Interview Kirche und Antisemitismus

„Der Schoß ist wirklich fruchtbar noch, aus dem das alles kroch!“

Die Stadtkirchengemeinde in Wittenberg hat beschlossen, die sog. „Judensau“ nicht von der Fassade zu entfernen. Wir sprachen darüber mit Christian Staffa, dem Antisemitismusbeauftragten der EKD.

Eule: Herr Staffa, was halten Sie persönlich und als Antisemitismus-Beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von der Entscheidung des Gemeindeskirchenrates der Stadtkirchengemeinde in Lutherstadt Wittenberg, die sog. „Judensau“ an Ort und Stelle zu belassen, obwohl ein Expertengremium die Abnahme empfohlen hatte?

Staffa: Ich nenne sie ja „Kirchensau“ und emotional ist eigentlich klar, dass sie weg muss. Intellektuell ist es aber so, dass man sich mit diesen Abgründen auch bildhaft beschäftigen muss. Da die Darstellung aber so obszön und gotteslästerlich ist, habe ich schon immer für eine Verhüllung plädiert. Im Expertenbeirat, dem ich angehört habe, war ich damit in der Minderheit. Ich habe der Empfehlung des Beirates, die Plastik abzunehmen, aber zugestimmt, weil ich die Entscheidung „Abnehmen oder nicht?“ nicht als Bekenntnisfall sehe.

Eule: Was meinen Sie damit?

Staffa: Im Expertenbeirat gab es eine große Mehrheit für das Abnehmen, der Gemeindekirchenrat hat sich nun anders entschieden. Wichtig aber erscheint mir die Frage, wie wir mit diesem antisemitischen Abgrund politisch, theologisch und pädagogisch umgehen. Das ist mit einer Entscheidung für oder gegen das Abnehmen gar nicht ausreichend geklärt. Wo ich bekenntnishaft agieren würde: Ich will die Sau nicht im Museum haben, weil ich sehr entschieden dafür bin, dass die Verbindung zum Kirchlichen bleiben muss, sonst stehlen wir uns aus der Verantwortung.

Eule: Die Expertenkommission hatte empfohlen, die Schmähplastik „in unmittelbarer Nähe“ auszustellen. Was hätte das denn bedeutet? Es ist ja nun so, dass die Sau schon einmal an einer anderen Stelle angebracht war. Ich befürchtete, sie würde nun ein drittes Mal „installiert“. Denn mit einem neuen Ort wäre ja auch verbunden gewesen, sie aktiv erneut aufzustellen.

Staffa: So war die Empfehlung der Expertengruppe aber nicht gemeint. Es ging wirklich darum, sie von der Kirche zu entfernen. Die Idee war, sie in einem bisher leerstehenden Laden direkt am Markt auszustellen. Das wäre also ein säkularer, aber kein musealer Raum gewesen, der der Öffentlichkeit ständig zugänglich gewesen wäre. Mir war die Verbindung zur Kirche sehr wichtig. Die Sau ist Teil unserer Geschichte und wir werden diesen Teil nicht los, wenn wir sie in eine säkulare Ecke stellen. Deshalb bin ich gegen eine Ausstellung in einem Museum gewesen.

Eule: Ich verstehe die Entscheidung des Gemeindekirchenrates nicht als Bekenntnis zur Aussage der Plastik, sondern als Bekenntnis dazu, dass sie ein Teil unserer Geschichte ist. Ist das nicht ehrenwert?

Staffa: Meiner Ansicht nach ist es jedenfalls ein Versuch, mit diesem Abgrund, mit dieser Widerlichkeit, mit diesem Antisemitismus umzugehen, ihn nicht weg zu lügen. Jetzt kommt es aber darauf an, was mit der Plastik weiterhin passiert. Der Titel („Rabini Schem HaMphoras“) ist, wenn Sie so wollen, eine antijüdische Umdrehung weiter, die bei anderen antisemitischen Darstellungen an und in Kirchen nicht besteht. Die Verunglimpfung des Gottesnamens macht die Plastik tatsächlich einfach gotteslästerlich. Das ist total schmerzhaft. Deswegen hätte ich auch an einem anderen Ort für eine Verhüllung plädiert oder dafür, die Plastik nur zu bestimmten Zeiten offen zu zeigen. So würde man zeigen: Wir wollen das auch nicht die ganze Zeit angucken, aber wir wollen daran arbeiten.

