Die Kirchen und Corona: Solidarität statt Schuldzuweisungen

Ein Gottesdienst in Frankfurt a. M. ist zu einem Infektions-Hotspot geworden. Wie Kirchen und Gemeinden auf den Vorfall reagieren, wird den Umgang mit dem Corona-Risiko entscheidend beeinflussen.

Über 100 Infizierte, darunter auch mindestens ein Kind, sechs Menschen im Krankenhaus – so die Bilanz eines Gottesdienstes in einer baptistischen Gemeinde in Frankfurt a.M.. Was ist da schief gelaufen, fragen sich nicht nur die zuständigen Kommunen. Auch in anderen Religionsgemeinschaften wird das Geschehen aufmerksam verfolgt.

Im Laufe des Sonntags unterrichteten die zuständigen Behörden gleich mehrmals die interessierte Öffentlichkeit. Weil die Besucher*innen des Gottesdienstes sowohl aus der Stadt als auch aus drei weiteren hessischen Landkreisen stammten, ist die Lage besonders unübersichtlich. Die Zahl der Infektionen und Erkrankungen wird in den kommenden Tagen sicher noch steigen.

In den Kommunen wird die zögerliche Informationspolitik der Gesundheitsämter kritisiert und auch die Gemeinde muss sich Fragen gefallen lassen: Wurden in den Räumen der Gemeinde alle Sicherheitsvorkehrungen eingehalten? Wurde während des Gottesdienstes gesungen, obwohl Gemeindegesang als großes Ansteckungsrisiko gilt, weil sich beim Singen die ausgeatmete Luft besonders weit verteilt? Gab es vor und nach dem Gottesdienst noch ein geselliges Beisammensein, wie es sonst üblich ist?

Die Gemeindeleitung beantwortet solche und andere Fragen bisher nicht erst spät. Klar ist: Eine Teilnehmer*innen-Liste wurde nicht geführt. Das erschwert die Nachverfolgung der Infektionen erheblich. Am Samstag konnte die Gemeinde nicht einmal genau sagen, wie viele Personen an der Veranstaltung teilgenommen haben.

Ergänzung 25.05., 15:15 Uhr: Die Gemeinde teilt inzwischen auf ihrer Website in einer Erklärung mit, man habe während des Gottesdienstes keine Schutzmasken getragen und gemeinsam gesungen. Die Beantwortung von Anfragen verzögere sich, weil sich der Vorsitzende des Gemeindevereins im kritischen Zustand auf einer Intensivstation befindet und auch sein Stellvertreter erkrankt ist.

Gesundheit hat „oberste Priorität“

Weil öffentliche Gottesdienste ohnehin unter Beobachtung stehen, reagieren Christ*innen und Kirchenleitungen anderer Kirchen und Konfessionen gereizt auf den Vorfall in Frankfurt a. M..

Die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (Baptisten) in Frankfurt, die anders als die betroffene Evangeliums-Christen-Baptisten-Gemeinde dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (BEFG) angehört, beeilte sich klarzustellen, dass diese „weder organisatorisch noch inhaltlich in einer Verbindung zu unserer Kirchengemeinde oder dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland“ steht. Die Gesundheit der Gemeindemitglieder und „der Menschen um uns herum“ habe „oberste Prioriät“. Deshalb würden auch weiterhin keine Präsenz-Gottesdienste durchgeführt. Der BEFG ist der größte Dachverband baptistischer Gemeinden in Deutschland.

Wie andere Gemeindebünde und Kirchen auch, hat der BEFG ein Schutzkonzept erarbeitet, dass den Gemeinden als Grundlage für die Sicherheitsvorkehrungen für den Präsenz-Betrieb dient. Die röm.-kath. Bistümer und evangelischen Landeskirchen haben diese Konzepte in Zusammenarbeit mit den zuständigen Stellen der Bundesländer erstellt, sie beruhen auf Absprachen mit der Bundesregierung. Die betroffene Gemeinde versichert, sich an alle Regeln gehalten zu haben.

