Der Blick vom Westen – Die #LaTdH vom 18. August
In zwei Wochen wird das Sommerloch vorbei sein. Versprochen! Wir bereiten uns auf die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg vor. Und in der Schweiz und Polen beschäftigen sich Kirchen mit der „Ehe für Alle“.
Warum hat fast jedes große Medium in Deutschland ausreichend Kapazität, persönlich mit Greta Thunberg abzurechen? Ist sie ein „Cyborg“? (Welt, zum Glück hinter der Paywall) Hätte sie nicht einfach fliegen können? (z.B. Focus, nochmal Welt, FAZ) Ist sie die andere Seite der Populismus-Medaille Trumps? (SZ)
Vielleicht, weil man(n) sich nicht gerne von 16-jährigen Frauen belehren lässt. Oder weil man lieber so weitermacht, obwohl die Arktis brennt und Grönland wegschmilzt. Vermutlich aber, weil Thunbergs Segeltörn natürlich wunderbare PR ist – und diese im Sommerloch gerade recht kommt.
Wann endet das Sommerloch? Spätestens am 1. September.
Debatte
Denn dann wird in Sachsen und Brandenburg der Landtag gewählt. In beiden Bundesländern ist ein Wahlsieg der AfD nicht unwahrscheinlich. Ob die GroKo danach weiter wankt?
Wieso wählen die so viele Wählerïnnen eine Partei, die keine Konzepte zur Zukunft der Arbeit, des Sozialstaats, zur Pflege, zum Wohnungsbau hat – aber dafür Rassismus, Ableismus („Behindertenfeindlichkeit“), „Kirchenkritik“ (siehe #LaTdH vom 04. August) und Formfehler? Wie konnte es so weit kommen? Als 1992 geborener Schwabe hüte ich mich, eine Antwort darauf zu geben.
Stattdessen: Eine Sammlung von Links, die vielleicht helfen zu verstehen und dem Titel der Rubrik alle Ehre machen:
Die Treuhand, verständlich erklärt (Krautreporter)
Die (bis jetzt) frei zugängliche FAQ der genossenschaftlichen Krautreporter beleuchten die Nachwendezeit und ihre Folgen für die ostdeutschen Bundesländer: Die rasche Vernichtung von Arbeitsplätzen, der Vermögenstransfer in den Westen und ins Ausland, die brutalen Folgen der Währungspolitik. Und: Thilo Sarrazin wirkte schon damals destabilisierend, als Abteilungsleiter im Bundesfinanzministerium.
Zum Glück erklären die Autoren den drohenden Erfolg der AfD nicht monokausal mit den damaligen politisch-ökonomischen Prozessen, aber:
Die [AfD] macht gerade mit den Ungerechtigkeiten der Wendezeit Wahlkampf in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wo im Herbst jeweils der Landtag neu gewählt wird. In keiner Partei ist der Anteil der Menschen, die sagen, vor 1989 sei die Lebenssituation besser gewesen, annähernd so hoch wie bei der AfD.
Wer die Geschichte der Wendezeit außer Acht lässt und die Ursache des heutigen Rechtspopulismus in einer „rechten Mentalität“ der Ostdeutschen sehen möchte, dem sei nicht nur die verlinkte Einführung empfohlen, sondern auch das Buch „Integriert doch erst mal uns“ von Petra Köpping.
Zwar gab die sächsische Integrationsministerin, die sich derzeit um den SPD-Vorsitz bewirbt, ihrer „Streitschrift für den Osten“ einen fragwürdigen Titel – sie beschreibt aber detailreich, wie ignorant und ungerecht politische Entscheidungen der 1990er-Jahre für Bürgerïnnen Ostdeutschlands waren.
Ostdeutsche Lebenslügen (Blätter für deutsche und internationale Politik)
Eine andere Sicht auf diese Interpretation warf Michael Lühmann (@HerrLuehmann) bereits 2017:
Die Auffassung, dass der „Ossi“ von den „Wessis“ überrannt und geplündert wurde und bis heute gegenüber dem Westen benachteiligt ist, scheint zwar mit Blick auf Lohnentwicklungen, Eigentumsquoten und Eigentumshöhen richtig und beklagenswert. Aber unschuldig ist „der Ostdeutsche“ an den Entwicklungen im Osten nicht.
