Kolumne Gotteskind und Satansbraten

Care-Arbeit: Sorge mit vollem Herzen

Sich um andere Menschen mit vollem Herzen zu sorgen, führt uns an die Grenzen dessen, was wir leisten können – und wollen. Wie können wir Sorge(n) gemeinschaftlich teilen?

Carlotta Israel hat in der „SektionF“-Kolumne Anfang Mai einen wundervollen Text zum Thema Care verfasst. Besonders der letzte Absatz hatte es mir angetan, ich habe ihn immer wieder gelesen und gedacht: Das wäre es! Das wäre die Art von Gemeinschaft, die ich gern erfahren würde.

Wie schön ist doch ein ernsthaftes „I care for you“: „Ich sorge mich um Dich, ich umsorge Dich, ich versorge Dich. So viel du brauchst. Ich sorge mich darum, was Du brauchst – nicht darum, was ich für Dich für gut halte. Ich biete Dir etwas an. Vielleicht möchtest Du nochmal kurz darüber nachdenken, ob das helfen könnte. Aber ist nur ein Versuch. Überlege es dir.“ Ist nicht genau das „Kommunikation des Evangeliums“ und ein Ausblick auf eine andere und bessere Welt?

Gleichzeitig merke ich, dass wir als Kirche meilenweit von solch einer wohltuenden Art der Sorge entfernt sind. Ein Grund unter vielen, die es hierfür gibt ist, dass wir den Care-Begriff gar nicht als Ganzes erfasst haben. Wir denken wichtige und besonders fordernde Aspekte von Fürsorge nicht mit – weder institutionell noch, wenn wir über Care-Arbeit in Familien sprechen.

Wie Carlotta sehr richtig bemerkt hat, ist das Hauptproblem der Kirchen gerade, dass Care überhaupt keine Bedeutung beigemessen wird. Auf welche Art und Weise wir uns umeinander kümmern wollen und um die, die Sorge bedürfen, ist selten bis nie Teil der öffentlichen Debatten. Es wird so getan, als hätte das auch alles nichts mit den anderen aktuellen Problemen der Kirche zu tun und man könnte diesen Sektor auch weiterhin komplett missachten.

Auch dort, wo man sich noch für Care interessiert, wird das Thema in seiner vollen Tragweite häufig nicht gesehen. Denn Care-Arbeit ist so viel mehr, als Kinder (oder Erwachsene) zu betreuen, einen Ort zur Verfügung zu stellen, an den Menschen kommen können, ein bisschen professionelles Personal bereitzustellen und ein gutes Einrichtungskonzept zu haben. Care ist auch mehr als pädagogisch angeleitetes Spiel, als ein warmes Mittagessen und die regelmäßig gewechselte Windel. Ganz ehrlich: All das fordert zwar und ist zuweilen anstrengend, aber es ist weder der wichtigste noch der manchmal belastende Teil von Care-Arbeit.

Was wirklich Kräfte zieht – bei Eltern, Angehörigen und allen, die sich mit vollem Herzen auf Menschen einlassen, für die sie sorgen – sind die Sorgen, die man sich macht. Wer den ganzen Tag ein offenes Ohr haben muss, für Heimweh und Mama-Vermissen, für die blöden Geschichten, die heute wieder in der Schule passiert sind, für Mobbing-Vorfälle, den ersten Liebeskummer, das Ringen mit der eigenen Identität, für Albträume und Versagensängste, für die neusten Ideen und die ausführliche Beschreibung des Rollenspiels, das gerade gespielt wurde, und den Inhalt der letzten Feuerwehrmann-Sam-Folge, der oder die weiß, wovon ich rede.

In den vergangenen Jahren wurde schon viel über den mental load diskutiert. Damit ist der Druck gemeint, der daraus entsteht, „für alles verantwortlich zu sein“. In vielen Familien lastet dieser Druck nach wie vor auf den Frauen, die sich um Beruf, Familienleben, die Bedürfnisse von Kindern und Partner:innen und eben auch um Angehörige mit Care-Bedarf kümmern. Natürlich kann man dem mental load strategisch und mit guten Tipps begegnen, wie es Patricia Cammarata empfiehlt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob man Sorge(n) wegorganisieren kann.

