Normalitätsillusion – Die #LaTdH vom 24. Mai

Die Kirche schweigt nicht, aber sagt sie zur „neuen Normalität“ in der Corona-Krise auch das Richtige? Außerdem: Interreligiöse Feste, Kapitalismus und #digitaleKirche.

Überall im Sendegebiet werden die Sicherheitsvorkehrungen wegen des Corona-Virus zurückgeschraubt. Gerade eben hat sich der Thüringische Ministerpräsident und evangelische Christ Bodo Ramelow (s. #LaTdH von letzter Woche) mit dem Gedankenspiel nach vorn gewagt, Anfang Juni auch Abstandsgebot und Maskenpflicht fallen zu lassen. Diese Ausgabe der „Links am Tag des Herrn“ wird in Thüringen und also mit gemischten Gefühlen verfasst:

Debatte

Die zweite Welle der Angst – Evelyne Baumberger (RefLab)

Die Einkehr in eine „neue Normalität“ ist mit neuen Ängsten verbunden, schreibt Evelyne Baumberger (@evelyne_lynn) mit Rückgriff auf Knud Løgstrup im schweizerischen RefLab.

„Verantwortung für den anderen zu tragen, kann niemals darin bestehen, die Verantwortung des anderen zu übernehmen.“ Welche Gratwanderung das aber in einer Ausnahmesituation ist, und dass es nicht einen einzigen “richtigen” Weg zwischen Ausgangssperren und Eigenverantwortung gibt, konnten wir konkret in den letzten Monaten beobachten. Und so wird es auch in den nächsten Monaten noch sein […].

Es ist nicht ganz einfach, wieder zur Normalität zurückzukehren und Vertrauen zurückzugewinnen. Wie es mit dem Vertrauen immer ist: Es braucht eine Basis, damit es nach und nach wachsen kann. Und das wiederum braucht Zeit.

Die Zeit, sich in eine andere Form der Normalität einzufühlen, sollten wir uns nehmen. Um den Nächsten einen weiten Bogen zu machen, das Gegenüber in der Kaufhalle skeptisch auszuspähen – das sind Kulturtechniken, die abzulegen lange dauern wird. Umso mehr, da die Corona-Pandemie noch lange nicht vorüber ist.

Corona-Brandherd in Frankfurt: Über 40 Infektionen nach Baptisten-Gottesdienst – Jutta Rippegather (Frankfurter Rundschau)

Ein Gottesdienst in einer Frankfurter Baptisten-Gemeinde ist zum Infektions-Hotspot geworden: Medienberichten zufolge haben sich 107 Personen bei der Zusammenkunft mit dem Corona-Virus angesteckt. Eine Person musste bereits in ein Krankenhaus eingewiesen werden. (aktualisiert, 16:30 Uhr, 24.5.)

Der Vorfall ist eine unwillkommene Erinnerung daran, welches Risiko auch von gottesdienstlichen Versammlungen ausgeht. Die Sicherheitsvorkehrungen in den Kirchen landauf landab – von nicht wenigen belächelt und „situativ angepasst“ – sind notwendig. Die Frankfurter Gemeinde hat sich, nach eigener Aussage, an die bestehenden Regeln gehalten, eine Liste der Teilnehmer*innen aber wurde nicht geführt.

Teilnehmer*innen-Listen, gründliche Hygiene und die Einhaltung von Abstandsgeboten sind die wichtigsten Sicherheitsmaßnahmen in den Kirchen! Anhand der Listen können Infektionsketten nachverfolgt werden. Es wird weitere Infektionen in Gottesdiensten geben, diese können nur mit Hilfe solcher Listen eingedämmt werden.

Erfreulicherweise deuten Untersuchungen darauf hin, dass eine Ansteckung mit dem Virus an der frischen Luft wesentlich unwahrscheinlicher ist. Die Durchführung von Open-Air-Gottesdiensten & -Gemeindekreisen scheint also eine gangbare Alternative gerade während des Sommers zu sein.

Wichtig: Nur weil in der Kirche auf die Einhaltung der Regeln gepocht wird, muss das für die Familienfeiern im Anschluss von Kasualien noch lange nicht gelten. Wie der Fall einer Feierrunde in einem Restaurant in Niedersachsen zeigt (7 Infektionen, 50 Personen in Quarantäne), sind solche Anlässe gefährlich. Aus der Verantwortung für Familienfeste deren Anlass kirchliche Kasualien sind, können sich Gemeinden und Pfarrer*innen nicht stehlen.

