Die Vermessung der christlichen Welt

Der Podcast „Das Wort und das Fleisch“ erklärt das bunte Christentum im 21. Jahrhundert. Hörer:innen erleben einen ungemeinen Faktenreichtum und finden Orientierung auf der Weltkarte der Christenheit.

Als kleiner Bub hatte ich ein großes Hobby: Landkarten anschauen. Es fing mit einem Schreibtischunterleger an, irgendwann snackte ich mir den Schulatlas meines größeren Bruders. Ich war einer von diesen Nerds, die beim Auswendiglernen von Flaggen und Hauptstädten gründlicher waren als bei der Zahnhygiene. Ein toller Überblick über Ländergrenzen und Flüsse ist faszinierend. Punkte und Striche auf einem blassen A3-Bogen geben einem das Gefühl, alles zu überblicken. Wie ist es wohl, in Kamtschatka zu leben?

Thorsten Dietz und Martin Christian Hünerhoff versuchen in ihrem Podcast „Das Wort und das Fleisch“, ein Panorama der Kirchen und Christ*innen auf der ganzen Welt zu zeichnen. Mit bis zu dreistündigen Folgen zeichnen die theologisch versierten Moderatoren die Linien der aktuellen Erscheinungsformen des christlichen Glaubens nach. Da es unfassbar viele Geschmacksrichtungen des Christentums gibt, man spricht gängiger Weise von Konfessionen, eine ambitionierte Aufgabe. Wie ist es wohl, altkatholisch zu sein?

Allerdings greifen die beiden nicht zu den klassischen Begrifflichkeiten aus der Konfessionskunde, sondern widmen sich insbesondere Phänomenen der letzten 100 Jahre: Etwa dem Linksprotestantismus, dem neueren rechten Katholizismus oder auch dem Bedeutungsverlust der akademischen Theologie. Nachdem „Das Wort und das Fleisch“ eigentlich abgeschlossen war, sind neue Folgen mit tagespolitischem Bezug veröffentlicht worden. So gab der Ukraine-Krieg Anlass, die eigentlich ausgelassene Orthodoxie zu besprechen, zumindest mit Blick auf die Hintergründe des russischen Angriffs.

Leider bleiben andere Ostkirchen bisher unberührt. Es spricht aber für die Professionalität des Formats, dass Dietz und Hünerhoff darauf verzichten über Kirchen zu sprechen, in denen sie sich nach eigenen Angaben nicht genügend auskennen.

Ein Atlas der Christenheit

Konzeptuell vertritt „Das Wort und das Fleisch“ einige Thesen, die bei der Sortierung zwischen „Kulturprotestantismus“ oder „Fundamentalismus“ helfen und die manchmal recht großspurig daherkommenden Titel der Folgen erklären. Dazu gehört die historische Beobachtung, dass sich alle Spielarten des Christentums durch eine kleinere oder größere Zäsur in den 1960er Jahren stark modifiziert haben – und diese Prägung bis heute sichtbar sei.

Thorsten Dietz übernimmt den allergrößten Redeanteil und wird nicht selten von seinem Gesprächspartner geradezu interviewt. Es ist die große Stärke von Dietz, eine beeindruckend gut aufgestellte Sachkenntnis, ein Talent für schlichte und zielsichere Schilderung und eine enorme Portion Selbstironie und Humor zu vereinen. Wie sein Gesprächspartner bezieht auch er gelegentlich Position oder plaudert aus seiner eigenen christlichen Biografie, das trägt aber nur zur Authentizität und Glaubwürdigkeit bei, da alle behandelten Kirchen und Gruppen kritisch und fair untersucht werden – auch die eigenen.

Hünerhoff kommt der vermeintlich kleinere Part als Gesprächsleiter, Fragesteller und Korrektor zu. Es gelingt ihm sehr gut, im sehr dichten und schnellen Verlauf der Folgen etwas zu bremsen, Dietz mit provokanten Fragen aus der Reserve zu locken und so als Anwalt der Hörer*innen zu agieren.

Die Produktionsqualität ist fast durchgehend hervorragend. In mehreren dutzenden Stunden Podcast registrierte ich nur einen hörbaren (aber kaum störenden) Aufnahmefehler. Das ist auf dem Niveau von Spotify Originals & Co. Hier ist die Handschrift von Hünerhoff zu erkennen, dem Gründer von „Worthaus“, unter dessen Flagge „Das Wort und das Fleisch“ veröffentlicht wird.