Eule: Was nützt eine Verhüllung, wo ich doch mit einem Griff zum Smartphone herausfinden kann, was da verhüllt wird? Wir wissen ja auch aus unserer religiösen Tradition, dass das Unsichtbare besonders interessant, dass eine temporäre Verhüllung besonders attraktiv ist. Ich sehe da schon das Problem der Fetischisierung dieses Objekts.

Staffa: Die Gefahr gibt es und man muss ihr durch eine Art der Darstellung entgegentreten, die nicht pathetisch ist, sondern das Blasphemische des Objektes zu bändigen versucht. Wir wollen an diesen Bildern wachsen, Selbst- und Fremdaufklärung betreiben.

Eule: Wäre dafür ein Museum oder der Schulunterricht nicht doch der bessere Ort, an dem man die Plastik als Teil der Geschichte, mit allen Konsequenzen bis in die Gegenwart hinein, begreifen kann, nicht als sich quasi schicksalshaft stets neu aktualisierendes Verhängnis?

Staffa: Mein Bildungsbegriff ist da weiter, muss ich sagen. Ich will auf der Straße bilden, ich will an der Stadtkirche bilden, auf einer Stadtführung. Das ist öffentliche Bildungsarbeit. Wenn da eine Irritation auftaucht, nichts besser als das! Die Orte sind ja alle da und werden besucht, auf jeder Nachtwächter-Führung wird Bildung vermittelt.

Die Frage, wie ein angemessener Umgang mit der Plastik an der Fassade aussehen kann, ist jedenfalls eine experimentelle Frage. Wir müssen dazu auch in die Kirche schauen mit ihrem „Reformationsaltar“ von Lucas Cranach dem Älteren. Am gesamten so oft haarsträubend antijüdischem Bildprogramm müssen wir uns abarbeiten und da ließe sich in meinen Augen mittels einer Projektion an der Kirchenfassade eine Menge machen.

Streit um die antisemitische „Judensau“

Der (Rechts-)Streit um die antisemitische Schmähplastik an der Wittenberger Stadtkirche zieht sich schon seit Jahren hin. Den aktuellen Stand haben wir in den #LaTdH vom 30. Oktober 2022 zusammengefasst. Im Sommer 2022 war Eule-Redakteur Philipp Greifenstein in Wittenberg und hat eine „Ortsbegehung“ durchgeführt, von der er zahlreiche Fotos mitgebracht hat, mit deren Hilfe sich auch Ortsunkundige einen Eindruck vom Mahnmal-Ensemble verschaffen können.

Eule: Die bisherige Kontextualisierung wird in Wittenberg von Bürger:innen und auch von den Gemeindemitgliedern wertgeschätzt. Ich halte sie als Besucher allerdings für wirklich defizitär. Das Mahnmal von 1988 ist schwer zu lesen, voraussetzungsreich und damit für viele Menschen unverständlich. Die Kontextualisierung müsste also offensichtlicher, vielleicht auch pädagogischer werden. Aber wird die Aussage der Plastik nicht dadurch, dass wir sie aus hehren Motiven immer wieder neu übersetzen, auch immer wieder aufs Neue aktualisiert? Unter der sog. „Judensau“ stehend habe ich mir gedacht: Wer würde da hochschauen, wenn das Denkmal nicht wäre?

Staffa: Das beschreibt in jedem Fall ein Problem. Und wenn ich nicht den Eindruck hätte, dass wir es immer noch – und zwar massiv – mit Antisemitismus zu tun haben, der in Verbindung mit unserer Tradition steht, dann würde ich sagen: „Ignore it!“ Dazu ist aber die Tradition zu brutal und der Protestantismus in der lutherischen Prägung so manifest gebunden an Antisemitismus, dass wir nicht drumherum kommen, uns damit permanent zu beschäftigen.