Tröstet, tröstet mein Volk! – Eske Wollrad (zeitzeichen.net)

Eske Wollrad wünscht sich von ihrer Kirche klare Worte zum guten Sterben und zur Palliativversorgung während der Corona-Krise, statt Gejammer über das Gesangsverbot in Gottesdiensten, „als hätte der Wind sich gelegt“. „Von der Kirche hört man derzeit ja gar nichts“, zitiert sie ihren Vater. Angesichts der Redseligkeit der Kirchen ein überraschendes Verdikt:

Wenn eine das mutige Sprechen über Fragen des Lebens, des Sterbens und des Todes in ihrer DNA hat, dann doch sie. Was die Gesellschaft verdrängt, darf sie aussprechen und Anwältin sein für das Recht auf gutes Sterben. Sie darf fordern, was Maria Moser für Österreich fordert, nämlich einen „palliativen Pandemie-Plan“ und eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Sterben. Meine Kirche ist der Wind unter den Flügeln der Hospizbewegung und findet Worte des Trostes für Sterbende und ihre Angehörigen.

Systemrelevant?

Mit der Dringlichkeit Wollrads kann an gleicher Stelle der Wiener Theologieprofessor Ulrich Körtner nicht ganz mithalten: Wie schon im Interview mit dem Standard vor einigen Tagen stellt er kluge, notwendige Fragen, die typisch wienerisch um Tod und Verfall kreisen. Irritierend ist allerdings abermals das Präteritum seiner Einlassungen, als hätte der Wind sich schon gelegt. Eine Antwort auf die von ihm selbst aufgemachte Frage nach der „Systemrelevanz“ von Kirche bleibt er nach einem hübsch zu lesenden Rundgang durch irrige andere Meinungen ebenfalls schuldig.

Die „Das-haben-wir-gelernt“-Texte drohen die „Chance-in-der-Krise“-Pamphlete als Lieblings-Gattung der Theolog*innen in der Krise abzulösen. Dabei erscheint die Verwendung der Vergangenheits-Form als lässiges „Über-den-Dingen-stehen“, das dem Ernst der Lage überhaupt nicht angemessen ist.

Besonders an der Frage nach der „Systemrelevanz“ wollen sich Theolog*innen anscheinend noch einmal arbeiten: Fragen nach der Relevanz kirchlichen Handelns, ja nach der Bedeutung des christlichen Glaubens für die Menschen von heute und in der Krise sind dringend notwendig und geboten. Aber muss man das ehrlich mit „dem System“ verknüpfen? Ein derartig verzweckter Kirchenglaube darf gerne untergehen.

Frank Vogelsang (@F_Vogelsang) hat sich auf dem „χ – Chiasmus“-Blog die gleiche Frage vorgelegt, und kommt sehr lesenswert u.a. zu dieser selbstkritischen Einschätzung:

In einer solchen Zeit wird zum Beispiel deutlich, dass die Natur nicht einfach nur die gute Schöpfung ist, dass sie lebensbejahende wie auch lebenszerstörende Kräfte enthält. Doch welche theologischen Ressourcen haben wir, um das Lebenszerstörende einer Pandemie, die über uns kommt, zu beschreiben? In der Fähigkeit zu Beschreibung des natürlichen Lebenswidrigen, das sich einer moralischen Beurteilung entzieht, hat die Theologie in der Tat in den letzten Jahrzehnten viel verloren. Man kann weitere Defizite in der Beschreibung der Endlichkeit des Menschen, in seiner Abhängigkeit vom Geist Gottes, in der Art und Weise sehen, wie wir theologisch Hoffnung äußern.

Theologisch ist also nicht einfach alles in Ordnung. Aber zeigt sich in Zeiträumen von vielen Jahren, nicht von einigen Wochen der Medienbeobachtung.

Wenn schon über die „Systemrelevanz“ von Kirche diskutiert wird, dann bitte unter strengster Auseinanderhaltung der Begrifflichkeiten. Glaube, Religion, Institution mögen einander überlappen, aber sind eben nicht in eins zu setzen. Dann wäre es ja tatsächlich so, dass Kirche „einfach“ nur besser kommunzieren müsste, um die eigene Botschaft „rüberzubringen“. Wahrlich unterkomplex.

Telefonseelsorge ist in der Krise besonders gefordert – Josefine Janert (evangelisch.de)

Ein kirchlicher Arbeitsbereich mit großer Relevanz in der Krise ist die (Telefon-)Seelsorge (s. hier in der Eule). In einem feinen Stück (Kirchen-)Journalismus lässt Josefine Janert auf evangelisch.de Mitarbeiter*innen der Telefonseelsorge Berlin-Brandenburg zu Wort kommen (auch mit Audio-Schnipseln).