Kontext außerhalb des Kirchhofs

Ganz behutsam werden einzelne Texte, Persönlichkeiten oder theologische Konzepte ausgewählt, die als grobes Gerüst dienen. So gelingt es Dietz mit Hilfe von Max Webers Kategorien Kulturprotestantismus und Linksprotestantismus außergewöhnlich überzeugend auseinander zu sezieren. Die Verwicklung konservativer Theolog*innen in den USA mit der Stürmung des Kapitols werden mit ausgewählten bizarren Statements illustriert.

Der Podcast folgt dem Ansatz, Kirchen- und Theologiegeschichte eng mit der sonstigen Zeitgeschichte zu verknüpfen. Fast spielend dauert es stets nur wenige Minuten, um ein gutes Bild von den jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Umständen eines Umbruchs in der Kirche zu haben. Ein großes Geschenk, da Theologiegeschichte gerne auch mal mit zu wenig Kontext außerhalb des Kirchhofs betrieben wird.

In diesem Zusammenhang musste ich ab und zu schlucken, wenn im Gesprächsverlauf etwas lässig Vergleiche und Wertungen aus der Hüfte geschossen kamen. Der mittelbare Vergleich der linken Bewegung der 1960er Jahre mit der gegenwärtigen AfD, der sich aus der generellen Obrigkeitsskepsis und Polemik gegen „die da oben“ ergebe, war einer dieser schwächeren Momente. Vor dem Hintergrund der sonst sehr klaren und pointierten Darstellung erscheint mir so ein Schnellschuss aber verkraftbar: Die lockere und freie Gesprächsführung sollte man nicht einbüßen, um sich nach allen Seiten abzusichern.

Manchmal würde ich mir wohl noch mehr Quellenmaterial wünschen, denn nicht selten wird ein Fass nach dem anderen aufgemacht. Wie ist es denn jetzt mit Rudolf Bultmann? Ist er überhaupt noch Christ, wie Hünerhoff aufgesetzt naiv fragt, oder laut Dietz ein Vertreter der Wort-Gottes-Theologie mit konservativer Dogmatik und liberaler Exegese? Stiegen die beiden hier allerdings noch tiefer ein, würde der Podcast zu einer Vorlesung werden. Sowieso nutzen Theologiestudierende „Das Wort und das Fleisch“ mittlerweile für Ihre Examensvorbereitung.

Mit dem Notizzettel in der Hand

Ohne Notizzettel in der Hand und eine geöffnete Suchmaschine sind viele Referenzen, Empfehlungen und Witze für mich nicht zu stemmen. Wer ohne ausgeprägte Theologie-Manie soll denn Sätze verstehen wie: „Ist das noch Franklin Graham oder schon Peter Hahne?“ Zum Glück werden besonders neugierige Hörer*innen mit einer Literaturliste auf der Website des Formats verwöhnt.

Höhepunkte des Podcast waren für mich die Folgen zum Protestantismus außerhalb der deutschen Landeskirchen. Ich selber komme aus einer spirituell unbedarften Landeskirche aus Norddeutschland und war entsprechend froh über die vielen Klarstellungen, was denn nun „evangelikal“, „fundamentalistisch“, „episkopal“ und andere seltsame Wörter eigentlich bedeuten.

„Wort und Fleisch“ bockt. Diejenigen, die es bereits mit der sechsten „Einführung in das Christentum“ versucht haben und dabei eingenickt sind, können es mit diesem Podcast nochmal versuchen. Der Podcast schafft mit seiner konsequenten Differenziertheit gegenüber allen Seiten und enormen inhaltlichen Breite und Tiefe Orientierung auf der „Weltkarte der Christenheit“. Durch den stets selbstironischen, aber nicht unernsten Stil fühle ich mich angenehm herausgefordert, auch mein eigene Adresse auf ihr zu hinterfragen. Dabei wurde ich auch gut unterhalten, für einen christlichen Podcast leider nicht selbstverständlich.

Wer die historischen Hintergründe des eigenen Ortes auf der christlichen Weltkarte kennt, verliert über kurz oder lang an arroganter Selbstverständlichkeit und wird offen für einen aufrichtigen interkonfessionellen Dialog. Wie sagte schon Friedrich Schleiermacher: „[…] so ist nichts unchristlicher als Einförmigkeit zu suchen in der Religion“


„Das Wort und das Fleisch“ auf der eigenen Website, bei Apple Podcasts, Spotify und Deezer.


#abgehört: Podcast-Kritiken bei der Eule

In unserer Serie „#abgehört“ stellen wir seit 2017 Podcasts vor: Podcasts zu klassischen Kirchenthemen und solche, die Neuland betreten. Podcasts, die von Theolog:innen gemacht werden und sich um Bibel und Predigt drehen, und Podcasts zu (Rand-)Themen, die mehr Aufmerksamkeit verdienen. Seit 2022 schreibt Frederik Ohlenbusch für uns frische Podcast-Kritiken.

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