Graffiti in einer brasilianischen Favela (Foto: Thorsten Dietz)

Die Eine-Millionen-Dollar-Frage der Pfingstler

Wie kann es sein, dass Christ:innen rechtspopulistischen Kulturkriegern wie Jair Bolsonaro anhängen? Thorsten Dietz erklärt, was evangelikale Pfingstler in Brasilien wirklich bewegt:

Jair Bolsonaro und Donald Trump teilen nicht nur einen polarisierenden Politikstil. Gemeinsam ist ihnen auch eine besonders verlässliche Wählergruppe: die Evangelikalen. Alle sind sich einig, dass Bolsonaro vor allem ihnen seinen Wahlsieg von 2018 verdankt. Auch in der jetzigen Wahl im Oktober 2022 sind sie sein stärkster Rückhalt und seine größte Hoffnung (s. hier in der Eule).

War Brasilien vor einigen Jahrzehnten noch ein fast geschlossen katholisches Land, so machen Evangelikale, überwiegend neopentekostale Gruppen inzwischen schon über 30 % der Bevölkerung aus. Entgegen ihrem Selbstverständnis sind diese Gruppen nicht selten hoch politisch. Offenbar haben sie, wie weiße Evangelikale in den USA, eine starke Affinität zu autoritärer Politik, streben nach Macht und Einfluss. Auch wenn sie weder in den USA noch in Brasilien eine gesellschaftliche Mehrheit stellen, spielen sie bei politischen Wahlen eine Schlüsselrolle.

So wesentlich diese Einsicht in den politischen Charakter dieser Bewegungen ist, so sollte darüber etwas anderes nicht vergessen werden: Es sind religiöse Bewegungen. Wer sich mit ihnen auseinandersetzen will, sollte ihre religiösen Antriebskräfte kennen. Gerade wer den gegenwärtigen politischen Einfluss dieser Strömungen aus einer westlich-demokratischen Perspektive höchst problematisch findet, sollte näher hinschauen: Wie konnte es passieren, dass weltweit Menschen, die sich als Jesusnachfolger*innen bezeichnen, rechtspopulistischen Kulturkriegern anhängen?

Vor allem für Südamerika stellt sich dabei eine Art Eine-Millionen-Dollar-Frage: Wie konnte es passieren, dass sich zwar die befreiungstheologischen Akteure der Katholischen Kirche mit ihrer „Option für die Armen“ für die Armen entschieden haben, viele Arme aber für die Pfingstkirchen?

Ein Teil der Antwort liegt in Europa. Der Vatikan hat mit einer rigorosen Theologiepolitik dafür gesorgt, allen Ansätzen von befreiungstheologischen Basisgemeinden die kirchliche Unterstützung zu entziehen. Aus den Gemeinden an der Basis tönt heute nicht so sehr das Rosenkranzgebet, sondern Lobpreis und Sprachengebet. Die schwindende Selbstverständlichkeit eines katholischen Lateinamerikas ist zu einem bedeutenden Teil Folge einer vermeintlich „antikommunistischen“ Kirchenpolitik unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI.

Aber der Erfolg der Pfingstbewegungen liegt nicht nur in der Schwäche des Katholizismus begründet. Er hat innere Gründe, von denen ich vier nennen möchte.

Erstens: Präsenz

Während eines Brasilienaufenthaltes habe ich einem guten Kenner der Entwicklungen die Eine-Millionen-Dollar-Frage gestellt. (Und darüber auch schon im „Wort und Fleisch“-Podcast berichtet.) Er hielt sich nicht lange auf mit der Erklärung, wie komplex solche Fragen sind, sondern sagte: Das lässt sich relativ leicht beantworten. Die Pfingstkirchen waren erfolgreicher, weil sie da waren. In den Favelas, den Armenvierteln, in der Armut.

Pfingstkirchliche Pastoren haben nicht nur über die Armen geredet und sich verbal an ihre Seite gestellt. Sie sind mit ihrer Familie in die Armenviertel gezogen. Und sie konnten dort Fuß fassen, weil sie nicht selten dort aufgewachsen sind. Sie haben kein langes Studium durchlaufen, keinen urbanen Sozialisationsprozess, währenddessen sie Mitglied der intellektuellen Eliten des Landes wurden. Pentekostale Erfolge gründen stark in der hohen intrinsischen Motivation ihrer Trägergruppen. Sie ist stark genug, auch das Leben in sehr gefährlichen Vierteln für sich selbst und die eigene Familie auf sich zu nehmen. Pentekostale Gemeindearbeit ist Leben mit „Skin in the Game“, wie Nassim Nicholas Taleb sagen würde.