Wichtige Sicherheitsvorkehrungen

Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Sicherheitskonzepte vor Ort und in den jeweiligen Religionsgemeinschaften sind folgende Maßnahmen auf Basis aktueller Erkenntnisse über das Corona-Virus dringend geboten:

  • Abstand von mind. 1,50 m zwischen den Teilnehmer*innen halten
  • Gesang nur unter der Maske bzw. im Freien mit Abstand von 3-4 m
  • Gottesdienst an der frischen Luft (dort ist das Ansteckungsrisiko geringer)
  • Teilnehmer*innen-Liste führen und sicher aufbewahren

Inhaltlich unterscheiden sich die Schutzkonzepte allerdings: So ist das Singen keinesfalls überall verboten, sondern darf unter Mund-Nase-Masken gerne versucht werden. Auch die gestatette Teilnehmer*innen-Zahl unterscheidet sich von Region zu Region. Und: Nicht überall müssen Teilnehmer*innen-Listen geführt werden.

Nur Teilnehmer*innen-Listen, die sorgfältig geführt und aufbewahrt werden, ermöglichen eine lückenlose Verfolgung eines möglichen Infektionsgeschehens. Wenn auch nur die Hälfte der sonst üblichen Teilnehmer*innen-Zahl an einem Gottesdienst „in diesen Zeiten“ teilnimmt, geht es immer noch um ca. 2 Millionen Menschen – auch wenn viele, offensichtlich aus Vorsicht, den „neuen“ Präsenz-Gottesdiensten fernbleiben.

Dass es zu neuen Infektionen kommt ist eine Frage der statistischen Wahrscheinlichkeit und nicht allein der Nachlässigkeit einer einzelnen Gemeinde zuzuschreiben. Wie ein Sprecher des Frankfurter Gesundheitsamtes der Frankfurter Rundschau sagte, haben sich die meisten Infizierten nicht beim Gottesdienst, sondern danach zu Hause angesteckt. Der Besuch der „neuen Gottesdienste“ stellt für Menschen aus Risikogruppen und ihre Angehörigen, Kinder und alte Menschen ein erhebliches Risiko dar (wir berichteten).

„Widerstandskitsch“ und Verantwortungsübernahme

Seitdem die Kirchen in Deutschland ihre Türen wieder für Gottesdienste öffnen, ist allerdings auch klar, dass längst nicht alle Gemeinden sich an die Empfehlungen ihrer Kirchenleitungen und Regeln der Gesundheitsämter halten. Bereits um Ostern herum hatte es an einigen Orten auch in evangelischen Landeskirchen erstaunliche „Biegungen“ der zu diesem Zeitpunkt strengen Regeln gegeben.

Umso lockerer die Regeln werden, desto mehr Schlupflöcher bieten sie Verantwortlichen vor Ort, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht an die Sicherheitsvorkehrungen halten wollen. Mir selbst sind solche Vorfälle aus fünf evangelischen Landeskirchen und zwei röm.-kath. Bistümern sowie aus Landeskirchlichen Gemeinschaften bekannt.

Ich habe bisher von einer Berichterstattung darüber Abstand genommen, weil ich die „Widerstandskitschler“, die hinter solchen Aktionen stecken und die es in allen Religionsgemeinschaften gibt, durch eine – in meinen Augen – unverhältnismäßige Berichterstattung nicht aufwerten will. Darüber kann man sich trefflich streiten.

Es handelt sich bei ihnen in jedem Fall um eine sehr kleine Minderheit in den Religionsgemeinschaften. Das Unterlaufen der Sicherheitsvorkehrungen in wenigen Einzelfällen darf in seiner Wirkung auf den Infektionsverlauf in der Gesellschaft auch nicht übertrieben werden. Neuinfektionen gehören überall dort, wo Menschen zusammenkommen, zur „neuen Normalität“ hinzu, die auch in den Religionsgemeinschaften angekommen ist.

Wichtig ist der besonnene Umgang mit ihnen, zu dem vor allem der Blick auf den eigenen Verantwortungsraum gehört. Deshalb stehen zu Recht die Kirchenleitungen und großen Religionsgemeinschaften im Fokus der Berichterstattung. Denn dort existieren Ressourcen, um mit den Herausforderungen durch die Corona-Krise vorbildlich umzugehen. Statt mit dem Finger auf kleine, zum Teil obskure Religionsgemeinschaften zu zeigen, ist daher vielmehr ökumenische und interreligiöse Solidarität geboten.

Gemeinden und Religionsbedienstete vor Ort können sich bei der Bewältigung der zur Verfügung stehenden Informationen, die zum Teil durch erhebliche Sprachbarrieren erschwert wird, und bei der Gestaltung der Sicherheitsvorkehrungen, die nicht zuletzt viel Geld kosten, sehr wohl unterstützen – wie das Beispiel der muslimischen Freitagsgebete in einer evangelischen Kirche in Berlin zeigt.