Ein Buch für die spirituell Erschöpften

Gretchen Ronnevik weist in ihrem Buch Pfade zu einer Spiritualität ohne Leistungsdruck und rigorose Selbstdisziplin. Ein Buch für alle, die mit ihrem Alltag zu kämpfen haben.

Die in Minnesota lebende Theologin und Farmerin Gretchen Ronnevik hat ein faszinierendes Buch geschrieben. Es bietet als Erbauungsbuch seelsorgerlichen Trost und zugleich eine Einweisung in eine zeitgemäße lutherische Alltagsfrömmigkeit. Trotz ihres konfessionell-lutherischen Profils kommen Ronneviks Texte weder wuchtig und donnernd noch düster und depressiv daher, sondern leicht, leise und uneitel. Diese Leistung allein ist bemerkenswert. Aber natürlich ist es insbesondere der Inhalt, der dieses Buch wertvoll macht.

Ronnevik schreibt ihr Buch aus einer ganz spezifischen Erfahrung heraus: Dem Scheitern an einer evangelikalen Leistungsfrömmigkeit, die den Wert spiritueller Praxis an ihre Regelmäßigkeit, Stetigkeit und Intensität knüpft. Die Autorin hat erlitten, erlebt und dann auch im Lichte ihrer theologischen Tradition reflektiert, dass diese Frömmigkeit an ihrem Familienalltag zerschellt.

Wie soll man sich auf Gebetszeiten oder Bibellektüre konzentrieren, wenn man ständig von kleinen Kindern unterbrochen wird oder nach einer unruhigen Nacht einfach zu erschöpft für klare Gedanken ist? Das evangelikale Ideal der „stahlharten Heiligen“, die sich einer rigorosen Selbstdisziplin nicht nur hinsichtlich ihrer Emotionen und Bedürfnisse, sondern auch bezüglich ihres Tagesablaufs unterwirft, passt nicht zusammen mit dem alltäglichen Chaos einer Familie und der Rolle einer liebenden, aber darin oft mit sich und verschiedensten Erwartungen kämpfenden Mutter. Statt sich nun dieses vermeintliche Scheitern selbst zum Vorwurf zu machen und zu verbittern, entdeckt Ronnevik die Kraft lutherischer Gnadentheologie.

Nun könnte man einwenden, dass diese spezielle post-evangelikale Erfahrungswelt sowieso weitab von der herabgedimmten Feiertagsspiritualität deutscher Landeskirchen anzusiedeln ist. Hier träumt man eher selten davon, in Übersee zu missionieren, und die Demonstration vor Abtreibungskliniken gehört sicher nicht zum Pflichtprogramm. Aber das Buch setzt diesen speziellen Entdeckungszusammenhang bei seinen Leserinnen und Lesern gar nicht voraus.

Vielmehr bietet sich Ronnevik mit ihren persönlichen Erfahrungen als Modell an, um die Abwege einer solchen scheinbar frommen Selbstüberforderung und religiösen Gesetzlichkeit ans Licht zu bringen. Ihre persönlichen Anekdoten tragen keine Begründungslast neben ihrer biblisch-theologischen Argumentation. Aber sie erhellen natürlich vieles und gewinnen dadurch an Kraft, dass die Autorin gerade nicht als besondere Heldin auftritt, die sich und ihren Glauben im Kampf mit außergewöhnlichen Belastungen bewährt hat.

Man muss nicht wie Ronnevik einen Alltag mit sechs Kindern, einer Farm und vielfältigen Verpflichtungen in der Gemeinde zu stemmen haben, um die vielen Ablenkungen und die tiefe Erschöpfung zu kennen, die (vermeintlich) einer gelingenden Gottesbeziehung und regelmäßigen religiösen Praxis im Wege stehen.

Für spirituell Suchende

Ronnevik lädt nicht nur unglückliche Evangelikale, sondern auch spirituell Suchende dazu ein, eine neue Alltagsfrömmigkeit zu entdecken und dabei gleich von der richtigen Grundlage her anzugehen. Zentralbegriff ihres Buches ist der schwer übersetzbare Begriff der spiritual discipline, der hier etwas von der Weite der reformatorischen disciplina bewahrt hat. Er schillert zwischen Selbstdisziplinierung, regelmäßiger Übung, pädagogischer Erziehung und den Einzeldisziplinen einer Sportart. Auch Nachfolge im Sinne von discipleship (Jüngerschaft) klingt an.

