Die Macht gewaltlosen Widerstands
Ziviler Widerstand, der auf Gewaltanwendung verzichtet, ist nicht weniger „realistisch“ als der bewaffnete Kampf und Aufrüstung. Im Gegenteil: Er hat viel häufiger Erfolg.
Unbewaffnete Menschen blockieren Panzer. Straßenschilder werden verändert, sodass „F*ckt euch!“ darauf steht oder alle Wege nach Den Haag zum Internationalen Strafgerichtshof zeigen. Es kursieren Videos von Ukrainern, die russischen Soldaten, die ohne Benzin gestrandet sind, anbieten, sie nach Moskau abzuschleppen, und Bilder von russischen Deserteuren, die mit Tee und Jubel empfangen werden. In ganz Europa organisieren Menschen Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, die Hilfsgüter in die Ukraine bringen und verteilen, und helfen, Flüchtlinge unterzubringen und zu versorgen.
In Russland riskieren tausende bei Demonstrationen ihre Freiheit und ihr Leben, während hunderte Priester mutig ihrer Hierarchie widersprechen, zu Befehlsverweigerung aufrufen und Präsident Putin mit Verdammnis drohen. Hacker durchbrechen die Mediensperre des staatlichen Fernsehens und senden zensierte Kriegsbilder. Tausende Freiwillige nutzen Google-Rezensionen und andere kreative Wege, um offene Kommunikationskanäle zu schaffen und den kriegstreiberischen Lügen der Staatspropaganda etwas entgegenzusetzen.
Diese Wirklichkeit des massenhaften und gewaltfreien Widerstands in der Ukraine und Russland wird in den Diskussionen über eine „Zeitenwende der Friedensethik“ ausgeblendet oder bestenfalls als sekundär zur militärischen Verteidigung der Ukraine und den Sanktionen der russischen Wirtschaft gesehen. Besonders deutlich wird dies im Artikel von Johannes Fischer im Magazin zeitzeichen. Auch Ralf Haska blendet im Interview mit der Eule zivile Verteidigung aus, erwähnt lediglich die Produktion von Molotov-Cocktails (die als Anti-Panzer-Waffen nicht tödlich sind und auch wenig Effekt haben).
Diese selektive Wahrnehmung und das Gefühl der Ohnmacht angesichts des Angriffskrieges, führen zum fatalen Ruf nach Aufrüstung. Dabei werden strategische Interventionsmöglichkeiten zur Schwächung von Putins Macht verspielt. Im Eifer für mehr „Realismus“ werden die Ergebnisse empirischer Forschung ignoriert, die gezeigt hat, dass gewaltfreie Bewegungen in den letzten hundert Jahren etwa doppelt so erfolgreich waren als solche, die auf einen bewaffneten Kampf setzten.
Im Folgenden möchte ich die spontanen Formen gewaltfreien Widerstands kurz in den Kontext der Forschung zu zivilem Widerstand und sozialer Verteidigung einordnen, in der Hoffnung, die Debatte über eine wirklichkeitsgemäße und evangelische Friedensethik zu versachlichen. Schließen möchte ich mit einer Reihe Fragen schließen, die eine realistische Friedensethik sich stellen müsste.
Gewaltfreie Verteidigung: Die Macht des Gegners schwächen
Alle eingangs genannten Beispiele sind Formen des zivilen Widerstands oder der gewaltfreien Verteidigung, die einen Beitrag dazu leisten, dass die demokratisch legitimierte Regierung der Ukraine zwei Wochen nach Beginn der völkerrechtswidrigen russischen Invasion immer noch nicht gefallen ist.
Angesichts der schwierigen Informationslage ist es schwierig abzuschätzen, wie zahlreich diese Aktionen sind und welchen Einfluss sie auf die Konfliktdynamik haben. Aber im Lichte der komparativen Forschung zu gewaltfreiem und bewaffnetem Widerstand gibt es gute Gründe anzunehmen, dass sie eine erhebliche Rolle dabei spielen, die Moral der russischen Armee zu brechen und so eine der wichtigsten Säulen des Putin-Regimes nachhaltig auszuhöhlen.
