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Bluesky: Asyl im Paradies?

Lohnt sich der Umzug von X (ehem. Twitter) auf Bluesky? Ist die neue Mikroblogging-Plattform wirklich so himmlisch, wie sie sich selbst darstellt? Eine Analyse.

„Ein Sturm hat mich hinausgetrieben“, singt Tamara Danz im kurz vor ihrem Tod 1996 veröffentlichten „Silly“-Hit „Asyl im Paradies“. Viele Nutzer:innen, die von Elon Musk von X (ehem. Twitter) vertrieben werden, finden sich seit einigen Wochen bei der Alternative Bluesky ein. Vor allem Journalist:innen, Shitposter, Comedy- und Quatsch-Accounts sowie Menschen, die es auf Musks Plattform besonders schwer haben, bilden dort inzwischen eine recht lebendige deutschsprachige Enklave. Was ist von Bluesky zu halten? Ist es wirklich „der Himmel“, wie es in den tausenden Umzugsnotizen der Twitter-Geflüchteten genannt wird? Und welche Chancen bieten sich für Christ:innen, christliche Medien und Kirchen?

X (ehem. Twitter) befindet sich in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale, das Ende der Plattform rückt näher, aber es ist ein schmerzhafter, langanhaltender Sterbeprozess. „Twitter stirbt sowieso, Menschen mit Vernunft verlassen schon länger das sinkende Schiff, bauen sich anderswo ihre Kanäle auf“, kommentiert Markus Reuter von netzpolitik.org das Geschehen. Noch blieben zwar viele Menschen, Institutionen und Medien auf Twitter präsent, für die Reichweite von Medien und den Echtzeit-Nachvollzug von Nachrichten spielt X aber wegen „Fakes, Propaganda und Desinformation“ kaum noch eine relevante Rolle. Reuter ruft seinen Leser:innen zu: „Hauen wir ab!“

Eine persönliche Totenrede auf Twitter hatte ich hier in der Eule bereits Anfang September gehalten und außerdem die Mikroblogging-Alternativen vorgestellt, mit einer klaren Präferenz für den dezentralen Dienst Mastodon. Dieser entspricht vom dahinterliegenden Wertekonstrukt am ehesten den Forderungen, die von den Kirchen in die Debatte um eine digitale Ethik eingebracht werden. Das konkrete Handeln von kirchlichen Organisationen auf den Social-Media-Plattformen müsste mit solchen hehren Forderungen nach informationeller Selbstbestimmung und einer sicheren Plattformgestaltung in Einklang gebracht werden. Ähnliches wird man für die private Plattformnutzung formulieren können.

Aber wie so häufig orientiert sich das Konsumverhalten der Menschen nicht an den Werten, die sie vor sich her tragen. Außerdem hat Mastodon wohl erneut einen günstigen Zeitpunkt verpasst, den X/Twitter-Flüchtlingen Asyl anzubieten. Es ist nicht so, dass unter dem Logo des Ur-Elephanten nicht genügend Platz wäre, aber nicht alle alteingessenen Mastodonten stehen der Migration aus Musks Gefahrengebiet wohlwollend gegenüber. Bereits im September hatte ich die Kultur der Plattform, nicht deren Technik als größten Hinderungsgrund für einen flächendeckenden Erfolg des Dienstes beschrieben.

Stattdessen hat nun also Bluesky die Gunst der Stunde und die letzten zweieinhalb Musk-Skandale genutzt, um sich verstärkt ins Gespräch zu bringen. Trotzdem die Plattform nach wie vor in der Beta-Phase und der Zugang nur über einen persönlichen Einladungscode möglich ist, wächst Bluesky kontinuierlich. Vor allem Publizist:innen und Journalist:innen haben „den Himmel“ für sich entdeckt. Auf Bluesky entsteht – zumindest für den deutschsprachigen Raum – wieder eine Sphäre des kritisch-liberalen Diskurses zwischen Meinungsmacher:innen, Fachleuten und Politik. Wissenschaftler:innen und Vertreter:innen von gesellschaftlichen Minderheiten, die es auf X/Twitter schon länger schwer haben, sammeln sich dort.

Ihr Versuch, sich der toxischen Atmosphäre von X zu entziehen, wird von der bürgerlichen Presse gleichwohl als „Bullerbü“ und Diskursverweigerung kritisiert. Dabei fliehen sie nur von einer Plattform, die „kaputtgespielt und rechtsradikal abgeschmiert“ ist, wie Markus Reuter zutreffend analysiert. Doch eignet sich Bluesky überhaupt als Rettungsinsel?

Kein Himmel nirgendwo

Christ:innen, die einigermaßen theologisch fit sind, wissen darum, dass es auf Erden seit dem Auszug aus Eden keinen Himmel gibt, sondern nur Mühsal. Diese Erkenntnis könnten sie all denen voraus haben, die sich nicht allein mit großer Lust auf das Abenteuer Bluesky einlassen, sondern mit überzogenen Erwartungen umherziehen. Auch auf Bluesky bildet sich inzwischen die gesellschaftliche Bandbreite von Meinungen, politischen Einstellungen und Milieus einigermaßen zutreffend ab. Dass man es auf Bluesky im Vergleich zu Musks X besser aushalten kann, liegt zunächst noch an der regiden Zugangsbeschränkung, die einen Ansturm rechter Trolle zumindest erschwert, und an der deutlich stärkeren Blockfunktion der Plattform.