Denn: Statt die freien Wahlen zu nutzen, um basisdemokratische Politik zu stärken, haben die sächsischen Wählerïnnen für die CDU und deren Wirtschaftspolitik gestimmt, haben die Bürgerïnnen mit ihrem Kaufverhalten zum Niedergang der ostdeutschen Firmen beigetragen. Und vor allem fehle es laut Lühmann an einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit „rassistischen, nationalistischen und antibolschewistischen Stereotypen“, die vom NS-Staat in den SED-Staat übernommen worden sind (am Beispiel der Juden in der DDR von Ricklef Münnich in der Eule beschrieben).
Am Rande setzt sich die Analyse auch mit den evangelikalen Christïnnen auseinander, die v.a. im süd-östlichen Sachsen der AfD zum Erfolg verhalfen. Aus evangelischer Sicht ist das bedenkens- und beklagenswert. So differenziert wird sonst selten überregional über „den Osten“ berichtet:
[…] der Riss geht nicht allein durch Ost und West, sondern quer durch Ostdeutschland: Er verläuft zwischen dem liberalen Leipzig, in dem die Lokalpolitik die Zivilgesellschaft klar im Kampf gegen rechts unterstützt, und einer Dresdner Lokal- und Landespolitik, die die Zivilgesellschaft unter Generalverdacht stellt; zwischen liberalen ostdeutschen Christen und radikalen Evangelikalen in Sachsens Süden […]
Kleine Diebe, große Totschläger (Die Zeit)
Wer kein ZEIT-Abo hat, kann direkt zum nächsten Absatz springen. Wem jedoch die aktuelle Ausgabe der ZEIT vorliegt, sollte sich Maxim Billers ungewohnt einfühlsame Geschichte über den Besuch im Stasi-Hauptquartier nicht entgehen lassen. Biller stellt die großen Fragen: Warum haben sich die SED- und Stasi-Chefs von ihrem Reichtum nicht schöne Dinge gekauft? Oder – ernsthaft jetzt – gäbe es weniger Rechtsextremismus, mit einem „ostdeutschen 68“?
Und als wir die Henselmann-Hochhäuser am Strausberger Platz passierten, in denen schon seit Jahren sehr gebildete, sehr wohlhabende Architekten, Künstler und Journalisten aus dem Westen wohnen, weil sie es so unglaublich modern finden, dachte ich daran, dass ich außer Timo keinen einzigen Menschen aus dem Osten kannte, der auf seine Großeltern oder seine Eltern so richtig sauer war.
„Mit großer Sorge und etwas Angst“ (Kommentar der Studierenden der Hochschule für Kirchenmusik Dresden)
Der knappe Appell der jungen Christïnnen aus Dresden bietet keine neue Einsichten zu den Ursachen des grassierenden Rechtspopulismus, keine tiefe Auseinandersetzung mit den (Kirchen)Politik der AfD – aber ist getragen von großer Sorge und einem schlichten Wunsch:
Wir möchten deshalb alle Christen in unserem Land, alle Mitarbeiter der Landeskirche und alle Politiker aufrufen, sich noch stärker als bisher für christliche sowie demokratische Werte einzusetzen. Wir ersuchen jeden Einzelnen, wachsam zu entscheiden und verantwortungsbewusst ein Kreuz zu setzen.
In eigener Sache: „Kirche hat die Wahl“
Die sächsische Politik und vor allem die Positionierung der Kirche im Freistaat diskutiert Die Eule am 29. August 2019, 19 Uhr im DIFO Dresden mit interessanten Gesprächspartner*innen aus Kirche, Theologie und Politik. Herzliche Einladung!
nachgefasst
Vergangene Woche schlug die Rede eines evangelischen Regionalbischofs große Wellen, der von einer deutschen „Überidentifikation“ mit dem Staat Israels sprach. Die Debatte, die auch in den #LaTdH aufgefasst wurde, hält an:
Hört auf, das Judentum nur aus christlicher Sicht zu betrachten (Christ & Welt)
Christian Rutishauser berät den Papst in Fragen des Judentums und ist das Oberhaupt der Schweizer Jesuiten. Im ausführlichen Gespräch mit Christ & Welt vergleicht er u.a. den Judenhass Luthers mit jenem von Zwingli und Calvin und relativiert die Interpretation von Matthäus 28 als „Missionsbefehl“. Außerdem nimmt er zur diskutierten Rede von Regionalbischof Abromeit Stellung:
Bischof Abromeit versuchte, in seinem Vortrag differenziert zu argumentieren. Er hat sich aber völlig verheddert, als es zum Verhältnis von Religion und Politik kommt. […] So einfach, wie er es tut, kann man von der Bibel her nicht auf heutige gesellschaftliche Verhältnisse schließen.