Anders als vielfach behauptet, ist das Ziel gewaltfreien Widerstands nicht, das Mitgefühl von Diktatoren zu wecken oder Unterdrücker zur Umkehr zu bewegen. Gewaltfreier Widerstand zielt vielmehr darauf ab, die Macht des Gegners zu schwächen, sodass dieser keinen Schaden mehr anrichten kann. Dazu analysiert man, auf welchen Säulen seine Macht ruht, identifiziert Schwachstellen und entwickelt Strategien, um diese auszunutzen und bestimmte Säulen zum Einsturz zu bringen. Gewaltfreier Widerstand versucht gezielt, Zugang zu Ressourcen zu begrenzen, interne Konflikte zu verschärfen oder einzelne Gruppen zur offenen oder verdeckten Non-Kooperation zu bewegen.
Von der Diktatur zur Demokratie
Dieses Verständnis des gewaltfreien Widerstands ist nachhaltig beeinflusst von dem 2018 verstorbenen Konfliktforscher Gene Sharp, dessen Lebenswerk die Erforschung der Dynamiken gewaltfreien Kampfes war. In seiner Doktorarbeit untersuchte Sharp historische Beispiele gewaltfreien Widerstands und analysierte ihre Dynamik. Auch wenn er sich selbst immer nur als Forscher verstand und gewaltfreien Widerstand als universale und gleichzeitig zutiefst kontext-abhängige Reaktion von Menschen darstellte, prägten Sharps Konzepte Protestbewegungen in aller Welt.
Sharps kurzes Pamphlet „Von der Diktatur zur Demokratie“ beeinflusste die serbischen Aktivisten von Otpor, die mit ihren humorvollen und klug eskalierenden Kampagnen erreichten, was die Bomben der NATO nicht erreichen konnten: den Sturz des Diktators Milošević. Von dort verbreiteten sich seine Konzepte sowohl in Osteuropa, wo sie die Orangene Revolution in der Ukraine 2004, sowie die erneuten Maidan-Proteste 2014 nachhaltig prägten, als auch nach Tunesien, Ägypten und Syrien. Den Akteuren des Arabischen Frühlings halfen sie, ihre eigenen Strategien zu entwickeln. Die massenhaften Formen ziviler Verteidigung, die wir in der Ukraine derzeit beobachten, erwachsen auch aus dem fruchtbaren Boden dieser Erfahrungen.
Sharps zentrale theoretische Einsicht ist, dass Macht nicht einfach da ist, sondern eine Beziehung darstellt, die maßgeblich vom Einvernehmen Anderer abhängt. Ohne die Beherrschten kann ein Herrscher nicht herrschen, ohne Steuerbeamte keine Steuern eintreiben und ohne Ingenieure keine Brücken, Paläste oder Waffen bauen. Der Begriff des Einvernehmens sollte dabei nicht mit Freiwilligkeit verwechselt werden. Neben der Kontrolle materieller Resourcen (Geld, Rohstoffe, Waffen, etc.), humaner Resourcen und Wissen, nennt Sharp als „Säulen der Macht“ explizit Furcht vor Repressionen, ökonomische Abhängigkeit der Menschen vom Status Quo und Respekt vor Autorität.
Dennoch ist diese Perspektive zutiefst ermutigend, denn daraus folgt: Wenn die Beherrschten ihr Einvernehmen entziehen und es ihnen gelingt, ein paar der anderen tragenden Säulen des Regimes ins Wanken zu bringen, können sie gewinnen. Wenn etwa immer mehr einflussreiche Unterstützer sich zurückziehen oder große Teile des Sicherheitsapparats Befehle verweigern, dann sind die Tage des Herrschers gezählt.
