„Die Diskussion tobt, aber …“
#OutInChurch, Ampelkoalition, Pluralisierung und Säkularisierung: An vielen Stellen wird über die „Sonderrechte“ der Kirchen diskutiert. Worum geht es eigentlich?
Eule: Herr Germann, wovon reden wir eigentlich, wenn wir über das kirchliche Arbeitsrecht sprechen?
Germann: Die Arbeitsverhältnisse zwischen den Kirchen und ihren Mitarbeitern sind eigentlich Arbeitsverträge nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Die Kirchen machen vom normalen bürgerlichen Arbeitsrecht Gebrauch. Insofern ist es ungenau, wenn man von einem eigenen „kirchlichen“ Arbeitsrecht spricht. Den Kirchen ist durch die Verfassung das Selbstbestimmungsrecht zuerkannt. Als Körperschaften des Öffentlichen Rechts haben sie – wie alle Religionsgemeinschaften, die öffentlich-rechtlich verfasst sind – dazu auch das Recht, öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse zu begründen. Erst das ist die Alternative zum bürgerlichen Arbeitsrecht.
Aber sie können eben auch Arbeitsverträge schließen. Darum geht es bei Diakonie und Caritas, die den größten Anteil der Mitarbeiter beschäftigen. Mit „kirchlichem“ Arbeitsrecht ist gemeint, dass die Kirchen die bürgerlichen Arbeitsverträge besonders gestalten können. Im Ansatz nicht viel anders, als andere Arbeitgeber und Arbeitnehmer das untereinander auch tun können, aber hier kommen zusätzlich die Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften ins Spiel.
Eule: Welche Rechte umfasst diese „Mitgestaltung“?
Germann: Wenn ein Arbeitsvertrag geschlossen wird, gilt erstmal Vertragsfreiheit: Arbeitgeber und Arbeitnehmer können sich grundsätzlich aussuchen, mit wem und mit welchem Inhalt sie einen Arbeitsvertrag abschließen. Da gibt es keinen Unterschied zwischen Kirchen und anderen Arbeitgebern. Über diese Privatautonomie der Vertragspartner hinaus spielen jedoch auch das Selbstbestimmungsrecht und die Religionsfreiheit der Kirchen eine Rolle. Dadurch sind Klauseln in Arbeitsverträgen möglich, die andere Interessen berücksichtigen als die eines nichtkirchlichen Arbeitgebers.
Neben der inhaltlichen Gestaltung von Arbeitsverträgen (1) sind die Verfahren der kollektiven Arbeitsrechtssetzung (2) Gegenstand der Debatte. Das ist wohl auch ein Feld, auf das der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung blickt. Da geht es nämlich um die Möglichkeit, anstelle des Abschlusses von Tarifverträgen mit der Option des Arbeitskampfes die allgemeinen Arbeitsbedingungen in paritätisch besetzten Kommissionen auszuhandeln und den Arbeitskampf auszuschließen. Das ist der sogenannte „Dritte Weg“, von dem die Kirchen überzeugt sind, dass er dem Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft besser entspricht als der Arbeitskampf. Ein dritter Bereich ist die betriebliche Mitbestimmung (3), die der Betriebsverfassung in Unternehmen und den Personalvertretungen im öffentlichen Dienst entspricht.
Also ganz knapp gesagt: Es geht um die Gestaltung individueller Arbeitsverträge und die beiden genannten Felder des kollektiven Arbeitsrechts.
Eule: Warum haben die Kirchen eigentlich diese Rechte? Es gibt ja andere Länder mit Religionsfreiheit, wo das nicht so ist.
Germann: Artikel 4 des Grundgesetzes gewährleistet die Religionsfreiheit. Darin ist auch die korporative Religionsfreiheit garantiert: D.h. Religionsgemeinschaften können sich als Organisationen auf dieses Grundrecht berufen. Wie weit dieses Recht reicht, auch welche Schranken gelten, ist in der deutschen Verfassung etwas strenger geregelt als zum Beispiel in der Europäischen Menschenrechtskonvention, die den Gesetzgebern größere Spielräume zur Einschränkung von Menschenrechten zugesteht. In Deutschland macht auch die zusätzliche Garantie des Selbstbestimmungsrechts für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die Religions- und Weltanschauungsfreiheit stärker als anderswo.
