
Weil Missbrauch kein Einzelfall ist
Christiane Florin und Sr. Marie-Pasquale Reuver schreiben darüber, wie wir in Kirche und Gesellschaft mit Geschichte und Gegenwart des Missbrauchs verantwortlich umgehen können.
Zu Weihnachten werden immer noch gerne Bücher verschenkt: Spannende Romane, aufrüttelnde Stories, instruktive Sachbücher, Historienschinken und Gedichtbände. Kurz vor dem Fest empfehlen wir in der Eule zwei Bücher, die Missbrauch und sexualisierte Gewalt in Kirche und Gesellschaft problematisieren. Dabei geht es um die Aufarbeitung einer Schuldgeschichte und um eine Gestaltungsaufgabe für die Gegenwart.
Birgit Mattausch stellt den Ratgeber „Missbrauchsbetroffenen in Kirche und Gemeinde sensibel begegnen“ von Sr. Marie-Pasquale Reuver vor, der ehren- und hauptamtlichen Kirchenmitarbeiter:innen Orientierung bei der Begegnung und Zusammenarbeit mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt helfen will. Eule-Redakteur Philipp Greifenstein hat „Keinzelfall – Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte“ von Christiane Florin gelesen.

Die Schuld nicht leugnen
Von Philipp Greifenstein
„So etwas wie Gerechtigkeit erwartet Heinz von der Öffentlichkeit, von der Kirche und von der Caritas – trotz aller Enttäuschung“, schreibt Christiane Florin in der Mitte ihres Buches „Keinzelfall – Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte“. Was zunächst wie noch eine weitere emotionalisierte Schilderung eines individuellen Missbrauchsfalls erscheint, entpuppt sich als das gegenwärtig beste Buch für Einsteiger:innen in das Themenfeld sexualisierte Gewalt, das im Moment auf dem Buchmarkt zu haben ist. Denn was Heinz in einem kirchlichen Erziehungsheim angetan wurde, ist eben kein Einzelfall.
Seit vielen Jahren schon arbeitet die Journalistin Christiane Florin zum Themenfeld sexualisierte Gewalt und Missbrauch in der Kirche. Selbst katholisch geprägt fokussiert sie in ihrer Arbeit vor allem auf die katholische Kirche und – dankenswerter Weise – immer wieder auch auf die historische Schuldgeschichte von Kirche, Staat und Gesellschaft im Umgang mit jenen Kindern und Jugendlichen, die im System der bundesrepublikanischen Heimerziehung Gewalt erlitten haben – und von Kirche und Öffentlichkeit an den Rand gedrängt werden.
Der „Keinzelfall“ Heinz fungiert im Buch als Begleiter für die Leser:in, der von Florin auch die gesellschafts- und kirchenpolitischen Hintergründe der Heimerziehung, das weitgehende Scheitern von Aufarbeitungs- und Entschädigungsversuchen und die schwerwiegenden Folgen des Missbrauchs für die Biografien von Betroffenen erklärt werden. So individuell das je persönliche Leid der Betroffenen ist, so wichtig ist es, nicht bei der Tragik eines Einzelfalls stehen zu bleiben, sondern den Versuch zu wagen, die Mechanik der Gewalt, die Triebkräfte des Missbrauchs und die Schuldgeschichte von Kirche und Gesellschaft darzustellen.
Das ist Christiane Florin mit „Keinzelfall“ überzeugend gelungen. Welche gesellschaftlichen, typisch katholischen, sexual-ethischen und theologischen Weichenstellungen ermöglichten das System der Heimerziehung? Warum scheitert Deutschland bis heute daran, seine Schuldgeschichte angemessen aufzuarbeiten? Was bewegt Betroffene wie Heinz heute – und wie könnten sich die Kirche, gläubige Christ:innen und die weitere Öffentlichkeit ihnen gegenüber verantwortlich verhalten, wenn sie es denn wollten?
Zum Nachdenken über diese Fragen gibt „Keinzelfall“ den Leser:innen reichlich Anregung. Das Buch empfiehlt sich als Lektüre für diejenigen, die sich bereits mit dem Themenfeld vertraut gemacht haben, aber noch viel mehr für jene Kirchenmitglieder, Ehren- und Hauptamtliche und aufmerksame Bürger:innen jeden Alters, an denen die Irrungen und Wirrungen von Runden Tischen, Aufarbeitungsstudien und Opferrechts-Diskursen bisher vorbeigegangen sind.