Wie ziviler Widerstand funktioniert
In ihrer bahnbrechenden Studie „Why Civil Resistance works“ untersuchten die Politikwissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Maria Stephan mehrere hundert Protestbewegungen des 20. Jahrhunderts mit maximalistischen Zielen (Ende einer Besatzung, Unabhängigkeit eines Territoriums oder Wechsel des Machthabers) und kamen zu einem für sie selbst überraschenden Ergebnis:
Zwar scheiterten sowohl gewaltfreie als auch gewaltsame Aufstände gegen militärische Besatzungen oder autoritäre Regime deprimierend oft, allerdings waren gewaltfreie Bewegungen im Schnitt etwa doppelt so erfolgreich wie gewaltsame (53% im Vergleich zu 25%). Außerdem bemerkten sie, dass selbst im Falle eines Scheiterns die langfristigen Konsequenzen gewaltfreier Bewegungen eher Richtung Demokratie wiesen, während gewaltsame gescheiterte und erfolgreiche Revolutionen die Chancen von Bürgerkriegen oder Diktaturen erhöhten.
Diese empirischen Erkenntnisse widerlegen die weitverbreitete und auch in den kritischen Beiträgen zur „neuen Friedensethik“ unhinterfragte Annahme, im Angesicht skrupelloser Autokraten helfe nur noch Gewalt. Im Gegenteil, die Entscheidung auf die militärische Verteidigung zu setzen, reduziert die Erfolgschancen erheblich! Allein dies wäre schon Grund genug, die Logik gewaltfreien Widerstands ins Zentrum einer wirklichkeitsgemäßen Friedensethik zu stellen.
Doch was macht gewaltfreie Bewegungen so erfolgreich? Wie können die Erfolgschancen von Widerstand erhöht werden und welche Fallen gibt es? Chenoweth und Stephan zufolge braucht es drei Hauptzutaten für einen Erfolg:
- Breite Beteiligung diverser Gruppen,
- Wechselnde Taktiken, die Druck aufbauen und gleichzeitig Repressionen minimieren,
- Loyalitätsverschiebungen innerhalb wichtiger Säulen der Macht des Gegners.
Alle drei Faktoren sind wichtig, aber der breiten Beteiligung kommt ein besonders hoher Wert zu, da sie Synergieeffekte erzeugt. So reduziert sich das Risiko für die einzelnen Beteiligten, je größer die Gruppe ist. Gleichzeitig entsteht ein immer größeres Gefühl der Wirkmächtigkeit, das wiederum zum Wachstum der Widerstandsbewegung führt.
Insbesondere in Kontexten mit hoher Repression, wie in Russland, ist es wichtig, nicht nur auf zentrale Protestmärsche zu setzen. Stattdessen müssen auch verstreute Taktiken etabliert werden, wie etwa eine Uhrzeit, zu der alle zuhause bei offenem Fenster laut auf ihre Töpfe schlagen, so ihre Wut auf Putin zum Ausdruck bringen und gleichzeitig merken: Da sind noch andere, denen es ähnlich geht.
Das gegnerische Lager spalten
Mindestens so wichtig wie die Einheit der eigenen Gruppe, ist die Fähigkeit einer Bewegung, das gegnerische Lager zu spalten und Loyalitätsverschiebungen innerhalb der Säulen seiner Macht hervorzurufen. Diese können von offener Desertion, wie sie aus der Ukraine massenhaft berichtet wird, bis zur bloßen Zurückhaltung derer, die sonst aktiv das Regime unterstützen, reichen (s. die Enthaltung Chinas in der UN oder die Haltung einzelner russischer Oligarchen).
Ein besonderes Gewicht kommt dabei Personen, Gruppen oder Institutionen zu, die Ressourcen kontrollieren, besondere Fähigkeiten haben (z.B. Ingenieure, die die Erdgasförderung am Laufen halten oder Flugzeuge warten) oder über besondere Anerkennung in der Gesellschaft verfügen. Hierzu gehören Bildungs- und kulturelle Institutionen oder auch die Orthodoxe Kirche in Russland, deren Führungsriege derzeit noch treu zu Putin hält, während unter ihren Priestern und Mönchen bereits deutliche Kritik laut wird.