In den Favelas gibt es kein unsichtbares oder anonymes Christentum. Kreuze sind grell, Bibelverse riesig, Jesusbilder intensiv. Prediger der Pfingstkirche sind sichtbar. Auch an heißen Tagen tragen sie zum Beispiel Anzug und Krawatte, ein großes Kreuz an einer Kette oder eine riesige Bibel in der Hand. Sie sind da. Sie sind nicht nur ansprechbar, sie sprechen dich an. Sie strahlen nicht nur etwas aus, sie strahlen dich an. Und diese leibhafte Präsenz macht einen Unterschied, der mit Worten nicht zu überbrücken ist.

Zweitens: „Wohlstandsevangelium“

Neben diese hohe intrinsische Motivation, den eigenen Glauben weitergeben zu wollen, tritt eine bestimmte Ausrichtung an diesseitiger Not. Ein Stichwort, das man mit den neupfingstlichen Strömungen verbindet, ist „Wohlstandsevangelium“. Sind das nicht die Gemeinden, wo es vor allem um Geld geht, um Reichtum und Macht, sagenhaft teure Uhren, jedes Kleidungsstück ein Statussymbol und am Ziel aller Träume: der Privatjet des Pastors? Natürlich nur für den Dienst, alles für den Herrn.

Ja, das gibt es. Evangelikale Theologie insgesamt tut sich schwer mit Kreuzestheologie. Die Ausrichtung auf Erfolg und Einfluss ist weit verbreitet. Keine religiöse Gruppe ist vom eigenen Wachstum stärker fasziniert (und vom Ausbleiben desselben stärker frustriert …) als diese.

Aber die übliche Kritik dieser Haltung übersieht die Wahrheitsmomente des sog. „Wohlstandsevangeliums“. Schon der Begriff ist irreführend. Er lenkt den Blick zu sehr auf die Starprediger, für die sich der Glanz Gottes am schönsten im Lack der eigenen Luxuskarosserie zu spiegeln scheint. Für 99,99 % der Gläubigen geht es um andere Dinge, die nichts mit dem zu tun haben, was man im Westen ernsthaft als „Wohlstand“ bezeichnen könnte.

Es ist interessant, solche Heilungsgottesdienste einmal zu beobachten, ohne zu verstehen, was da gesagt wird. Denn Wesentliches zeigt sich schnell. Im Gottesdienst gibt es wenig Raum für traditionelle Liturgie. Auch die Predigten sind in der Regel kürzer als die musikalische Anbetung. Zentralen Raum nehmen Heilungs- und Befreiungszeiten ein. Sie besetzen scheinbar die Planstelle der großkirchlichen Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeiern. Was sieht man? An mehreren Orten der Halle gleichzeitig bilden sich kleine Menschentrauben. Menschen treten heraus aus der feiernden Masse, sie erzählen, was sie bewegt und bedrückt. Andere sammeln sich um sie, Hände werden aufgelegt, die Gruppe verschmilzt regelrecht in einer grossen Umarmung. Es fließen viele Tränen, des Leidens und der Freude. Auch Geister werden ausgetrieben.

Worum es geht, lässt sich in den Kommentaren unter reichweitenstarken YouTube-Videos einschlägiger Gemeinden gut studieren. Nicht um Privatjets und goldene Zähne, sondern um die Kraft, an eigener und fremder Krankheit nicht zu zerbrechen. Den Kindern ein Einschlafen ohne Abendessen zu ersparen. Einen neuen Job zu finden, nach dem sie zum wiederholten Male in diesem Jahr entlassen wurden. Versöhnung in einer zerstrittenen Familie.

Bei aller berechtigten Kritik ist das „Wohlstandsevangelium“ für viele zuerst einmal ein Wohlfahrtsevangelium: Im Zentrum des Gottesdienstes geht es um das Wohl der Menschen. Und diese gemeinsame Fürsorge für das Wohl jedes Einzelnen schweißt zusammen.

Drittens: Autorität

Ein politisch bedeutsamer Faktor ist die Tatsache, dass die Wahlempfehlungen einflussreicher Prediger*innen in sozialen Netzwerken großes Gewicht haben. Autorität und Einfluss der Führungsfiguren ist für diese Frömmigkeit selbstverständlich. Autoritarismus ist überhaupt ein Grundzug dieser Frömmigkeit. Die starke Stellung der Prediger*innen entspricht der symbolischen Glaubenswelt: Jesus Christus wird als Herr und König verehrt. Seine Leitung wird in Alltagsfragen aller Art erwartet. Dieser autoritäre Zug der Frömmigkeit zeigt sich auch im Bibelverständnis: Die Bibel gilt als absolute Autorität. Sie soll idealerweise nicht interpretiert, sondern befolgt werden. Gehorsam steht im Zentrum des Glaubensverständnisses.

Diese Logik spiegelt sich schließlich auch in der Moral und im Gesellschaftsverständnis. Eine stark betonte Familienethik ist weit verbreitet und unumstritten. Die Ehe als göttliche Stiftung, Kritik an vorehelicher Sexualität und Ehebruch, Ablehnung von Scheidung, Verurteilung von nicht-heterosexuellen Beziehungsformen, all das ist gespeist von einem Bedürfnis nach göttlich gegebener Ordnung und ihrer treuen Befolgung. Diese Positionen stoßen in westlichen Gesellschaften auf besonderes Unverständnis.