Und, an anderer Stelle:
Im Nahostkonflikt Mediator zu sein ist aber nicht die Aufgabe Deutschlands. Das geht wegen der Geschichte nicht.
Stattdessen solle auch in Zukunft entschieden gegen jegliche Form des Antisemitismus vorgegangen werden.
Unsägliche Allianz – Josef Schuster appelliert an die niedersächsischen CDU‐Landtagsfraktion (Jüdische Allgemeine)
Die CDU-Landtagsfraktion setzt sich – wie ihre AfD-Landtagskollegïnnen im Vorjahr – per Beschluss für ein Verbot des betäubungsfreien Schächtens ein. Eine ähnliche Forderung findet sich im AfD-Wahlprogramm in Sachsen (s. #LaTdH vom 28. Juli). Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, weist auf das anti-muslimische Ressentiment hinter dem Beschluss der Fraktion hin und macht gleichzeitig auf die Folgen für Jüdïnnen in Deutschland aufmerksam:
Obwohl das Verbot im Hinblick auf das muslimische Opferfest gefordert wird, trifft es die jüdische Gemeinschaft im Besonderen, da im Judentum der Verzehr nicht geschächteter Tiere verboten ist.
Glücklicherweise gibt es nicht nur Anfeindungen, sondern auch pulsierendes jüdisches Leben in Deutschland. Das Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam bildet seit 20 Jahren liberale Rabbinerïnnen und Kantorïnnen aus:
Rabbiner werden in Deutschland? (Die Zeit)
Aufgrund des Jubiläums wird vielerorts über die Studierenden berichtet: In der ZEIT werden vier Studierende portraitiert und berichten über ihre Motivation und die Ausbildung – aber leider auch über antisemitische Erfahrungen. Die angehende Rabbinnerin Jasmin Andriani sagt deshalb: „Ich möchte nur in meinem toleranten Viertel in Berlin leben.“ Traurig, in jeder Hinsicht.
Mit Kippa und Gebetsschal: Auf dem Weg zur Rabbinerin (katholisch.de)
Auf katholisch.de wird ebenjene Jasmin Andriani ausführlich vorgestellt. Sie stammt aus einem jüdisch-säkularen Elternhaus, lernte zunächst das traditionelle Judentum kennen – und hielt den Berufsweg als Rabbi für ein männliches Privileg. Auch nach acht Jahren Studium in Potsdam blickt sie skeptisch in die Zukunft; in Israel würden beispielsweise Ehedokumente, die von weiblichen Rabbis unterschrieben sind, nicht anerkannt, und für viele Gemeindemitglieder sei es unvorstellbar, von einer Frau bestattet zu werden.
Andriani sieht sich aber in großen Fußstapfen: Nur unweit ihres Wohnortes in Berlin wirkte Regina Jonas als weltweit erste Rabbinerin. Sie starb 1944 in Auschwitz. Heute gibt es weltweit rund 1000 Rabbinerinnen.
Auch der Deutschlandfunk widmet den Studierenden des Abraham-Geiger-Kollegs einen Beitrag, der hier nachgelesen oder -gehört werden kann.
Buntes
„Die Hand halten, wenn es zu Ende geht“ (FAZ)
Auch die beiden Klinikseelsorger Reinhard Henrich und Thomas Hammer in Höchst, die Tobias Rösmann (@troesmann) begleitete, nehmen Antisemitismus wahr: Die Thora im multireligiösen Andachtsraum wird immer wieder beschädigt oder zerstört; im Gästebuch finden sich antisemitische Kommentare. Dennoch zeigt sich, dass in der Not ein friedliches Mit- oder Nebeneinander verschiedener Religionen möglich ist:
Der Tod nimmt jeden, die Religion ist ihm egal. Das Brettchen an der Tür zum Abschiedsraum zeigt die Symbole der Weltreligionen: den Davidstern, das Kreuz, den Halbmond, das Dharma-Rad der Buddhisten und das Om-Zeichen der Hindus.
Die Ökumene geht in Höchst sogar soweit, dass der evangelische Henrich („kariertes Hemd, barfuß in Crocs“) und der katholische Hammer („kariertes Hemd, barfuß in Trecking-Sandalen“) sich wohl auf ein ökumenischen Einheitsoutfit für Seelsorgende geeinigt haben.