Sorge mit vollem Herzen

Für andere sorgen, im bezahlten oder unbezahlten Kontext, heißt, komplett involviert zu sein. Es bedeutet zuhören und mitfühlen, manchmal mitleiden. Sorgen bedeutet, sich hilflos zu fühlen, weil man die Probleme nicht lösen kann, weder den Streit um den einzigen rosa Baustein noch die immer wiederkehrenden Selbstzweifel von Teenagern. Sorgen bedeutet kreativ sein zu müssen, sich in neue Themen rasch reindenken und immer sein kleines, geistiges Notfallset an Lösungen parat halten zu müssen. Sorgen bedeutet nicht selten, dass man dauernd auf Empfang sein muss, weil man eventuell die einzige Person ist, die überhaupt noch zuhört. Auch diese Erfahrung kann man sowohl im professionellen als auch im privaten Kontext machen.

Schlaflose Nächte, verzweifelte Lösungssuche, Aushalten, dass man eine Situation nicht verändern kann, das eigene Herz vor übergroßer Anteilnahme schützen: All das sind Risiken und Nebenwirkungen, mit denen wir rechnen müssen, wenn wir uns entscheiden, mit vollem Herzen zu sorgen.

Auch hier hat sich, ähnlich wie bei der von Carlotta beschriebenen Selbstoptimierung, ein Zauberwort in unsere Gespräche und vor allem in die digitalen Debatten eingeschlichen, das den überlasteten Sorgenden Hilfe bringen soll: Abgrenzung! Bitte nicht alles zu nah an sich ranlassen, nicht zu sehr mitfühlen, auch mal „Nein!“ sagen. Wir sollen sehen, dass die zu versorgenden Menschen doch eigentlich „mit Sicherheit“ alles mitbringen, was es bräuchte, um allein mit ihren Nöten klarzukommen. Wir müssen sie nur ein bisschen empowern.

Ich mag mir lieber gar nicht vorstellen, wie viel kälter und liebloser eine Gesellschaft wäre, in der dieser Zauber funktionieren würde und sich alle von den Sorgen anderer abgrenzen. Im Grunde ist der Ruf danach nichts anderes als das verzweifelte Eingeständnis, dass man nicht Willens ist, diejenigen zu unterstützen, die den vollen Aspekt von Sorge auf ihren Schultern tragen. Statt im Stil einer „Selbst-schuld“-Mentalität zur Abgrenzung aufzufordern, sollten wir lieber überlegen, wie wir auch den emotionalen Aspekt von Sorgearbeit gemeinschaftlich tragen können.

Sorgen ist Arbeit

Nur wenn wir diese Art des Kümmerns, des sich Sorgens, des für andere Da-Seins mitdenken und als das sehen, was sie ist, nämlich Arbeit, kommen wir irgendwann vielleicht dahin, ein realistisches Verständnis von Care-Arbeit zu entwickeln.

Das ist die Grundvoraussetzung für eine Beschäftigung mit der Frage, wie wir zukünftig als Kirchen für andere sorgen wollen – und wie wir uns auch um die kümmern, die (sich) bereits sorgen. Wo bieten wir ihnen Entlastung? Nicht nur, weil wir ihnen mal drei Windelwechsel abnehmen und ein warmes Essen bereitstellen, sondern weil auch wieder anfangen, uns zu sorgen, offen zu sein, zuzuhören, mitzudenken, weil wir selbst ein Stück von unseren Herzen bereitstellen, damit andere Herzen eine Weile etwas leichter werden dürfen oder vom Zuhören und Aushalten überreizte Nervensysteme Entlastung finden können?

Nur wenn Sorgearbeit echte Anteilnahme und echte Nähe miteinschließt, nimmt sie denen, die an erste Stelle sorgen, tatsächlich etwas ab.


Alle Ausgaben der Familienkolumne „Gotteskind und Satansbraten“ von Daniela Albert in der Eule.


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