Eule: Es gibt ja weitere antisemitische Darstellungen an und in Kirchen. Sollten die alle untersucht werden? Müssen da überall Informationstafeln dran?

Staffa: Ich finde es in jedem Fall richtig, das zu tun. Aber wie, das müssen die Verantwortlichen jeden Ortes selbst entscheiden. Wir müssen uns fragen, was diese Darstellungen uns bedeuten, was wir mit ihnen machen wollen. Es gibt aber keine einheitliche Lösung für alle Orte und Kontexte.

Eule: Ich kann jene Wittenberger ein wenig verstehen, die das Gefühl haben, sie würden herausgepickt. Ihre Stadtkirche soll mit einer aufwendigen Installation zu einem Antisemitismus-Gedenkort werden, während anderswo die Füße stillgehalten werden.

Staffa: Wittenberg ist nun mal das „Jerusalem des Protestantismus“, aufs Tiefste mit der Geschichte des Luthertums verbunden. Insofern kommt man daran nicht vorbei. Für eine solche Art der Kränkung habe ich kein Verständnis. Im Gegenteil, es wäre ja gerade eine anerkennenswerte Aufgabe für die Wittenberger, sich sensibel mit christlichem Antisemitismus zu befassen, weil sie wissen: Es ist nicht vorbei!

Auch weil der christliche Antisemitismus in das Säkulare eingewandert ist: Das Verratsmotiv, das Verschwörungsmotiv, das ist alles lebendig! Häufig, ohne dass die Leute wissen, was für einen christlichen Hintergrund diese Ideen haben. Wir sind die, die das bearbeiten können, weil wir mit ihm leider vertraut sind. Wir können uns dieser mörderischen Tradition stellen, weil wir etwas vom simul iustus et peccator („zugleich gerecht und Sünder“) wissen und keine Kategorien der Reinheit pflegen müssen. Wir könnten sagen: Wir sehen unsere eigene Schuld, aber wir wollen und können mit ihr umgehen, ohne zu wissen, wo genau wir landen werden. Wir suchen einen experimentellen Weg und begeben uns in einen selbstreflexiv-produktiven gesellschaftlichen Prozess.

Eule: Für mich klingt das ein wenig nach „Überholen ohne einzuholen“. Sind die lutherischen Christen wirklich in der Position, andere über Antisemitismus zu belehren?

Staffa: Die Studie über Kirche und politische Kultur „Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung“ zeigt, dass Christen, was den klassischen Antisemitismus angeht, weniger anfällig sind als Säkulare. Und wir sehen ja während der Corona-Pandemie, wie antisemitische Bildprogramme und Propaganda in Sekundenschnelle aufpoppen. Der Schoß ist wirklich fruchtbar noch, aus dem das alles kroch!

Mich beschäftigt auch die Frage, ob Bilder nicht stärker sind als unsere aufklärerischen Worte. Dieses Problem ist ungelöst, vielleicht unlösbar. Wir kommen aber nicht drumherum, in dieser Spannung doch Aufklärung zu betreiben und dazu gehört das Risiko, manche Bilder auch zu zeigen.

Eule: Sie sind seit 2019 der offizielle Beauftragte des Rates der EKD für den Kampf gegen Antisemitismus. Es wird viele Christ:innen überraschen, dass es so einen gibt. Werden Sie denn aus den EKD-Gliedkirchen und von den Organen der EKD kontaktiert, wenn man dort Antisemitismus-Expertise sucht?

Staffa: Also über Unterbeschäftigung kann ich nicht klagen.

Eule: Haben Sie denn den Eindruck, dass das Amt so ausgestattet ist, dass Sie der Aufgabe auch nachkommen können?