Die Bluesky-Blockfunktion löscht zugleich den inkriminierten Post und alle Antworten auf ihn, sodass es möglich ist, toxische Unterhaltungen wirksam zu beenden – und weiteren Kontakt mit dem geblockten Account zu verhindern. Wie jede Blockfunktion kann sie natürlich durch einen Accountwechsel und die Benutzung von Screenshots umgangen werden. Weitere Schutzmechaniken hat Bluesky übrigens noch überhaupt nicht im Angebot, von einer anbieterseitigen Content-Moderation ganz zu schweigen.

Auch unter diesem Blickwinkel sollte man sehr vorsichtig damit sein, sich von der viralen Bluesky-PR vom „himmlischen“ Netzwerk beeindrucken zu lassen – und sie unhinterfragt weiterzugeben. Ja, den meisten Nutzer:innen dürfte klar sein, dass eine Social-Media-Plattform nicht das Himmelreich ist, aber dennoch vermittelt sich auf diesem Wege subkutan die Botschaft, die Plattform sei ein freundlicher und sicherer Ort.

Das „Asyl im Paradies“ aus „Sillys“-Rockbalade ist übrigens ein Suizid im Wasser. Der ersehnte „Moment, um auszuruhn“ dehnt sich also bedenklich in die Ewigkeit. Die Erleichterung, X entkommen zu können, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bluesky von der Plattformarchitektur und Unternehmensstruktur keine Verbesserung zum Konzept von X, Instagram und Facebook darstellt. Auch Bluesky ist – mit der Genesis gesprochen – ein „verfluchter Acker“.

Lohnt sich die Reise zu Bluesky?

Auch wenn Bluesky also mit Sicherheit eine vorletzte und nicht die letzte Antwort auf die Frage nach der Vergemeinschaftung im Netz darstellt und sicher nicht so relevant werden wird, wie es Twitter zu seinen besten Zeiten war, kann sich der Aufenthalt auf der neuen Mikroblogging-Plattform lohnen.

Für Nutzer:innen, die gerne mit anderen Menschen kommunizieren, das lose Bloggen im Kurznachrichtenstil schätzen und gerne Kontakt mit ihrer Communities halten, gleicht Bluesky in den vergangenen Wochen tatsächlich einem Paradies im Vergleich zu X: Keine lästige und betrügerische Werbung, keine Porno-Bots, fast keine rechten Trolle, ein zumeist zivilisierter, einer demokratischen Gesellschaft angemessener Debattenton – dazu eine gelegentlich fast überschwänglich fröhliche Stimmung, die manche mit einer Betriebsweihnachtsfeier vergleichen. Auch die Kirchen- bzw. Theobubble, die lange auf X anzutreffen war, ist zu großen Teilen bereits eingewandert. Insbesondere jene Stimmen, die auf X völlig untergehen, finden auf Bluesky trotz seiner viel kleineren Nutzer:innen-Basis wieder Gehör.

Für Institutionen und Organisationen liegt mit dem Wachstum der Plattform nun die Frage auf dem Tisch, ob und in welchem Umfang sie sich auf Bluesky engagieren sollen. Für bundesweite und bedeutende regionale Organisationen lohnt sich ein Wechsel von X derzeit schon. Sie treffen auf Bluesky ja genau auf jene gesellschaftspolitischen Multiplikator:innen, die sie im besten Fall auch auf Twitter erreichen wollten. Allerdings rate ich davon ab, einfach nur einen Account einzurichten, damit man auch auf Bluesky „präsent“ ist. Mit diesem Mindset, das allen Social-Web-Ideen zuwiderläuft, haben sich insbesondere viele kirchliche Institutionen schon ihre Twitter-Performance kaputtgemacht. Lange vor Musk sahen sie darum dort keinen Stich. Das muss man auf Bluesky nicht wiederholen.

Weil auf Bluesky in der Standard-Timeline kein Algorithmus reinfunkt (neben diesem reinen social graph stehen weitere Feeds mit algorithmischer Unterstützung zur Verfügung) und man auch noch keine Werbung auf der Plattform schalten kann, haben es Institutionen, Medien und Einzelpersonen schwer, die Bluesky zur Ein-Weg-Kommunikation nutzen. Eine Ausnahme davon stellen sehr bekannte Marken und Personen dar, die auch auf der neuen Plattform sofort wieder eine größere Follower:innen-Zahl bewirtschaften können. Für den Rest gilt: Wer nicht kommunizieren will, braucht keine Mikroblogging-Plattform im Social-Media-Portfolio.

Folgerichtig finden sich im Moment nur wenige Kirchen, kirchliche Werke und Medien auf der Plattform – vornehmlich solche, die sich auf wechselseitige digitale Kommunikation verstehen und in diesem Sinne auch schon auf dem alten Twitter aktiv waren. Von EKD, Bischofskonferenz, Diakonie, Caritas und weiten Teilen der Kirchenpresse ist also noch keine Spur, dafür kann man zum Beispiel der Deutschen Seemannsmission folgen (und der Eule).


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