Sehr, sehr viele Menschen fühlen sich alleingelassen. Berlin ist ja ohnehin die Hauptstadt der Singles. Angesichts der Ausgangsbeschränkungen, so erzählt Andrea, leiden Alleinlebende darunter, dass sie nun auf Abende mit Freunden und Kursbesuche verzichten müssen: „Manche Menschen rufen morgens nach dem Aufstehen hier an, weil sie eine menschliche Stimme hören wollen.“ Das Gespräch trägt sie durch den Tag. Andrea hat auch schon mit Menschen geredet, die sich einsam fühlen, obwohl sie mit jemandem zusammenleben – einfach, weil niemand sie versteht.

Zeit zum Trauern

Ist es nicht in diesen Öffnungs-Tagen notwendig, sich Zeit für das Trauern einzuklagen? Was „wir“ erlebt haben und weiterhin erleben, so unterschiedlich die Erfahrungswelten im Einzelnen auch sind, war und ist nicht normal. Tote müssen betrauert werden, eigene Verluste beklagt. Dazu zählt mindestens der Verlust an bleibender Gesundheit für viele Erkrankte, die trotz Genesung mit Folgeschäden zu leben haben werden.

Aber auch die (bisher) Verschonten haben Anlass zum Trauern. Die verpassten Möglichkeiten des Frühjahrs kommen nicht wieder. Wochenlange Isolation von Kindern und Alten, Einsamkeit im Pflegeheim und die Opfer häuslicher Gewalt, Arbeitslosigkeit und unfaire Verteilung der Care-Arbeit in den Familien – es gibt genug Grund zur Klage! Eine Aufgabe der Beredsamkeit von Christ*innen in dieser Zeit ist ganz sicher, diese Erfahrungen nicht unter den Teppich einer oberflächlichen Biergarten-Seeligkeit zu kehren.

nachgefasst

Viganò & the Virus – Massimo Faggioli (Commonweal Magazine, englisch)

Noch ein kleiner Nachschlag in englischer Sprache zu dem Wahnsinns-Schreiben von Erzbischof Viganò und Kardinal Müller (s. #LaTdH von letzter & vorletzter Woche). Faggioli (@MassimoFaggioli) analysiert das Schreiben vor allem im Hinblick auf die Gegnerschaft der Unterzeichnenden zu Papst Franziskus.

It also may be worth viewing this as another instance of the globalization of the American culture wars. After the sex-abuse crisis, the pandemic has provided a new opportunity for some Catholics to cast themselves as victims of a conspiracy, instead of part of a much larger social and cultural challenge (and one they apparently cannot deal with).

„Jüdische Ethik kann sich von der der Kirchen unterscheiden“ – Interview mit Josef Schuster (Jüdische Allgemeine)

Im neuen Ethik-Rat (s. #LaTdH vom 3. Mai) wird auch der Präsident des Zentralrats der Juden und Arzt Josef Schuster mitarbeiten. Der Jüdischen Allgemeinen beantwortet er im Lichte der Corona-Krise dazu wichtige Fragen zur Medizinethik.

Zunächst einmal bilden die Zehn Gebote für uns dieselbe Grundlage. Unterschiedliche Sichtweisen haben wir aber zum Beispiel bei der Präimplantationsdiagnostik. Die Kirchen lehnen die PID ab. Bei uns ist das anders, denn in der Vorstellung des Judentums wird ein Embryo erst 40 Tage nach der Befruchtung beseelt und zudem als Teil der Mutter betrachtet. Insgesamt kann ich aber sagen, auch mit Blick auf die Muslime, die ja ebenfalls eine Vertreterin im Ethikrat haben, dass sich ethische Überzeugungen in den einzelnen Religionsgemeinschaften in vielen Punkten decken.

Buntes

Wie sich der Kapitalismus nach Corona verändern muss – Interview mit Wolfgang Kessler (Vorwärts)

Für die Parteizeitung der SPD Vorwärts interviewt Kai Doering (@kai_doering) den Wirtschaft- und Sozialwissenschaftler Wolfgang Kessler (@wolfgangkessler), der bis 2019 Chefredakteur der alt-ehrwürdigen Publik-Forum (@publikforum) war. Die beiden grasen unterschiedliche Fragen zur Zukunft des Kapitalismus ab. Kessler fordert als Konsequenz aus der Corona-Krise u.a. eine überlegte „Entglobalisierung“ ohne in Nationalismus zu verfallen.