Eule: Gegenwärtig wird über die Loyalitätsobliegenheiten von Arbeitnehmern gestritten. Greifen solche Forderungen nicht zu sehr in die Grundrechte der Menschen ein? Zum Beispiel, wenn eine Ehescheidung Anlass einer Kündigung wird oder die sexuelle Orientierung und Identität ein Ausschlusskriterium ist, worauf zuletzt #OutInChurch hingewiesen hat.
Germann: Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe, nicht gegen nichtstaatliches Handeln. Das kann man nicht oft genug wiederholen, weil man sonst zu Kurzschlüssen kommt. Religionsgemeinschaften sind vom Staat getrennt und deshalb nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden. Nur mittelbar – aber natürlich durchaus spürbar – wirkt der Grundrechtsschutz im bürgerlichen Verhältnis, nämlich durch Vorgaben des staatlichen Gesetzgebers, die gerade im Arbeitsrecht von Arbeitgebern etwas verlangen, das den grundrechtlich geschützten Interessen der Arbeitnehmer dient.
Nehmen wir den grundrechtlichen Schutz vor Diskriminierung: Es gehört zur bürgerlichen Freiheit, seine eigenen Präferenzen, seine Vorlieben und Abneigungen auch wirksam werden zu lassen. Also so zu handeln, wie es dem eigenen Gusto entspricht. Das ist natürlich „Willkür“; es bedeutet Ungleichbehandlung ohne einen Grund, der irgendwem sonst einleuchten müsste. Das ist die Grundstruktur von Freiheit: Ich bin in meiner Freiheit keinem anderen darüber Rechenschaft schuldig, warum ich jetzt so handle und nicht anders. Das heißt: Solange nicht der Staat meine Freiheit durch ein Gesetz einschränkt, muss ich als Arbeitgeber nicht rechtfertigen, warum ich diesen Arbeitnehmer auswähle und nicht jenen.
Ein Diskriminierungsschutz von Arbeitnehmern ist also immer etwas, das der staatliche Gesetzgeber den Arbeitgebern auferlegt und damit ihre Freiheit einschränkt. Dafür gibt es gute Gründe, weil Arbeitnehmer besonders auf Schutz vor Diskriminierung angewiesen sind. Das Antidiskriminierungsrecht hat darum einen hohen Stellenwert, bleibt aber eine Beschränkung der Vertragsfreiheit. Es muss hier ein Interessenausgleich stattfinden. Hierbei kommt auch der grundrechtliche Schutz der religiösen Interessen eines kirchlichen Arbeitgebers ins Spiel, das kann dann ein religiöses Programm sein, an dem er das ausrichten will, was für ihn steht.
Eule: Und wenn dieses „religiöse Programm“ sagt: Du darfst dich nicht scheiden lassen oder du darfst nicht lesbisch sein, dann kommt an dieser Stelle die Loyalität dazu ins Spiel?
Germann: „Loyalität“ nennt man im Arbeitsrecht allgemein, was jeder Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber außer der Erfüllung seiner Arbeitspflichten schuldet. Wenn einer in Leserbriefen seinen Arbeitgeber beschimpft, kann das den Arbeitsvertrag verletzen, auch wenn es in der Freizeit geschieht.
Manche Religionsgemeinschaften tragen besondere Erwartungen an die Lebensführung der Menschen heran, die nicht mit dem übereinstimmen müssen, was in der übrigen Gesellschaft anerkannt ist. Die katholische Kirche zum Beispiel verkündigt, dass die Ehe etwas Heiliges ist, und möchte nicht, dass es heißt: Sieh mal an, bei ihren eigenen Mitarbeitern ist es der Kirche egal. Deren Loyalitätspflicht reicht so auch ins Privatleben hinein.
Eule: Zu den Loyalitätsobliegenheiten gibt es Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus der jüngeren Vergangenheit. Der verbreitete Eindruck ist, dass die europäischen Organe den Kirchen viel stärker ihre Selbstbestimmung bestreiten, als das in Deutschland bisher üblich war.
Müssen sich die Kirchen darauf einstellen, sich von den Möglichkeiten zu verabschieden, die sie zusätzlich zu denen normaler Arbeitgeber haben? Als Straßenbahnfahrerin wird man ja nicht gefragt, ob man in einer lesbischen Beziehung lebt.