Eine breite und diverse Partizipation erhöht dabei die Wahrscheinlichkeit, dass zwischen den Aktiven und Mitgliedern wichtiger Säulen enge Beziehungen bestehen, sodass Repressionen oft Loyalitätsverschiebungen zur Folge haben – wenn etwa die Kinder von Oligarchen sich an Antikriegsdemos beteiligen und verhaftet werden. Die enge historische und kulturelle Verbindung der Ukraine und Russlands ist hier von großem Vorteil, da so viele gegenseitige Beziehungen bestehen. Gleichzeitig sind die immense Kontrolle des Kremls über die Medien und die Stärke der Desinformationskampagnen eine große Hürde für Loyalitätsverschiebungen.
Gewaltfreien Widerstand erlernen
Hinsichtlich der Partizipation großer Menschenmengen haben gewaltfreie Bewegungen im Vergleich zum bewaffneten Widerstand eine entscheidende Stärke: Die Hürden zum Mitmachen sind viel geringer. Zwar braucht der Widerstand gegen eine militärische Invasion oder einen Autokraten wie Putin in jedem Fall eine Menge Mut, egal ob gewaltfrei oder bewaffnet. Aber darüber hinaus erfordert die Beteiligung an einem bewaffneten Kampf die Fähigkeit, Waffen effektiv zu nutzen, was mehrere Wochen Ausbildung nötig macht.
Die Teilnahme am bewaffneten Kampf beinhaltet darüber hinaus oft die komplette Aufgabe eines zivilen Lebens, wie man an den Geschichten über ukrainische Väter erkennen kann, die, nachdem sie ihre Familien in Sicherheit gebracht haben, zum bewaffneten Kampf an die Front zurückkehren. Auch die psychologischen Folgen der Ausübung von Gewalt, sowie ethische Bedenken sind Hindernisse, die Menschen davon abhalten, sich bewaffneten Gruppen anzuschließen.
Gewaltfreier Widerstand hingegen wird zwar durch Trainings und ein Verständnis der grundlegenden Strategie in seiner Effektivität gesteigert, doch handelt es sich hierbei um wesentlich leichter erlernbare Fähigkeiten und Kenntnisse. Eine Umfrage in der Ukraine zeigte, dass ein deutlich größerer Teil der Bevölkerung bereit wäre, sich an (selbst sehr gefährlichen) Formen des gewaltfreien Widerstands zu beteiligen, als auf Menschen zu schießen und gegebenenfalls zu töten.
This! pic.twitter.com/8Zs4kXbSKa
— Christo Grozev (@christogrozev) February 26, 2022
Auch das Verhalten der Konfliktparteien spielt eine wichtige Rolle für Erfolg oder Scheitern einer Widerstandsbewegung. Erfolgreiche Bewegungen schaffen es, Repressionen zu nutzen, um Sympathien zu gewinnen und mehr Partizipation von bisher Unbeteiligten zu erzeugen. Die Solidarisierung der Weltöffentlichkeit und auch vieler Menschen in Russland demonstriert diesen sogenannten backfire effect. Umgekehrt kann Repression eine Bewegung auch dazu bewegen, selbst Gewalt anzuwenden oder Gewalt zu eskalieren, was eine wahrgenommene Äquivalenz und eine Schwächung des backfire effects zur Konsequenz hätte.
Die empirischen Arbeiten von Chenoweth und Stephan lösten eine Welle neuer Forschung zu den Dynamiken zivilen Widerstands aus, die unser Verständnis bereichern und die Praxis sozialer Bewegungen beeinflussen. Dabei werden immer wieder auch Erkenntnisse revidiert oder neue Fragestellungen kommen auf, wie es in der Wissenschaft üblich ist. Eine der am heftigsten diskutierten Fragen ist etwa, welche Rolle ausländische Unterstützung auf die Erfolgschancen einer gewaltfreien Bewegung hat. Während bewaffnete Gruppen meist vom Ausland abhängig sind, scheinen gewaltfreie Bewegungen durch ausländische Förderung eher geschwächt zu werden, da sie vom Regime als ferngesteuerte Agenten hingestellt werden können. Diese Frage hat direkte Auswirkungen auf die friedensethischen Überlegungen.
Braucht es eine neue Friedensethik?