Die Betroffenen-Biografie von Heinz ist für eine solche Erstbegegnung mit den Problematiken von (sexualisierter) Gewalt in pädagogischen und kirchlichen Kontexten ein guter Wegweiser, ohne dass Florin seinen persönlichen Lebensweg in übergriffiger Weise instrumentalisieren würde. „Keinzelfall“ ist mehr als eine Chronik eines individuellen Leidensweges, von denen es schon so viele gegeben hat, und die offenbar in der weiteren und kirchlichen Öffentlichkeit nur für flüchtiges Entsetzen und „Betroffenheit“ sorgen. Christiane Florins „Fallschilderung“ ist eine Chronik des politisch-kirchlichen Versagens und auch ein Denkmal für den Kampf von Betroffenen.
„Heinz kämpft dafür, dass sich Verantwortliche von heute anhören, was die totale Institution mit seinem Leben und dem von anderen gemacht hat“, zeichnet Florin nach: „Kämpfen ist sein meistgenutztes Verb in diesem Zusammenhang.“ Weil Aufarbeitung, angemessene Entschädigung und ein ehrliches Erinnern und Gedenken bis heute in den allermeisten Fällen verweigert wird, weil die Schicksale der Heimkinder-Generationen in der deutsch-deutschen Vergangenheit zu versinken drohen und auch weil wir in unserem gesellschaftlichen und kirchlichen Umgang mit vulnerablen Kindern- und Jugendlichen bis heute immer noch besser werden können, ist „Keinzelfall“ ein notwendiges Buch.
Christiane Florin
Keinzelfall
Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte
Patmos 2025
160 Seiten
19 € (Hardcover), 15 € (E-Book)

Die Kirche zu einem besseren Ort machen
Von Birgit Mattausch
Betroffene von sexualisierter Gewalt berichten oft davon, dass Kirchenvertreter*innen sich ihnen gegenüber unsicher, geradezu ängstlich verhalten. Sie brauchen viele Anläufe, bis sie gehört werden. Und auch wenn ihnen einmal Glauben geschenkt wurde, heißt das noch lange nicht, dass sie weiter angemessen behandelt werden. Für alle, die in ihrem persönlichen und beruflichen Nahraum etwas daran ändern wollen, ist dieses Buch gedacht:
Marie-Pasquale Reuver, Theologin, Franziskanerin und selbst Missbrauchsbetroffene, erklärt anschaulich und nachvollziehbar, wie es ist, mit einem Trauma zu leben und wie Nichtbetroffene damit umgehen und zu safer spaces beitragen können.
Reuver erläutert, wie im Gespräch eine angemessene Sprache entwickelt werden kann, die Unrecht benennt. Ein Kapitel widmet sich strittigen religiösen Themen wie Vergebung, Nächstenliebe, Leiblichkeit und Wut. Es gibt Hinweise für den Umgang mit Bibeltexten und zu einer neuen Gebetssprache. Auch die Frage nach Täter*innen und Leugner*innen in den Gemeinden wird nicht ausgespart. Ein Slamtext der Autorin und „Die zehn wichtigsten Tipps für den Umgang mit Betroffenen“ beschließen die Ausführungen.
„Keine Angst vor Fehlern!“ (S.48) ruft Reuver ihren Leser*innen sehr bald zu. Und: „Du wirst Betroffenen nie gerecht werden – und zwar in dem Sinne, als dass dein Verhalten plötzlich alle Wunden heilt. Und das ist auch gar nicht deine Aufgabe!“ (S.49) Es ist genau diese Ermutigung und Entlastung, zusammen mit all den wissenschaftlich fundierten Erklärungen und den ganz praktischen Tipps, die dieses Buch so wertvoll machen: Reuver zeigt, dass „Missbrauchsbetroffenen in Kirche und Gemeinde sensibel begegnen“ nichts Unerreichbares, sondern etwas alltäglich Einzuübendes ist. Etwas, das eben nicht nur ausgebildete Expert*innen braucht, sondern auch einfach die, die die Kirche zu einem safer space machen wollen.
Ich halte dieses Buch für sehr geeignet für haupt- und ehrenamtlich in der Kirche Beschäftigte, etwa für Kirchenvorsteher*innen, Synodale, Seelsorger*innen, Menschen aus der Verwaltung. Vieles, was Betroffenen in der Kirche widerfährt, geschieht vermutlich nicht aus Bosheit, sondern aus Unsicherheit, Überforderung und Unwissenheit. Reuvers Buch hilft dabei, es besser zu machen.
Sr. Marie-Pasquale Reuver
Missbrauchsbetroffenen in Kirche und Gemeinde sensibel begegnen
Patmos 2024
182 Seiten
20 € (Paperback)
Weitere Rezensionen findest Du hier in der Eule.
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