Für mich ist klar, dass soziale Grundbedürfnisse wie Wohnen, Gesundheit, Pflege oder Verkehr nicht kapitalistischen Renditekriterien unterworfen werden dürfen. Das heißt nicht, dass all das vom Staat betrieben werden muss. Das können auch gemeinnützige Organisationen übernehmen oder Genossenschaften. Sichergestellt sein muss nur, dass der Betrieb nicht gewinnorientiert ist.

Digital Storytelling – Lena Ohm (#relichat-Barcamp, YouTube)

Die wunderbar umtriebige #relichat-Community, zusammengesetzt vor allem aus Religions-Lehrer*innen des deutschsprachigen Raums, lässt sich von Corona nicht entmutigen und verlegt das anvisierte Barcamp einfach ins Netz. Eine Session gestaltete die Journalistin Lena Ohm (@LenaOhm) zum Thema Digital Storytelling. Weitere Sessions sollen noch dauerhaft zur Verfügung gestellt werden.

„Die Skepsis wird nicht geringer“ – Interview mit Christoph Markschies (Der Prignitzer)

Benjamin Lassiwe (@lassiwe) interviewt Christoph Markschies (@markschies), den ehemaligen Präsidenten der Humboldt-Universität zu Berlin und neuen Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Markschies, Professor für Antikes Christentum und Vorsitzender der Kammer für Theologie der EKD, beantwortet Fragen zum Verständnis von Christi Himmelfahrt und zu den Herausforderungen für die Wissenschaftskommunikation angesichts der Corona-Pandemie.

Wenn jemand sagt: „Es donnert “,dann meint derjenige ja auch nicht, dass da ein „es“ ist, das donnert. Komplexe naturwissenschaftliche Phänomene werden in mythologischer Rede abgekürzt. Und daher reden wir von einen Feind namens Corona, gegen den Virologen Krieg führen oder von einem „es“, das donnert – und so auch von Jesus, der wie in einem Fahrstuhl nach oben fährt.

Ende des Ramadan: Zum Freitagsgebet in die evangelische Kirche (Reuters, Süddeutsche Zeitung, Video)

Eine evangelische Gemeinde in Berlin stellt ihre Kirche für das muslimische Freitagsgebet im Ramadan zur Verfügung. Ein schönes Beispiel für interreligiöse Gastfreundschaft.

„Als wir reinkamen, war es seltsam, wegen der Musikinstrumente und der Fotos. Es war anders als in einer Moschee. Wenn man aber über diese Details hinwegsieht, weiß man, dass es auch ein Gotteshaus ist. Und die sind alle gleich.“

Predigt

Sieben Religionsgemeinschaften: Multireligiöse Feier aus Pforzheim (SWR)

Heute Morgen ab 10:15 Uhr überträgt der SWR live eine multireligiöse Feier aus Pforzheim, die von alevitischen, muslimischen, jezidischen, jüdischen sowie evangelischen und katholischen Gläubigen gestaltet wird: #Deutschlandbetetgemeinsam.

Solidarität und Nächstenliebe stehen im Mittelpunkt einer multireligiösen Feier des Pforzheimers „Rat der Religionen“ in der Thomaskirche in Pforzheim-Nord. Anlass ist das Ende des Fastenmonats Ramadan. Das Ramadanfest gehört zu den höchsten Feiertagen für Muslime. An der multireligiösen Feier nehmen Vertreter*innen von sieben Pforzheimer Religionsgemeinschaften teil, die gemeinsam im „Rat der Religionen“ an dem interreligiösen Dialog in Pforzheim mitwirken. […] Die Sendung ist im Anschluss auch in der ARD Mediathek unter ARDmediathek.de/gottesdienst zu sehen.

Martha’s Table (englisch)

Martha’s House ist eine klösterliche Gemeinschaft, die rein virtuell im Netz besteht. Die Gemeinschaft versteht sich als „neo-monastic experiment“ in benediktinischer Tradition. Co-Gründer Mark (@MonkInDocs) stammt aus der Anglikanischen Kirche, die Gemeinschaft versteht sich als inklusiv und ökumenisch. Unter „Martha’s Table“ stellt die sie eine große Menge von Podcasts, Gebeten, Impulsen und Bibellesen für den Hausgebrauch (und die Nutzung in der Gemeinde) zur Verfügung.

Ein guter Satz

– zitiert aus „Shameless“ von Nadia Bolz-Weber, Rezension der deutschen Ausgabe hier in der Eule