der Position ergebe, das Leben als Gabe Gottes zu betrachten. Das ist eine ganz andere Argumentation als bei Anselm, Karle und Lilie, die mit einem starken Bezug auf das Individuum und seine Selbstbestimmung argumentieren.

Für die Diakonie sieht Coors drei Handlungsalternativen: (1.) Die Diakonie untersagt Suizidassistenz und bietet andere Varianten des selbstbestimmten Sterbens in ihren Einrichtungen an, wenn das Gesetz dies zulässt, (2.) die Diakonie könnte Suizidassistenz durch Dritte zu ihren eigenen Bedingungen zulassen und (3.) die Diakonie wird selbst auf dem Gebiet der geschäftsmäßigen Suizidassistenz aktiv.

Letzteres bedeutete, dass die – nach Coors‘ Ansicht „theologisch gut begründet[e]“ – Position aus dem EKD-Text von 2008 aufgegeben werden müsste. Dies ist für mich das einzige theologische Problem, das aber bei Lichte betrachtet zwar immer noch ein für das Zusammenleben in der Gesellschaft wichtigen Sachverhalt thematisiert, dabei aber ein Adiaphoron ist, also eine Frage, die nicht das Bekenntnis betrifft, und somit kein Potential in sich trägt, die Glaubensgemeinschaft der evangelischen Christ:innen zu unterminieren.

Man kann hier verschiedener Ansicht sein, was gleichzeitig bedeutet, dass man hier nicht sinnvoll eine für die Gläubigen verbindliche Position behaupten kann – was erklärt, warum die Ablehnung der geschäftsmäßigen Suizidassistenz über argumentative Umwege ihre Notwendigkeit erweisen muss. Zudem ist mit Blick auf das Argument einer Kontinuität der theologischen Tradition die prinzipielle Revidierbarkeit von theologischen Positionen der evangelischen Kirche so fremd nicht, was schon deutlich wird, wenn man allein die jüngere Theologiegeschichte betrachtet.

Den Diskurs weiten

Zu guter Letzt: Es erscheint mir widersprüchlich zu sein, dass einerseits von Dammbrüchen in der Gesellschaft sinniert wird für den Fall, dass die Suizidassistenz nicht mehr nur in Einzelfällen stattfindet, andererseits aber vor dem Hintergrund des Urteils die Autorität des Bundesverfassungsgerichts und seiner engen Vorgaben für die Neuregelung zur Kenntnis genommen werden und nur noch (oder zumindest weitestgehend) über den theologischen wie kirchlichen Umgang mit den sich aus dem Urteil ergebenen Konsequenzen für die Diakonie gerungen wird.

Dies könnte man böswillig bereits als ein Rückzugsgefecht von Kirche und Theologie aus der breiten Gesellschaft deuten, wenn sie sich gestaltend vornehmlich mit Blick auf das eigene Territorium betätigen, und die Frage nach der seelsorgerlichen Praxis in von anderen Trägern betriebenen Krankenhäusern und Pflegeheimen hintanstellen – wie auch die Situation derer, die in keiner Einrichtung betreut werden.

Gerade die, von Michael Coors als irritierend empfundene, öffentliche Diskussion, deren strategische Bedeutung für die binnenkirchliche Debatte Isolde Karle im Interview mit der Eule erläutert hat, sehe ich als große Chance: Einerseits für den Protestantismus, um den Diskurs über dieses wichtige Thema zu demokratisieren und eine größere Zahl von Christ:innen in ihn einzubinden.

Andererseits auch, um als evangelische Kirche und Theologie eine Orientierungsleistung für die Gesellschaft zu erbringen, und zwar nicht in Form einer bestimmten Entscheidung, sondern so, dass gezeigt wird, wie unter einer geteilten Überzeugung über ultimative Dinge emotional – gleichzeitig aber gemeinschaftswahrend – um die Beantwortung einer Frage gerungen werden kann.

Der Streit um den assistierten Suizid

In der Evangelischen Kirche und Diakonie wird heftig darüber gestritten, wie in Zukunft mit der Möglichkeit des assistierten Suizids umgegangen werden soll. Isolde Karle, Reiner Anselm und Ulrich Lilie haben die Debatte mit einem Beitrag in der FAZ angestoßen. Mehr dazu in den „Links am Tag des Herrn“ vom 17. Januar. Isolde Karle hat im Interview mit der Eule ihre Beweggründe und Argumente erläutert.

Den kompletten Artikel von Isolde Karle, Reiner Anselm und Ulrich Lilie hat das Magazin zeitzeichen zur Verfügung gestellt. Auch die Erwiderung von Peter Dabrock und Wolfgang Huber kann dort komplett frei gelesen werden.