Eine Landeskirche outet sich (SRF)
Die reformierten Kirchen der Schweiz streitet sich über die „Ehe für Alle“. Als erste „outet“ sich die Zürcher Landeskirche und unterstützt die Einführung der Ehe für alle auf politischer Ebene. Der Kirchenratspräsident Michel Müller begründet dies wie folgt:
Die Zürcher Kirche anerkennt seit 1999 Homosexualität als gleichwertige Ausdrucksform der Liebe. Konsequenterweise folgt nun die Ehe für alle auf zivilgesetzlicher Ebene
Andere Landeskirchen widersprechen nun. Wer des Schweizerdeutschen mächtig ist, kann sich die Debatte per Video zusammenfassen lassen – selbstverständlich ist der Artikel schriftdeutsch verfasst. Als Mitglied der württembergischen Landeskirche wünsche ich meinen südlichen Glaubensgeschwistern mehr Mut und Weisheit, als meine Kirche bislang hatte.
Auch Prager Kardinal Duka verurteilt „LGBT-Ideologie“ (katholisch.de)
Weniger freundlich als die Gegner der „Ehe für alle“ in der Schweiz drückt der tschechische Kardinal Dominik Duka seine Ablehnung von gleichgeschlechtlicher Liebe aus: Die „LGBT-Ideologie“ verfolge eine „atheistische und satanistische Agenda“.
Damit springt er seinem polnischen Amtskollegen Stanislaw Gadecki bei, der vergangene Woche ähnliche Aussagen tätigte. Er verteidigte zudem den Krakauer Erzbischof, der die Bestrebung nach Gleichstellung als „Regenbogen-Seuche“ bezeichnete. Die polnische Bischofskonferenz – deren Vorsitzender Gadecki ist – forderte PolitikerInnen auf, die „Ehe für alle“ abzulehnen.
Eine Kirche muss keine Software-Firma sein (evangelisch.de)
In seinem Blog Confessio Digitalis beschäftigte sich Hanno Terbuyken (@dailybug) kürzlich mit kirchlichen Software-Lösungen: „Für die meisten Aufgaben, die wir in der Kirche erledigen wollen, gibt es die passende Software schon auf dem Markt.“
Eine einfache Wahrheit, die aber zukünftig bedacht werden sollte, bevor ein weiterer kircheninterner Messenger programmiert wird oder eine App für Insiderfragen (so z.B. die „Taufapp„). Denn zurecht bemerkt Terbuyken: „Eine Kirche, die mehr Programmierer*innen als Pfarrpersonen hätte, wäre eine andere Kirche.“ Wenn ich an die EDV-Abteilung meines diakonischen Arbeitgebers denke, kann ich nur hoffen, dass Terbuykens Ratschläge Gehör finden.
Kirchen und Social Media: Keine Zeit für Twitter und Co. (BR)
Zwar gibt es in der Kirche (noch) mehr Pfarrpersonen als Programmiererïnnen. Doch hätten diese zu wenig Zeit, um ihre Kirche in den Sozialen Medien – dort, wo sich junge Leute treffen – zu vertreten. Seltsam: Jedesmal, wenn ich Twitter öffne, lese ich Tweets von Pfarrerïnnen, Amtsträgerïinnen oder christlichen Bloggerïnnen. Völlig richtig wird im verlinkten Beitrag kritisiert, dass die Kirchen ihre Repräsentantïnnen im Internet vernachlässige:
Die Aktivitäten hängen hauptsächlich vom persönlichen Interesse und Engagement der jeweiligen Pfarrerinnen und Pfarrer ab. Getreu dem Motto: Schön, wenn es jemand in seiner Freizeit macht.
Von der EKD geförderte YouTube-Channels christlicher Influencerïnnen reichen also nicht?
Predigt
Keine Predigt im klassischen Sinn, aber das Engagement Shane Claibornes (@ShaneClaiborne) gegen die Todesstrafe und die Waffengewalt beweist, dass nicht alle US-Evangelikalen hinter Trump/Pence stehen. Ausführlich beschreibt Claiborne seine Erfahrungen und Hoffnungen bei Christian Today. Das Evangelium verkünden aber diese Geräte, hergestellt aus Gewehren und Pistolen.
These are hand shovels made from the barrel of a gun. And now we’re able to make some of the handles out of the wood from the gun stock. #BeatingGuns pic.twitter.com/xLhh0eU0VO
— Shane Claiborne (@ShaneClaiborne) August 8, 2019
Ein guter Satz
„Also erstmal ist ja die Tatsache, dass Sie hier in Reihe eins sitzen und mit Ihrer Frage nicht gefährdet sind, einfach Ausdruck, dass Sie [APPLAUS], dass Sie das sagen können.“
– Angela Merkel, lakonisch, auf den Vorwurf eines AfD-Kreistagspolitikers, sie habe Deutschland in die Diktatur geführt (FAZ auf YouTube)