Germann: Das Recht der Europäischen Union hat mit der Antidiskriminierungsrichtlinie versucht, allgemeine Regeln für die Abwehr von Diskriminierungen in Arbeitsverhältnissen zu schaffen. Sie erfassen auch eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Es gibt aber auch eine Klausel, die bewusst mit Blick auf Mitgliedstaaten aufgenommen wurde, in denen eine solche Vorgabe mit dem Schutz der Religionsfreiheit kollidieren könnte. Eine Klausel, die in zwei sehr umständlichen Tatbeständen versucht, hierfür die Freiheit zu bewahren.
Eule: Die ominösen „verkündigungsnahen Tätigkeiten“?
Germann: Eine Beschränkung auf solche Tätigkeiten steht da so nicht im Tatbestand, sondern die hat man sich für seine Auslegung ausgedacht. Zusammengefasst: Sie soll Tätigkeiten eingrenzen, für die die Erwartungen der Kirche an ihre Arbeitnehmer zu den „beruflichen Anforderungen“ gehören und dadurch gerechtfertigt werden können.
Eule: Angenommen, ich wäre eine katholische Religionslehrerin und müsste also im konfessionellen Religionsunterricht erklären, dass die Ehe ein Sakrament zwischen einem Mann und einer Frau ist, und gleichzeitig bin ich aber mit einer anderen Frau verheiratet – dann wäre das gegeben?
Germann: Da die katholische Kirche darauf Wert legt, dass katholischer Religionsunterricht nur von Menschen erteilt werden kann, die selbst daran glauben, was die Kirche verkündigt, kann sie argumentieren, dass sie nicht jemanden die katholische Lehre unterrichten lassen muss, der sich selbst in Widerspruch dazu setzt. Die Nähe zu den Überzeugungen der Kirche ist hier also eine berufliche Anforderung, anders als sonst, wo die Nähe zu bestimmten religiösen Überzeugungen grundsätzlich keinen Unterschied machen darf im Arbeitsverhältnis.
Eule: Es gibt noch eine zweite Begründung, derer sich die Kirchen bei der Formulierung von Anforderungen an Arbeitnehmer bedienen können?
Germann: Ja, der Arbeitgeber kann auch Anforderungen formulieren, die dem „Ethos der Organisation“ entsprechen. Dadurch unterliegt auch die Lebensführung, das Privatleben von Angestellten, Anforderungen, die sich aus diesem Ethos ergeben.
Eule: Jetzt könnte ich steil sagen, dass auch wenn die kirchliche Ordnung Exklusion verlangt, das „christliche Ethos“ aber auf Inklusion hindeutet.
Germann: Da sind wir bei der Frage, wer das Ethos der Organisation definiert. Das kann nur jede Religionsgemeinschaft für sich tun. Auch der EuGH sieht das so.
Eule: Liegt das Problem dann nicht vielmehr in der kirchlichen Lehre? Das kirchliche Arbeitsrecht ist doch inhaltlich an das zurückgebunden, was die jeweilige Kirche verkündigt.
Germann: Ja, und das ist natürlich ein komplizierter Prozess. Probleme mit der Lebensführung von Arbeitnehmern entstehen nur, soweit die Kirche Erwartungen an die Lebensführung der Menschen formuliert. Sobald sich diese Erwartungen ändern oder wegfallen, gibt es natürlich auch kein Problem mehr beim Arbeitsrecht. Über die Reibungspunkte gibt es eine breite und kontroverse Diskussion in den Kirchen. In der römisch-katholischen Kirche ist es nun so, dass die Sichtweisen der Gläubigen nicht notwendigerweise durchdringen an die Stellen, die in der Kirche Definitionshoheit haben.
Eule: In der römisch-katholischen Kirche fehlt der Transmissionsriemen zwischen der vielstimmigen Debatte und der Entscheidung.
Germann: So kann man das beobachten. Die Diskussion tobt, aber das heißt noch nicht, dass die Bischöfe Veränderungen aufgreifen. Das katholische Kirchenrecht definiert sehr klar, dass die Leitungsgewalt bei den Bischöfen liegt. Von ihnen wird jedoch auch erwartet, den sensus fidelium, den Glaubenssinn der Gläubigen, mit zu bedenken. Da hat sich mit und seit dem 2. Vatikanum viel getan.