Braucht es angesichts des russischen Einmarschs in die Ukraine eine neue Friedensethik? Von Kritikern „der“ EKD-Friedensethik wird immer wieder der Vorwurf erhoben, das Beharren auf gewaltfreien Optionen sei „weltfremd“. Die Debatte sollte demgegenüber wissenschaftliche Erkenntnisse stärker aufnehmen, die bisher im deutschsprachigen Raum und in der aktuellen Diskussion leider nur wenig Beachtung erfahren oder bewusst oder unbewusst verzerrt dargestellt werden.
Ein Teil dieses Problems ist auch der Friedensbewegung selbst zuzuschreiben. Allzu oft ist nur von präventiven oder postkonflikt-Maßnahmen sowie Diplomatie die Rede. Dass es mit den Konzepten des gewaltfreien Widerstands auch effektive gewaltfreie Wege gibt, Konflikte auszutragen und sich zu behaupten, wird selten erwähnt. Eine löbliche Ausnahme bildet die Initiative „Sicherheit neu denken“ der Evangelischen Landeskirche in Baden (EKIBA), die das Konzept der sozialen Sicherheit ausführlich darstellt und einen wichtigen Beitrag zu seiner Verbreitung geleistet hat.
Johannes Fischer und andere berufen sich auf Dietrich Bonhoeffers Struktur des verantwortlichen Lebens, der zufolge es Situationen geben kann, in denen wir uns nur schuldig machen können. Sie wenden sich gegen die „Zuckerwattewelt“ der Friedenslogik, die die Unausweichlichkeit von Konflikten angeblich nicht wahrhaben will. Daraus folgt jedoch nicht, dass Militarisierung die verantwortlichste Entscheidung ist, weder für die Menschen in der Ukraine jetzt noch langfristig für Europa, Russland und die Welt.
Chenoweth und Stephan sind sich der Dilemma-Situation durchaus bewusst: Sie machen immer wieder deutlich, dass auch gewaltfreie Bewegungen scheitern können. Allerdings im Vergleich zu bewaffneten Bewegungen seltener und mit weniger desaströsen Folgen. Anders gesagt: Es bleiben noch genug Dilemmata übrig, wenn wir das Scheindilemma eliminiert haben, ob Gewalt oder gewaltfreie Wege höhere Erfolgschancen haben. Zu diesen Dilemmata gehört die Frage, was wir wirklich tun können, um den gewaltfreien Widerstand gegen Putin in der Ukraine und in Russland zu stärken, angesichts der Tatsache, dass eine allzu offene Unterstützung Putins Propaganda in die Hände spielen könnte, jegliche Kritik an ihm sei vom Westen ferngesteuert.
Kritische Fragen stellen
Auch die Wirtschafts-Sanktionen werfen Fragen auf: Zwar höhlen sie die Säule der Zahlungsfähigkeit Putins aus, treffen aber das ganze Volk. Je gezielter sie auf konkrete Personen in Putins engstem Kreis zielen, desto besser. Aber auch hier kann es einen umgekehrten backfire effect geben, der Menschen näher an Putin bindet, insbesondere da ein Großteil des Wirtschaftslebens auf seine Gunst aufgebaut ist. Statt negativer Repressionen könnte die Wirtschaftsmacht der EU auch dazu genutzt werden, russischen Soldaten einmalige Zahlungen und ein Arbeitsvisum anzubieten, und so die bereits einsetzende Desertion und Wehrkraftzersetzung zu verstärken, wie etwa der polnische konservative Europa-Abgeordnete Radek Sikorski forderte.
Eine weitere Frage ist, wie gewaltfreier Widerstand und konventionelle militärische Verteidigung einander beeinflussen. Die Analysen Chenoweths und Stephans widersprechen der vorherrschenden Meinung, gewaltfreie Bewegungen seien nur aufgrund des Drohszenarios einer bewaffneten Gruppe erfolgreich. Umgekehrt stellt sich die Frage, ob militärische Verteidigung nicht gerade größere Loyalitätsverschiebungen verhindert, und z.B. russische Soldaten etwa trotz ihrer Zweifel nicht desertieren, da sie sich nicht sicher sind, ob sie von Ukrainern mit offenen Armen empfangen werden.
