Das Leben „nach Corona“: Vergessen und Vergeben?
Wie wird es einmal sein, wenn wir uns „am Ende von Corona“ in den Armen liegen? Können wir einander und uns selbst verzeihen, was während der Pandemie schief gelaufen ist?
Freuen Sie sich auch so auf den Tag, an dem alles vorbei ist? Manchmal, wenn mir alles zu viel wird und meine Kraft für keinen weiteren Tag Distanzunterricht mehr zu reichen scheint, überlege ich mir, wie es sein wird. Ich stelle mir vor, wie ich zum ersten Mal wieder in unsere Kirche laufe. Wahrscheinlich an einem milden Herbstabend – zum ersten Abendgottesdienst nach Corona. Zu einem mit Gesang und Umarmungen. Zu lautem Lobpreis und Vaterunser aus hunderten von Mündern. Freudentränen werden fließen. Wir werden uns an den Händen halten und fröhlich sein – einfach, weil wir da sein dürfen. Weil wir noch da sind.
Doch manchmal spüre ich auch Zweifel. Wird es wirklich so schön werden? Fallen wir uns wirklich alle um den Hals? Wird in diesem Raum, in dieser Gemeinde oder auch anderswo wirklich nur Fröhlichkeit und Erleichterung spürbar sein? Was ist mit dem Groll, der Bitterkeit und der Verletzung, die gerade allgegenwärtig sind?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mein Herz hat das eine oder andere Mal kräftig geblutet in den letzten 14 Monaten. Da waren Entscheidungen, für die ich mich rechtfertigen musste. Menschen, die mir soziale Kontakte und Umarmungen aufzwingen wollten, die ich für falsch hielt. Freunde und Bekannte, die mir durch die Blume zu verstehen gaben, ich sei überängstlich.
Da waren die, die alles für übertrieben hielten, die auf Regeln pupsten, die den Garten voller fremder Kinder hatten, während ich meinen erklären musste, warum sie niemanden sehen durften. Da waren die, die nicht gesehen haben, wie krass gefordert wir als Familien in dieser Zeit waren und die unsere Situation herunterspielten. Da waren die, die nur sich selbst und ihre eigene Realität sahen, aber nicht meine. Da waren die, die Familien über Monate komplett allein ließen mit all ihren Sorgen.
Da waren Politiker:innen, die falsche Entscheidungen trafen und die eine oder andere Lehrkraft, die nach dem Homeschooling zu viel von den Kindern erwartete. Da waren unbelehrbare Coronaleugnerinnen, die Infektionen weitertrugen und aggressive Männer mit Rechtsdrall und Nasenpimmel im Supermarkt.
Und das sind nur die Menschen, auf die ich sauer bin.
Ich habe ja noch gar nicht von denen gesprochen, die allen Grund haben, auf mich böse zu sein.
Die Freundinnen, die sich irgendwann gar nicht mehr trauten, in unsere WhatsApp-Gruppe zu schreiben, weil ich in meinen Reaktionen regelmäßig übers Ziel hinausschoss. Die Arzthelferin, die eines Nachmittags meinen kompletten Frust abbekam. Die Freundin, deren Einsamkeit ich vor lauter Homeschooling und voller Ehrgeiz alles richtig zu machen nicht gesehen habe. Da waren die, über die ich schnell und hart geurteilt habe (Müssen diese Covidioten echt nach Malle fliegen?).
Doch wie kann es denn weitergehen mit uns allen, wenn erst einmal alles wieder seinen normalen Gang geht? Wenn die Erleichterung darüber, dass es vorbei ist, so manchen Ärger überdeckt und unsere kleinen Wunden heilt?
Die Weisheit des Samweis Gamdschie
Ich muss dieser Tage oft an einer Szene aus der Herr der Ringe-Filmtrilogie denken. Vielleicht kennen Sie sie. Das Böse ist besiegt. Die Dunkelheit hat verloren. Alle Schlachten wurden geschlagen. Der Held – der Hobbit Frodo Beutlin – erwacht in einem Bett und nach und nach trifft er all seine Freunde wieder. Sie kommen zu ihm, umarmen ihn, jubeln und lachen. Freude und Erleichterung durchströmen den Raum.
Doch dann hält Frodo inne – mitten in all dem Jubel. Denn an der Tür steht sein engster Vertrauter – Sam. Der Sam, der mit ihm am Schicksalsberg war. Der Sam, der mehr über ihn weiß als alle anderen. Der Sam, den er unterwegs immer wieder enttäuscht, verletzt und verraten hat. Der Sam, der weiß, dass der Sieg über das Dunkel am Ende eher ein Zufall war und nicht Frodos Entscheidung. Der Sam, der das böse, hässliche Gesicht von Frodo gesehen hat.
Was wird er wohl denken? Wird er genauso erfreut sein, seinen Frodo lebend wiederzufinden? Stimmt er ein in diesen Jubel oder haben all die schrecklichen Momente ihn bitter werden lassen? Kann Sam vergeben?
Sam kann! Er betritt den Raum, kommt ins Licht und in die Erleichterung. Er singt und jubelt mit. Und er bleibt an Frodos Seite. Die Freundschaft ist ungebrochen. Ich glaube, Sam kann vergeben, weil er gesehen hat, wie schwer die Bürde war, die Frodo tragen musste. Er hat der Dunkelheit zusammen mit seinem Freund ins Auge geblickt und wusste, dass sie zerstörerisch war. Er wusste, dass diese Last mehr war, als Frodo tragen konnte – und dass er sie trotzdem getragen hat.
Vergebung beginnt mit Gnade
Vielleicht können wir von Samweis Gamdschie lernen. Lernen, dass wir nicht vergessen dürfen, dass die Last für viele einfach zu groß war und die Dunkelheit zu übermächtig. Wir können lernen, dass Vergebung mit Gnade beginnt. Gnade gegenüber denen, die es nicht in gleicher Weise geschafft haben, sich Corona entgegenzustellen. Gnade mit denen, die uns verletzt haben, weil sie anders dachten, nicht da waren, als wir sie brauchten oder uns gar verraten haben. Und wir dürfen gnädig mit uns selbst sein, denn auch wir haben Fehler gemacht, zu harsch geurteilt oder jemandem aus Angst den Rücken zugekehrt, der unsere Nähe gebraucht hätte.
Vielleicht beginnt am „Ende von Corona“ eine gesellschaftliche Großübung in Vergebung. Hoffen wir, dass wir alle den Sam in uns finden. Ich glaube übrigens, dass es auch in unserer Welt das kleine Volk sein könnte, von dem wir das am Ende lernen:
Unsere Kinder sind wohl die gesellschaftliche Gruppe, die in dieser Pandemie am meisten Grund hätte, sauer zu sein, denn sie wurden am Wenigsten gesehen und gehört. Doch gerade sie werden uns wohl beim Thema Vergebung am Ende eine Lektion erteilen, wenn sie all unsere Verfehlungen mit einem großen Schwamm wegwischen und mit uns jubeln, dass sie ihre Kinderwelten zurückhaben.