Es wäre also unfair zu behaupten, die Bischöfe definierten sich die katholische Kirche zusammen und die anderen hätten immer nur zu schweigen. Vielmehr versucht diese Struktur zu erfassen, dass Gott selbst durch den Heiligen Geist die Kirche leitet. Das Organ dieser Leitung ist die priesterliche Vollmacht. In der evangelischen Kirche kommt das dem allgemeinen Priestertum aller Getauften zu. Dieser Struktur entspricht dann, dass die Willensbildung von der Gemeinschaft der Getauften getragen wird.
Eule: In den evangelischen Kirchen geht es aber nur selten richtig parlamentarisch zu, auch das synodale System arbeitet auf den Konsens hin.
Germann: Na ja, die Entscheidungsstrukturen sind schon so gestaltet, dass sich auch knappe Mehrheiten durchsetzen können. Je nachdem, worum es geht. Bekenntnisfragen sind synodalen Entscheidungen nicht so einfach zugänglich.
Grundsätzlich ist es so: Was im kirchlichen Arbeitsrecht passiert, ist abhängig davon, wie die Kirche selbst ihre religiösen Interessen definiert. Und wie sie die definiert, das muss abgenommen werden von den Stellen, die nach der Verfassung der jeweiligen Religionsgemeinschaft dafür zuständig sind.
Eule: Also spielt da kein staatlicher Richter eine Rolle? Es wurde im vergangenen Jahr auch darüber diskutiert, ob Richter darüber bestimmen können, was christlich genug ist.
Germann: Was „christlich“ ist, können nur die Kirchen selbst formulieren, das sieht wie gesagt auch der EuGH so. Damit ist aber noch nicht viel gewonnen, und das verstehen der EuGH und viele Beobachter nicht: Denn was die Kirche daraus für ihren Dienst folgert, muss ja abgewogen werden gegen die Interessen der Arbeitnehmer. Da geht es sozusagen darum, was noch „christlich genug“ ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat vor langer Zeit bereits gesagt, dass auch in der Abwägung die Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaft darüber, wie wichtig ihnen etwas für ihren Dienst ist, maßgeblich zu beachten ist. Nur wenn deren Gründe gar nicht nachvollziehbar sind, nur vorgeschoben, können staatliche Gerichte sie anders gewichten.
Eule: Viele Akteur:innen in Kirche und Staat haben das Gefühl, dass wir vor einem Epochenwechsel stehen, was das Verhältnis von Staat und Kirchen angeht. Gerade junge Menschen wünschen sich eine konsequente Trennung der beiden, die es so in Deutschland ja nicht gibt.
Germann: Das bestreite ich schon mal gleich! Da scheinen ordnungspolitische Klischees durch, die allerdings sehr wirksam sind in der Diskussion. Ich halte dagegen, dass das Grundgesetz eine uneingeschränkte Trennung von Staat und Kirche vorsieht. Nur was man darunter verstehen soll, darüber müssen unterschiedliche Meinungen ausdiskutiert werden. Ich meine: Das Grundgesetz gestaltet diese Trennung in einer Weise, die der Religionsfreiheit ihren Raum lässt. Andere übersetzen „Trennung“ so, dass die Entfaltung religiöser Freiheit weitergehend beschränkt werden muss.
Eule: Werden wir mal praktisch: Es gibt in Deutschland konfessionelle Schulen und kirchliche Krankenhäuser. Das sind ja keine Hobbyveranstaltungen nur für Kirchenmitglieder, sondern die nehmen Aufgaben wahr, die sich der Staat dann sparen kann.
Germann: Ja, wobei das Schulwesen im Ansatz eine staatliche Veranstaltung ist, zu der die Privatschulfreiheit hinzutritt, während die Aufgabe des Staates im Gesundheitswesen zur Daseinsvorsorge gehört, für die die Erfüllungsverantwortung des Staates subsidiär ist gegenüber nichtstaatlichen Trägern. Das heißt, privatwirtschaftlich betriebene Krankenhäuser sind keine Lückenbüßer für den Staat, sondern der Normalfall.
Eule: Dass in katholischen Kliniken kein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wird, sorgt in Deutschland nach wie vor für wenig Aufregung – wenn man von ein paar Linken absieht. Ich habe das Gefühl, es gäbe mehr Aufregung, wenn in muslimischen Krankenhäusern Frauen nicht behandelt werden dürften ohne die Zustimmung ihres Ehemannes.