Ronnevik ist mit Luther davon überzeugt, dass ein lebendiger Glaube zu seiner Entfaltung und Gestaltwerdung tatsächlich auch ein gewisses Maß an Übung einschließt. Aber dieser disziplinierte und disziplinierende Aspekt des christlichen Glaubens hat eben nicht den Sinn eines Stufenwegs zur maximal gesteigerten Heiligkeit. Vielmehr geht es darum, sich die Glaubenserkenntnis anzueignen und einzubilden: Wir sind im Leben und Sterben völlig auf die Gnade Gottes angewiesen. Es geht um das Einüben einer Haltung, die Freiheit nicht im Gegensatz zu Bindung und Abhängigkeit versteht. Die aus dem satis est der Bekenntnisse lebt: Es ist genug, was ich tue ist genug – weil ja Christus allein genug getan hat für uns!

Ronneviks aus der Bibel geschöpfte spiritual disciplines sind folglich Gottes Geschenke an uns und nicht göttliche Forderungskataloge, die möglichst systematisch abzuarbeiten wären. Entsprechend kommt es gar nicht auf Quantität oder Qualität unserer religiösen Übungen an. Wenn unsere fromme Selbstdisziplinierung im Alltag immer an Grenzen stößt, ist das kein Scheitern und auch keine Überraschung. Es ist ein offenbar immer wieder notwendiger Hinweis darauf, dass unser Heil gerade nicht auf unseren Leistungen beruht und die Freiheit eines Christenmenschen aus der Abhängigkeit von Gott kommt.

Die Liste der spirituellen Disziplinen beginnt daher mit einer Überraschung. Die erste Disziplin ist: rest, sich auszuruheneine Ruhe, die das biblische Sabbatgebot uns schlicht vorschreibt! Das Trauern (lament), das man sich nicht selbst ausgesucht hat und neben dem man scheinbar gar nichts auf die Reihe kriegt, ist dabei ebenso von spiritueller Bedeutung wie das mehr oder weniger absichtslose Fasten, wenn man im Trubel mal wieder einfach nicht zum Essen kommt.

Daneben zeichnet Ronnevik auch bei klassisch-pietistischen Praktiken wie täglicher Bibellektüre, Gebetstagebuch und stiller Zeit überzeugende Wege vor, wie sie alltagstauglich und lebensdienlich gestaltet werden können – ohne Selbstüberforderung und Leistungsdenken. Es ist übrigens ein besonderes Anliegen Ronneviks, dass auch Ehepartner, Eltern und heranwachsende Kinder einen gewissen Freiraum für ungestörte persönliche Frömmigkeit zu respektieren haben.

Ein Buch für die Erschöpften

Wem also ist das Buch ans Herz zu legen? Zunächst allen Theologiestudierenden, die nach der Bonhoeffer-Lektüre überlegen, ob Nachfolge und sanctorum communio doch höhere Ansprüche an werdende Geistliche stellen als den gelegentlichen Besuch eines ESG-Gottesdienstes. Allen Vikarinnen und Vikaren, die vom Predigerseminar her angehalten sind, ihre eigene Spiritualität zu finden und als Ressource ihrer pastoralen Resilienz zu kultivieren. Allen Pfarrerinnen und Pfarrern, die nach einer Woche Klosterexerzitien in Selbitz oder Münsterschwarzach darunter leiden, dass es spirituell nicht immer so erfüllt zugehen kann und unter dem Druck des Alltags die neuen Vorsätze so schnell wieder gebrochen sind.

Aber dann genauso: Allen Eltern oder pflegenden Angehörigen, die merken, dass angesichts ihrer familiären Verpflichtungen „Zeit für mich und Gott“ (so die schöne Formulierung meiner Kollegin) eben selten und kostbar ist! Gut bedient sind mit dem Buch eigentlich alle mit ihrem Alltag kämpfenden Menschen, die sich für die Gestaltung einer lebensnahen, biblisch und reformatorisch fundierten Frömmigkeit interessieren.


Gretchen Ronnevik:
Ragged. Spiritual disciplines for the spiritually exhausted.
Vorwort von Elyse Fitzpatrick
Irvine 2021
Englisch
226 Seiten
14,95 $ (zzgl. Versand)
ISBN: 978-1948969482
Website


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