So fern es mir liegt, sie insgesamt inhaltlich zu verteidigen oder zu entschuldigen, muss man sich die internen Motive der Erweckten klarmachen. Der Einsatz für den Schutz der Familie basiert bei vielen auf der Erfahrung ihrer massiven Brüchigkeit. Es macht in der Favela einen großen Unterschied, ob Kinder in kaputten und chaotischen Beziehungswelten groß werden, mit wechselnden Bezugspersonen leben, für die Gewalt, Sex oder Drogen zum Alltag gehören; oder ob sie zuhause eine Höchstschätzung von Familienzusammenhalt vermittelt bekommen. Eltern, die Treue zueinander leben und ihre Kinder zu Loyalität, Schulbesuch und Arbeit anhalten, machen am sozialen Abgrund einen großen Unterschied.

Tatsächlich hängen nicht wenige soziale Aufstiegsgeschichten der Gläubigen mit einem solchen Wertegefüge zusammen. Religion als Stabilisierung sozialer Ordnungen, als ideelle Grundlage sozialer Disziplinierung mag aus liberaler Sicht repressiv erscheinen. Es gehört freilich auch zu den Privilegien liberaler Gesellschaften, instabile Familien höchstens als persönliches Leid und nicht als soziale Katastrophe erfahren zu müssen. In einer gefährlichen Welt ist die Anziehungskraft „heiler“ Familienwelten erheblich. Dass diese starke Betonung strikter Lebensordnungen massive Ausgrenzungen mit sich bringt, steht auf einem anderen Blatt.

Viertens: Ermächtigung

Man muss den Wunderglauben der Neopentekostalen nicht teilen, um die lebensweltlichen Erfolge ihrer Mission anzuerkennen: „Nicht wenigen Menschen aus prekären und verwundbaren sozialen Verhältnissen, die von Alkoholismus und häuslicher Gewalt geprägt sind, gelingt es offenbar besser, der Misere zu entfliehen und sich in die Arbeitswelt zu integrieren, nachdem sie sich einer evangelikalen Kirche angeschlossen haben“.

In pfingstkirchlicher Frömmigkeit geht es nicht um die letzten Sinnfragen des Lebens, die von Menschen diskutiert werden, deren Grundbedürfnisse weitgehend gestillt sind. Religion ist noch einmal ganz anders direkt jene Kraft, die Menschen im Diesseits überleben lässt. Ja, vom Glauben an Jesus Christus verspricht man sich das ewige Leben, die zentrale Bedeutung der Christusbeziehung wurzelt jedoch nicht selten in der Erfahrung, dass seine Kraft hier und jetzt in Verzweiflung tröstet, aus Einsamkeit befreit, von Krankheit erlöst und die Erfahrung von eigener Wirkungsmacht, z.B. im Gebet für andere, ermöglicht.

Wohin führt der Weg der Pfingstler in Brasilien?

Die spannende Frage ist, was für eine politische Haltung sich mit dieser Frömmigkeit verbindet. Werden sich diese Gläubigen von politischen Ideologen einhämmern lassen, dass „die Linken“ ihre Feinde und der Liberalismus ihr Unglück sind? Werden sie den Dualismus ihrer Erlösungsfrömmigkeit eins zu eins auf politische Auseinandersetzungen übertragen und den politischen Gegner kaum noch vom altbösen Feind ihres Gottes unterscheiden können? Wird die Erfahrung eigener Ermächtigung zum Streben nach Macht in der politischen Welt? Es gibt eine globale christliche Rechte, für die diese Verschmelzung religiöser und politischer Energien kaum noch auflösbar zu sein scheint.

Oder werden sie die soziale Kraft ihres Glaubens ernst nehmen und realistisch fragen: Welche Folgen haben politische Programme tatsächlich für das alltägliche Leben der Armen? Durch welche Projekte wird die Situation der Benachteiligten verbessert? Welche ideologische Polemik lenkt letztlich nur ab von den sozialen Herausforderungen der Politik?

Anders als bei der großen Mehrheit der weißen Evangelikalen in den USA gibt es durchaus noch die Chance, dass zumindest ein erheblicher Teil der Evangelikalen in Brasilien sich nicht auf den religiösen Krieg gegen vermeintlich linksliberale Feinde einschwören lässt, sondern sich an der Wahlurne pragmatisch für die Wohlfahrt aller entscheidet.

„Das Wort und das Fleisch“ – Der Pentekostalismus

In einer hörenswerten Ausgabe des Podcasts „Das Wort und das Fleisch“ vertiefen Thorsten Dietz und Martin Christian Hünerhoff das Thema Pfingstkirchen und Neopentekostalismus, auch am Beispiel Brasilien. In der Eule hat Frederik Ohlenbusch den Podcast #abgehört: „Die Vermessung der christlichen Welt“.