Germann: Sicherlich. Zwar darf jede Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft auch im Gesundheitswesen Einrichtungen betreiben und nach den eigenen Vorstellungen gestalten. Wenn ein Krankenhaus aber in die allgemeine Gesundheitsversorgung „eingebaut“ werden soll, muss es bereit sein, im Prinzip jeden nach ärztlichen Grundsätzen zu behandeln, und dazu gehört die Patientenautonomie.
Abtreibungen auszuschließen, ist allerdings kein prinzipielles Ausklinken aus den Grundsätzen der Gesundheitsversorgung. Dahinter steht eine andere politische und rechtliche Lage und ein grundlegender gesellschaftlicher Konflikt über den Umgang mit dem ungeborenen Leben. Wie sich die katholische Kirche dazu verhält, ist mit Blick auf das Grundgesetz überhaupt nicht exotisch. Dass Frauen nach ihrer eigenen Entscheidung behandelt werden, ohne dass sie von der Zustimmung ihres Mannes abhängig sind, ist selbstverständlich. Abtreibungen sind es nicht.
Eule: Eine Sorge der Kirchen angesichts der neuen Koalition im Bund ist ja auch, dass nach dem § 219a („Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“) auch die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch selbst geändert werden soll. Denn egal wie man nun dazu steht, einen Eingriff in die Autonomie der Schwangeren stellt die gegenwärtige Regelung schon dar, die dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen will. Geht es hierbei nicht auch um eine Abwägungsfrage?
Germann: Eine Abwägungsfrage enthält ja nicht schon ihre Antwort. An Ihrem Vergleich sieht man, wie schwierig Übertragungen von einem Beispiel auf ein anderes sind: Wer meint, weil man es katholischen Krankenhäusern „durchgehen lässt“, keine Abtreibungen durchzuführen, müsste man anderen religiösen Krankenhäusern zugestehen, Frauen nur mit Zustimmung ihres Mannes zu behandeln, irrt sich.
Eule: Mit der religiösen Pluralisierung und der Säkularisierung wird begründet, dass Deutschland ein neues Religionsverfassungsrecht braucht. Ist es denn in Deutschland vorstellbar, dass es keine konfessionellen Krankenhäuser und Schulen, keinen Religionsunterricht mehr gibt, weil das Land weniger christlich wird?
Germann: Solche Szenarien sind vorstellbar, aber sie brauchen kein neues Religionsverfassungsrecht. So etwa, wenn die Nachfrage nach kirchlichem Handeln so stark nachlässt, dass Handlungsfelder mangels Bedarfs wegfallen. Wenn sich an einer Schule nicht mehr ausreichend Schüler finden, die Interesse am Religionsunterricht haben, dann wird es dort auch keinen Religionsunterricht geben.
Oder wenn wir uns vorstellen, dass die Kirchensteuereinnahmen diesen riesigen Apparat von Leitungsstrukturen, Finanzpolstern, Ehrenamtlichenarbeit etc. nicht mehr stützen, der im Hintergrund still und unauffällig – von allen wie selbstverständlich hingenommen, aber nicht so richtig mitgezählt – die Diakonie trägt, dann wird es auch keine Diakonie mehr geben.
Für wahrscheinlicher halte ich allerdings, dass sich ein anderer Trend fortsetzt, gerade im Bezug auf das Arbeitsrecht: Man löst sich von der Kirche, weil man die Bindung nicht mehr einsieht. Dieser Ablösungsprozess läuft auch deshalb, weil es in der Kirche kaum noch jemanden gibt, der sich noch für einen inneren Zusammenhang zwischen der Diakonie und dem interessiert, wie sich die evangelische Kirche theologisch selbst versteht. Die Diakonie wird also nicht verschwinden, sondern sich in ein privatwirtschaftliches Wohltätigkeitsunternehmen verwandeln, ohne irgendeinen Bezug zur Kirche als Gemeinschaft von Christen. Der Trend ist da, dass diakonische Unternehmen einfach sagen: Religiöses Selbstbestimmungsrecht interessiert uns nicht mehr, wir haben unsere corporate identity, uns reicht wirtschaftliche Freiheit.
Eule: Das ist ja eine Anfrage an das Selbstverständnis der Diakonie.