Staffa: Es handelt sich ja um ein Ehrenamt. Man hat mich auch berufen, weil ich auf dem Feld sowieso schon sehr viel tue. Das Amt passt zu meinem Arbeitsschwerpunkt in der christlich-jüdischen Zusammenarbeit, meiner Tagungstätigkeit im Bereich Antisemitismus und meinem ehrenamtlichen Engagement, zum Beispiel als Mitglied des Kuratoriums des Instituts Kirche und Judentum, als christlicher Vorsitzender der AG Juden und Christen beim Kirchentag, als Mitglied im Sprecher*innenrat der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus und als EKD-Vertreter in der Moses-Mendelssohn-Stiftung.

Eule: Also war es für die EKD eine praktische Sache zu sagen: Der Herr Staffa macht einfach weiter, was er schon immer macht, das kostet uns weiter nichts, und wir haben jetzt offiziell einen Antisemitismusbeauftragten?

Staffa: Na ja, er macht weiter, was er immer schon macht, aber er macht auch mehr und mit mehr kirchenoffiziellem Gewicht – was zeigt, dass diese Arbeit der Kirche wichtig ist! Zum Beispiel die Beratung der Organe der EKD, auch im Hinblick auf die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), die in diesem Jahr in Karlsruhe stattfand. Wie können wir auf die Tendenz, dass Israel als  „Apartheidsstaat“ bezeichnet wird, sinnvoll abwehrend reagieren? Da wurde ich nach Stellungnahmen und Texten gefragt. Das hätte ich ohne das Amt nicht gemacht. Und das Amt kostet die EKD ja auch was: Es gibt eine halbe Sachbearbeiterstelle, die mir genehmigt wurde, ohne die ich die Arbeit gar nicht machen könnte.

Eule: Die habe ich im Haushalt der EKD entdeckt. Es gibt ja eine ausführliche Diskussion darüber, was sich die Kirche noch leisten kann: Soll sie sich aufs „Kerngeschäft“ beschränken oder weiterhin viele Dinge finanzieren, die unter der Überschrift „gesellschaftliche Verantwortung“ laufen. In letzter Zeit pendeln die Entscheidungen zum „Kerngeschäft“. Gehört der Kampf gegen Antisemitismus dazu? Ist er unverzichtbar oder ein Gimmick?

Staffa: Ich finde, das ist ein lustige Gegenüberstellung, denn er ist Kerngeschäft, gerade weil er unsere gesellschaftliche Verantwortung ist! Ich weiß nicht, ob das Amt eines Beauftragten unverzichtbar ist, aber die Arbeit am Problem des Antisemitismus und was ich tue, ist es – bei aller Demut und Bescheidenheit – ganz sicher.

Eule: Wie steht es denn um die Vernetzung von Akteur:innen innerhalb der EKD-Gliedkirchen bei diesem Thema? Nimmt man sich da als eine Evangelische Kirche wahr oder rödelt jede:r vor sich hin?

Staffa: Ein schönes Feindbild, stimmt aber nicht! Es gibt den Gemeinsamen Ausschuss „Kirche und Judentum“ der EKD, der VELKD und der UEK, in dem Leute aus den Landeskirchen zusammenarbeiten, und die Konferenz landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK), die einmal im Jahr eine Tagung und einen Newsletter haben. Seit 2016 gibt es auch das von der Evangelischen Akademie zu Berlin, dem Comenius Institut und der Theologie an der Uni Oldenburg gegründete Netzwerk antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie (narrt) mit inzwischen 140 Mitgliedern, in dessen Steuerungsgruppe ich mitwirke.

Eule: Worin besteht bei alldem die Aufgabe eines Beauftragten des Rates der EKD für den Kampf gegen Antisemitismus?

Staffa: Meine Aufgabe ist es, das Christliche in diesen Dingen aufzuspüren, selbstreflexiv zu arbeiten. Meine Aufgabe sind die christlichen Grundierungsfragen. Ein wichtiges Thema sind zum Beispiel die Lehrbücher für den Religionsunterricht, wo wir auch vernetzt mit den Zentralrat der Juden in Deutschland arbeiten. Gerade mit dem Zentralrat stehe ich sehr engem Kontakt, genauso wie mit der Jüdischen Akademie, die gerade in Frankfurt gegründet wird. Durch diese Kooperationen lerne ich und lernen wir als Kirche ungemein hinzu.


Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.


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