Je länger ein Konflikt andauert, desto mehr verhärten sich erfahrungsgemäß die Fronten, gegenseitige Entmenschlichung setzt ein und die jeweiligen schon erbrachten Opfer werden zur Rechtfertigung herangezogen, den Konflikt fortzuführen. Wie wird sich die fortschreitende Dauer des Krieges auf das Nebeneinander von bewaffnetem und gewaltfreien Widerstand auswirken? Dies sind echte Fragen, die Konsequenzen für unser Handeln haben sollten, für die es aber keine eindeutigen, geschweige denn moralisch völlig einwandfreien Antworten gibt.
Den „Mythos der erlösenden Gewalt“ in Frage stellen
Ich stimme den Kritikern einer „naiven“ Friedensethik darin zu, dass solche Dilemmata kein Grund sein können, nicht zu handeln. Nur sollte dieses Handeln eben auf Grundlage der besten Erkenntnisse geschehen – und nicht reflexartig aufgrund überkommener Mantras.
Auch der Verzicht auf Formen der Unterstützung, die das Scheitern des ukrainischen Unabhängigkeitskampfs wahrscheinlicher machen, kann Handeln sein. Allerdings sollte ein solcher Verzicht mit Garantien des politischen Asyls für russische und ukrainische Demokratie-Aktivisten und desertierende Soldaten beider Seiten einhergehen und mit einer langfristigen Förderung ziviler Friedensbildung verbunden sein, inklusive Strategien gewaltfreier Verteidigung durch Trainings, sichere Häuser, etc. in der Ukraine und im Rest der Welt. Dies wäre eine sehr viel effektivere Verwendung von 100 Milliarden Euro Sondervermögen und 2% des BIP als eine Aufrüstung, die zwar Sicherheit verspricht, aber Konflikte anheizt und die Gefahr birgt, den antidemokratischen Kräften auch in Deutschland zusätzliche Macht zu geben.
Derselbe Bonhoeffer, dessen unfertiges Ethikmanuskript so oft zur Legitimation von Aufrüstung herhalten muss, sagte in seiner Andacht bei der Friedenskonferenz von Fanö: „Es gibt keinen Frieden auf dem Weg zur Sicherheit. Friede muss gewagt werden!“ Die empirische Forschung gibt Bonhoeffer Recht darin, dass das Streben nach militärischer Sicherheit sich allzu oft selbst schwächt, während gewaltfreier Widerstand hohe Erfolgschancen hat.
Dennoch bleibt Widerstand ein Wagnis, das auch Scheitern kann. Vielleicht ist das erneute Aufbrechen militärischer Gewalt unsere Chance mit dem „Mythos der erlösenden Gewalt“ zu brechen und neben der dringend nötigen Revision der Energiewende als Teil der Friedenspolitik mit aller Kraft die mutigen und kreativen Formen gewaltfreien Widerstands zu fördern, statt einer Militarisierung Europas den friedensethischen Segen zu erteilen. Dazu ermutigen kann uns der anhaltende zivile, gewaltfreie Widerstand in der Ukraine und Russland.
Weitere Ressourcen
„Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict“ von Erica Chenoweth and Maria J. Stephan ist bei der Columbia University Press erschienen. Eine kurze englische Zusammenfassung findet sich in Chenoweths Ted Talk (YouTube). Eine deutsche Zusammenfassung findet sich bei der Initiative „Sicherheit neu Denken“.
Eine besonders wichtige Plattform ist die englischsprachige Webseite Waging Nonviolence, die Berichterstattung und Analysen über gewaltfreien Widerstand aus der ganzen Welt sammelt. Viele der Autor:innen sind selbst Aktivist:innen oder Forscher:innen, die zu Dynamiken des gewaltfreien Kampfes forschen oder ihn in der Praxis weiterentwickeln. Maria J. Stephan beschreibt dort z.B. Möglichkeiten, wie der ukrainische gewaltfreie Widerstand unterstützt werden könnte.
Der Bund für soziale Verteidigung (BSV) führt am 11. & 12. März 2022 eine Online-Tagung durch: „Gewaltfreier Widerstand in repressiven Zeiten: Strategien des Widerstands und Formen der Unterstützung“.