Germann: Das Verständnis davon, was eigentlich kirchliches Handeln zu kirchlichem Handeln, diakonisches Handeln zu christlichem Handeln macht, ist ein Kapitel für sich. Das wird theologisch zu wenig reflektiert. Mein Eindruck ist, dass sich in den diakonischen Unternehmen und in den Kirchen die Haltung verbreitet: Es ist christlich genug, wenn wir „christliche Werte“ darstellen. Wir hängen ein Kreuz auf, wir machen ein Bildungsangebot für alle Mitarbeiter, die Führungsebene hat mehrheitlich christliche Expertise, definiert ein damit konformes Leitbild und setzt es durch. Das mag alles schön und gut sein, ist aber vom Grund der Kirche abgekoppelt.
Eule: Ich würde meinen, dass man damit einfach Teil eines gesellschaftlichen Trends ist: Religiöse Begründungen und kirchliche Sonderwege treffen nicht mehr auf Verständnis.
Germann: Und wer dann meint, dass sie deshalb auch keine rechtliche Anerkennung mehr verdienen, kommt auf die Forderung, dass sich jetzt im Religionsverfassungsrecht dringend etwas ändern müsse. Dieser Reflex ist übrigens alt. Er wirkt dahin, dass Religionsfreiheit nicht mehr gewährleistet werden soll. Dass Religion sich zurückzuziehen hat, nicht wirksam werden soll, wenn sie kein Verständnis mehr findet; eben in dem Sinn Privatsache ist, dass sie nicht nach außen treten soll.
Radikale Positionen wie diese trifft man in der Debatte zwar selten an, aber, dass es eigentlich nicht nötig ist, dass sich Religionsfreiheit entfaltet, dass es nicht nötig ist, den Rahmen für kirchliche Arbeitsverhältnisse anders gestalten zu können als für andere Arbeitsverhältnisse, dass es dafür keinen Schutz braucht, ist eine weitverbreitete Einstellung.
Eule: Es geht aber ja nicht plötzlich ein kämpferischer Atheismus als Gespenst im Lande um, sondern die Debatte hängt mit der Missbrauchskrise zusammen. Die Meinung, man müsse der Kirche engere Grenzen setzen, ist deshalb beliebt, weil die Kirche als schwierige Organisation gilt. Muss man nicht die Menschen vor der Kirche schützen, statt die Kirche vor dem Staat?
Germann: Da sollte man gleich dazusagen, was das konkret bedeuten soll. An welcher Stelle hat das Religionsverfassungsrecht den Schutz der Kirche dem Schutz von Menschen vor Missbrauch vorgezogen? Das wären meine Rückfragen an diese Forderungen.
Ich sehe sie auch als Ausdruck einer Hilflosigkeit: Man will dem Missbrauch irgendwie beikommen, indem man ein „System“ beendet. Das Religionsverfassungsrecht ist nicht das Mittel, um die Kirche wie einen insolventen Konzern zu liquidieren oder zu sanieren. Mal ganz abgesehen davon, dass man den Missbrauch unterschätzt, wenn man ihn als Problem des Religionsverfassungsrechts ansieht.
Eule: Liegt das nicht auch daran, dass die Kirchen sich zu wenig erklären? Was das Religionsverfassungsrecht angeht, gibt es ja viele Missverständnisse.
Germann: Ja, die Forderungen nach einer Änderung des Religionsverfassungsrechts sind in erheblichem Maße auch davon geprägt, dass man Fehlvorstellungen davon hat, was es eigentlich zum Inhalt hat. Stichwort: „Hinkende Trennung“. Ein total missverständlicher, unzutreffender Slogan für das, was das Grundgesetz vorsieht. Da hinkt nichts! Wenn man glaubt, damit sei das deutsche Religionsverfassungsrecht zutreffend beschrieben, dann kann man billig sagen, dass es damit ein Ende haben soll und wir eine richtige Trennung brauchen. Klingt gut, klingt nach Fortschritt, ist aber ein Missverständnis.
Wenn es dann praktisch wird, läuft es darauf hinaus, dass es keine religiöse Selbstbestimmung für Religionsgemeinschaften mehr geben soll. Die Kirchen müssen unabhängig davon erklären, worauf es ihnen für ihre Selbstbestimmung ankommt. Zum einen, weil sie damit auch den Sinn des Religionsverfassungsrechts verständlicher machen, zum anderen, um ihre darin gegebenen Rechte plausibel und konsistent mit Inhalt zu füllen.
Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.
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